»NOTATION: Schnittstelle zwischen Komposition, Interpretation und Analyse«: 19. Jahreskongress der GMTH

Zürcher Hochschule der Künste

3.–6. 10.2019

Tagungswebsite: https://www.zhdk.ch/studium/musik/kompositiontheorie/gmth

Kongressprogramm

Almut Gatz


Der 19. Jahreskongress der GMTH führte bereits im Titel drei große Bereiche musikalischer Forschung im verbindenden Thema »Notation« zusammen; er bezog sich damit auf gegenwärtig aktuelle Themenbereiche und Trends musiktheoretischer Forschung und Praxis, zu denen zahlreiche, teils weit gereiste Referentinnen und Referenten Forschungsarbeiten, Projekte und neu erschienene Bücher in Vorträgen und Panels präsentierten. Gleichzeitig zog sich eine kritische Reflexion des Stellenwerts und der Rolle von Notation beim Erfinden, Aufführen und Reflektieren von (insbesondere westlicher Kunst-)Musik sowie der Geschichte ihrer Entwicklung und Verbreitung durch das von den Veranstaltern sehr schlüssig konzipierte Programm.

Dies zeigte sich bereits deutlich in der Keynote von Cristina Urchueguìa (Bern) mit dem Neugier weckenden Titel »Kartöffelchen am Stiel oder semiotisches U-Boot? Die Note, diese bekannte Unbekannte«. Urchueguìa sensibilisierte dafür, dass Notation als Kulturpraxis eine Vorstellung des Musikalischen verkörpert, die untrennbar mit einem auf Schriftlichkeit, Kunstcharakter, Entwicklungsgedanken, Exzellenz und Europa verengten Werkbegriff verknüpft ist. Mit einer grundlegenden und umfassenden Kritik an Hans Heinrich Eggebrechts Definition und Charakterisierung von Notenschrift1 und einer Verdeutlichung der politischen Implikationen von Notation durch das Herausarbeiten kulturimperialistischer Momente in Murray Lerners Dokumentarfilm Von Mao zu Mozart – Isaac Stern in China (1979) lieferte Urchueguìas Vortrag quasi eine Theorie nach zur Aufführung von John Cages Europera. Diese war – von Studierenden in Eigenregie realisiert –  am Vorabend in jeder Hinsicht geglückt.

Überhaupt war die starke Durchsetzung des Kongressprogramms mit erklingender Musik auflockernd und fokussierend zugleich und empfiehlt sich zur Nachahmung. Schon zwischen die Keynotes waren Aufführungen von György Ligetis Artikulation, Horacio Vaggiones Shifting Mirrors sowie Ein Schattenspiel von Georg Friedrich Haas eingeschoben, am Samstag Abend spielte das »Cosmic Percussion Ensemble« die Pléïades von Iannis Xenakis. Die Konzerte präsentierten zum einen in eindrucksvoller Weise künstlerische Arbeitsschwerpunkte der gastgebenden Hochschule, zum anderen fungierten sie, wie auch der von Philippe Kocher bespielte Klavierautomat im Foyer, als bereichernde Kommentare zum Kongressthema.

Sandeep Bhagwati (Montréal) stellte in einer zweiten Keynote2 ebenfalls transkulturelle Ansätze zur Notationsforschung vor, die im Rahmen des weltweit aktiven Netzwerks TENOR3 seit einigen Jahren eine Kompetenzbündelung erfahren. Ausgehend von einer bemerkenswert ausdifferenzierten Mind-Map, die Notationen von Musik entlang einer Zuordnung zu »types« (linear/nichtlinear) und »modes« (an welche Sinne richtet sich die Notation?) kategorisierte, ging er der Frage nach, wie die an traditioneller Notation herausgebildeten musiktheoretischen Werkzeuge und Konzepte greifbare Gegenstände finden können angesichts sich wandelnder – nicht-visueller, flüchtiger, veränderlicher, situativ-improvisatorischer – Notations- und Produktionsformen von Musik im 21. Jahrhundert.

Richard Cohn (Yale) eröffnete seine Keynote »Meter Signature as Analytical Category« mit der Analyse einer metrischen Verwirrung in Beethovens Für Elise (Rückleitung Takt 12ff.), die – offenbar ausgelöst durch die Logik der Taktart unterlaufende rhythmische Muster – sogar zu ›Verzählern‹ in prominenten Einspielungen geführt hat. Mit Rückbezug auf die bei Couranten häufigen Doppelmetren und durch eine Veranschaulichung rhythmischer Verhältnisse in einem Netz von Proportionen (1:2 und 1:3 auf unterschiedlichen Ebenen) zeigte Cohn, dass sich metrische Mehrdeutigkeiten und unregelmäßige Gruppierungen im ganzen ersten Teil des Klavierstücks und auch auf der Ebene der Taktgruppen finden. Der Vortrag machte deutlich, wie das Aufspüren solcher strukturellen Phänomene sich mitunter erst an der verhältnismäßig starren Form rhythmischer Notation in einer unveränderlichen Taktart entzündet: Musik ist metrisch viel komplexer und dynamischer, als die Notation zeigt.

