Zweiter Analysetreff für Musiktheoriestudierende
Hochschule für Musik Mainz
2.–3.8.2024
Theresa-Marie Hetzel
Nachdem der erste Analysetreff im Januar 2024 in Würzburg abgehalten wurde, fand das zweite Treffen im August 2024 an der Hochschule für Musik Mainz statt. Dass sich die Zahl der Teilnehmenden mit nunmehr neun Personen mehr als verdoppelt hatte, spiegelte die positive Resonanz wider, die die erste Ausgabe erfahren hatte, sowie die Bereitschaft von Musiktheoriestudierenden und die Freude daran, sich untereinander zu vernetzen und miteinander in den fachlichen Austausch zu treten.
Das Programm des zweiten Analysetreffs war nicht nur von den methodischen Herangehensweisen, sondern auch von der Themengestaltung her sehr breit gefächert. Beginnend bei Musik aus dem 17. Jahrhundert, spannte sich ein weiter Bogen bis ins 21. Jahrhundert von Marc-Antoine Charpentier über Alexander Skrjabin und Bill Hopkins bis zu einer Eigenkomposition aus den Reihen der Teilnehmenden. Der methodische Diskurs erstreckte sich dabei von harmonischer Analyse, hermeneutischen Musikbetrachtungen, Untersuchungen von Formkonzepten und Spannungskurven bis hin zu Fragen nach Graden der Unschärfe auf verschiedensten Ebenen in neuer Musik. Auch Ansätze eines neuen Analyseverfahrens im Jazz- und Rock/Popbereich wurden diskutiert sowie die Möglichkeit der Nutzung von KI für Rekonstruktionen von Choralsätzen erörtert.
Mit ihrem Un accord très plaintif betitelten Beitrag – der Untersuchung einer ausdrucksstarken, harmonischen Wendung, die Charpentier in seinen Règles de composition (1692?) anführt, – eröffnete Sebina Weich (Schola Cantorum Basiliensis) den Analysetreff. Angelpunkt des Beitrags waren Überlegungen zur übermäßigen Oktave und die von Charpentier im Kapitel über Dissonanzen gegebenen Anweisungen zu ihrer Vorbereitung, Auflösung sowie zu Verwendungsort und -art. Wie das Intervall im jeweiligen musikalischen Kontext zu definieren sei, wurde anhand eindrücklicher Notenbeispiele vorgeführt.
David Müller (Staatliche Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart) befasste sich mit Bill Hopkins’ Formkonzept fünf konzentrischer Kreise, das dieser in seinem Klavierwerk Sous-structures (1964) als Lösungsansatz der in jenen Jahren vieldiskutierten Formprobleme serieller Musik erprobt hatte. Hierbei wurde untersucht, wie die konzentrischen Kreise auf verschiedenen Größenebenen ineinander verschachtelt werden und welche strukturelle Bedeutung sie für die Gesamtkonzeption des Stücks haben.
In seinem Vortrag zum Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Musik stellte Henrik Schuld (Hochschule für Musik Mainz) die Möglichkeiten von und Herausforderungen im Umgang mit KI und neuronalen Netzen in der musiktheoretischen Forschung am Beispiel der KI-gestützten Rekonstruktion eines fragmentarisch überlieferten Choralbuchs vor. Dabei zeigte er auf, dass zwischen den Anforderungen der Informatik und der Musiktheorie im Hinblick auf den Umfang der zu betrachtenden Daten ein Spannungsfeld entsteht. Während die Musiktheorie möglichst spezifische, stilistisch abgegrenzte Datensätze betrachtet, ist eine Grundlage für die Anwendung der Methoden aus der Informatik ein möglichst umfassender Datensatz. Zur Auflösung dieser Spannung wurden mehrere Strategien vorgestellt und diskutiert.