Dem integrativen Gedanken des Kongressthemas entsprechend war das Programm nicht in explizite Sektionen unterteilt, eine überzeugende Bündelung kam aber durch die zahlreichen Panels zustande: Am umfangreichsten war das mit Bhagwatis Keynote verknüpfte Panel des TENOR Network mit sieben Beiträgen, u.a. »Gesture Behind Notation and Representation« (Pierre Couprie), »A Theory of Motion in Sample-Based Music« (Alex Sonnenfeld) und »The ›Decibel Score Player‹ as Notation Software for Comprovisation: Projet Spationautes« (Terri Hron). Sehr eng griffen die vielfältigen Beiträge des Panels »Multiple Representations as a Dynamic System« (Michelle Ziegler, Helena Bugallo, Florence Eller, Simon Obert) ineinander, in denen u. a. an Werken von John Cage (Überlegungen zur Schriftanalyse in den Notations), Gérard Grisey (›Zoomen‹ zwischen Makro- und Mikrophonie, Beziehung zwischen Klang und Zeit) und Salvatore Sciarrino (Arbeit mit geometrischen Verlaufsskizzen musikalischer Gestalten) die Veränderlichkeit von Musik in Wechselwirkung mit der Art ihrer Verschriftlichung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkundet wurde. Direkter auf einen einzelnen musikalischen Gegenstand bezogen war das Panel »Die Makroform von György Kurtágs Kafka-Fragmenten als Phänomen der Ausführung« (Christian Utz, Majid Motavasseli, Thomas Glaser), das einer am Notentext orientierten Analyse eine Korpusstudie der vorliegenden Tonaufnahmen des Werks gegenüberstellte. Zwei weitere, mehr pädagogisch ausgerichtete Panels befassten sich mit analogen und digitalen Musikvisualisierungen4 und mit der Verortung der Geschichte der Gehörbildung im 19. Jahrhundert5.

Auch ein Großteil der Einzelbeiträge bezog sich auf »Notation«, sodass der Kongress bei aller Vielfalt einen starken thematischen Zusammenhalt hatte. Vortragsthemen waren u.a. Modi der grafischen Notation6, Zeichen für die Visualisierung des Atems in der Flötenmusik des 20. Jahrhunderts7 sowie Möglichkeiten der melodischen Analyse von Sprache8. In »Tonalität zwischen den Linien – Visuelle Traditionen in Dieter Schnebels grafischer Notation« arbeitete Ariane Jeßulat non-verbale Signale traditioneller Notation in ›offenen Partituren‹ heraus. Dabei spannte sie einen faszinierenden Bogen, ausgehend von der impliziten Tonalität eines sich fast unwillkürlich ergebenden Quintrahmens bis hin zu einer Verdinglichung, die in den Maulwerke-Verhaltensmustern »Nachsagen«, »Fortsetzen, Kommentieren« und »Übersetzen« angelegt ist und sich begreifen lässt als nicht-visuelles Pendant zur Rückübertragung von Grafiken auf Tonräume. Auch Musik des 16. bis 19. Jahrhunderts stand im Fokus zahlreicher Referate: Felix Diergarten gab mit »Generalbass und Enharmonik. Zur Notation in Bruckners Skizzen« einen erhellenden Einblick in romantisches Generalbassdenken anhand von Bruckners Differenzierung zwischen skizzierter Griff- und teils enharmonisch verwechselter Partiturnotation beim »Omnibus«-Modell. Einen weiteren anregenden Beitrag zur individuellen Ausgestaltung potentiell abgenutzter harmonischer Modelle boten Friedemann Brennecke und Michael Koch mit »Robert Schumanns Poetisierung handwerklicher Normen am Beispiel der Quintfallsequenz«, während Markus Roth mit »›Muti una volta quel suo antico stile‹. Paradoxien der Notation bei Luca Marenzio« anhand der originalen Notation den enharmonischen und kontrapunktischen Geheimnissen eines aufregend frühen Beispiels von sequenzierten Quintfällen nachging.

Nicht zuletzt gab es einige didaktische Beiträge zum Umgang mit Notation im Schulunterricht und zu Möglichkeiten des »Blended Learning« (Joachim Junker, Elke Reichel, Ulrich Kaiser), ebenso überwogen unter den vorgestellten Büchern solche mit (auch) didaktischem Fokus, so die Beiträge zur Formenlehre9, zur Choralharmonisierung10, zur Höranalyse11 sowie zur Kanonbildung12. Einen hörpsychologischen Schwerpunkt verfolgte Arvid Ong in seiner Dissertation Die Ähnlichkeit von Tonclustern. Zur Hörwahrnehmung eines prototypischen Klangs in Neuer Musik13. Angesichts der Vielzahl an Vorträgen muss es bei diesem Versuch eines knappen Einblicks in die behandelten Themen bleiben.

Wie in den letzten Jahren fand am ersten Kongresstag (4.10.) das gemeinsame Mittagessen der Hochschulvertreter*innen14 mit Ausblick auf die nächsten Kongresse (2020 Detmold, 2021 Basel, 2022 Salzburg, 2023 Saarbrücken) sowie am 5.10. die Mitgliederversammlung statt, bei der unter anderem die neue Open-Access-Reihe der GMTH Proceedings sowie das von Ulrich Kaiser gegründete Musik-Wiki elmu vorgestellt wurden. Einen würdigen Abschluss fand der Kongress mit der Preisverleihung der beiden Wettbewerbe der GMTH und anschließendem Apéro. Beim wissenschaftlichen Wettbewerb erhielten Ansgar Jabs und Pascal Rudolph den zweiten Preis für Visualisierung harmonischer Prozesse mithilfe des Circular Pitch-Class Space am Beispiel der Tristan-Sequenz und Elora Grace Lencoski den dritten Preis für Organicism in a Piano Sonata by Clara Schumann. Das äußerst gelungene Preisträgerkonzert des künstlerischen Wettbewerbs der GMTH 2019 wurde durch das Zurich Saxophone Collective unter der Leitung von Lars Mlekusch gestaltet. Einen 1. Preis erhielt Benjamin Jermann, der am Vortag noch mit einem Vortrag über Karl Amadeus Hartmanns »Klaviersonate 27. April 1945«15 überzeugen konnte, für die Komposition Luftunruhe für vier Altsaxophone. Der 2. Preis ging an Otto Wanke für das Saxophonquartett shadow play.

Die (Beziehungs-) Vielfalt des Themas Notation als Schnittstelle von Komposition, Interpretation und Analyse stand im Einklang mit dem Wesen der gastgebenden Hochschule: Wohl kaum eine andere Einrichtung dieser Art könnte einem solch komplexen Kongressthema mit ihrem Gebäude und ihrem Konstrukt eines Neben- und Miteinanders verschiedenster Kunst- und Ausbildungssparten (künstlerische musikalische Praxis, Musikpädagogik, Musikwissenschaft, elektronische Musik, Tanz, bildende Künste) in dem Maße gerecht werden wie die Zürcher HdK. Neben den Konzerten zeigten sich die Qualitäten des Hauses ebenso in der angenehmen Organisation und im reibungslosen Ablauf, wofür der Kongressleitung, namentlich Felix Baumann, Pierre Funck, Philippe Kocher und Christian Strinning, herzlich gedankt sei!

(Mitarbeit: Stephan Lewandowski)


1Eggebrecht, Hans Heinrich (1998), »Was ist Notenschrift?«, in: ders., Musik als Text, Bd. 1: Hauptreferate, Symposien, Kolloquien, hg. von Hermann Danuser und Tobias Plebuch, Kassel u.a.: Bärenreiter, 75–77.
2Writing Sound into the Wind. How Score Technologies affect our Musicking.
3https://tenor-network.org.
4Gabriele Groll, Christian Thorau, Stephanie Probst, Katrin Eggers, Tobias Bleek und Oliver Krämer: »Animierte Bildlichkeit — Analyse und Hören in analogen und digitalen Musikvisualisierungen«.
5Claudio Bacciagaluppi, Nathalie Meidhof, Claire Roberts, Stephan Zirwes und Luis Ramos: »Verortung und Geschichte der Gehörbildung im 19. Jahrhundert zwischen Laienausbildung und Konservatorium«.
6Darunter Martin Hecker: »Graphische Notation – Ein Zustand zwischen Ungefähr und dem Bedürfnis nach Genauigkeit« und Elena Minetti: »Drei bildliche ›modi operandi‹ im kompositorischen Prozess um 1964«.
7Carolin Ratzinger: »Komponierter Atem: Operativität und Zeichenfindung in Kompositionen für Flöte«.
8Manuel Durão: »Notation und musikalische Analyse von Tonhöhenverläufen in Sprechmelodien«.
9Diergarten, Felix / Neuwirth, Markus (2018), Formenlehre. Ein Lese- und Arbeitsbuch zur Instrumentalmusik des 18. und 19. Jahrhunderts, Laaber: Laaber.
10Remeš, Derek (2019), Realizing Thoroughbass Chorales in the Circle of J.S. Bach, Vol. 1: Sources by J. S. Bach, C. P. E. Bach, and D. Kellner, with a Tutor by D. Remeš; Vol. 2: The Sibley Chorale Book; edited and translated by D. Remeš; in collaboration with Robin A. Leaver, Colfax NC: Wayne Leupold Editions.
11Hertig, Mauro (2019), Höranalyse – Neue Werkzeuge der musikalischen Wahrnehmung, Hofheim: Wolke.
12Asmus, Bernd (2019) / Mahnkopf, Claus-Steffen / Menke, Johannes, Schlüsselwerke der Musik, Hofheim: Wolke.
13Berlin 2019.
14Erfreulicherweise verzeichnet die Runde der Hochschulvertretungen innerhalb der GMTH einen Neuzugang mit dem Institut für Instrumental- und Gesangspädagogik der BTU Cottbus.
15»Sonate ›27. April 1945‹ – Die Rolle des Zitats in Karl Amadeus Hartmanns Musik«.