Fabian Mayer (Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover) zeigte in seinem Beitrag anhand des Kopfmotivs aus dem Vorspiel zu der Oper Der arme Heinrich (1895) von Hans Pfitzner, wie avancierte harmonisch grundierte Formen an klassische Muster musikalischer Formgestaltung rückgebunden werden. Dabei wurde Pfitzners Fortschrittlichkeit in der Verschärfung des Wagnerschen Prinzips der permanenten Tonikaandeutung und -vermeidung betont, daneben ging es auch um Bezüge zur motivisch-thematischen Technik bei Brahms. Pfitzner erscheint somit als Exponent ebenso der Wagner-Nachfolge wie der klassisch-romantischen Tradition.
Mit der chromatischen Stufentheorie (ChS) stellte Victor Filippo die Möglichkeiten eines neuen musiktheoretischen Verfahrens zur Analyse durmolltonaler Musik vom Barock bis in die Gegenwart von Rock-, Pop- und Jazzmusik vor. Als »ideologischen Kern« dieses Verfahrens versteht Filippo die diatonische Zwölftönigkeit, erfasst durch die Nummerierung aller zwölf Tonhöhenklassen mit arabischen statt römischer Ziffern sowie durch drei Buchstaben als Ausnahme. Die parallele Zählung von Dur und Moll sowie die »Einheit von Funktionssymbol und Stufenbezeichnung« sollen dabei abgeschafft werden.
Theresa-Marie Hetzel (Robert Schumann Hochschule Düsseldorf, Folkwang Universität Essen) erläuterte anhand ihrer Eigenkomposition Auf den See blickend. Tag. (2023) für Streichquartett Kipppunkte von Geräuschen in Töne und umgekehrt sowie deren Bedeutung für die großformale Anlage ihres Stücks. Ein besonderes Augenmerk galt hierbei der Betrachtung von Unschärfegraden von Klängen und Momenten der Instabilität, die als Ergebnis der Verwischung von typischen Charaktereigenschaften der Parameter entstehen.
Durch die breite Fächerung methodisch-analytischer Herangehensweisen und den mitunter sehr regen Austausch in Diskussionen und Gesprächsrunden erwies sich auch dieser Analysetreff als wertvoller Ort für die Gewinnung neuer thematischer Impulse und für die Vernetzung der Studierenden untereinander. Es wurde über analytische Gepflogenheiten innerhalb der eigenen Lehr- und Lernumgebung gesprochen und das eigene Handwerkszeug erweitert; Schwerpunktsetzungen der eigenen Analyse wurden in der Gruppe reflektiert.
Neben dem großen Interesse der Studierendenschaft, kommende Analysetreffen zu gestalten, wurde auch seitens der Lehrkörper vieler Musikhochschulen die Bereitschaft bekundet, an künftigen Treffen mitzuwirken. Ein Folgetreffen ist für den 25. und 26. Januar 2025 an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf geplant. Auch diesmal beteiligte sich die GMTH aktiv an der Werbung für den Analysetreff und unterstützte das Vorhaben mit einem finanziellen Beitrag zur Verpflegung. Großer Dank gilt der Hochschule für Musik Mainz für die Bereitstellung der Räumlichkeiten für das Treffen sowie den Hauptfachprofessor*innen der Studierenden für die Unterstützung bei der Erarbeitung der Beiträge.
Zu der Autorin
THERESA-MARIE HETZEL (*1997 in Brunsbüttel) studierte von 2017 bis 2019 Musik und Medien an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf, seit 2019 studiert sie ebendort Musiktheorie/Hörerziehung bei Frank Zabel und seit 2024 instrumentale Komposition bei Günter Steinke an der Folkwang Universität Essen. Sie ist zudem als Improvisateurin – insbesondere im interdisziplinären Bereich (Live-Musik/-Impro und Artistik) – tätig, arbeitet als Tutorin für Musiktheorie an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf und ist seit Oktober 2024 als Vorstandsmitglied der GMTH für die Interessenvertretung der Musiktheoriestudierenden verantwortlich.