Compositrices et interprètes en France et en Allemagne: approches analytiques, historiques et sociologiques

Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

14.–15.6.2019


Tagungsprogramm

Nikola Komatović und Gesine Schröder


Das letzte Arbeitstreffen im Rahmen eines zweijährigen Forschungsprojekts zu »compositrices et interprètes« fand außerhalb Frankreichs und Deutschlands statt. Ablesen lässt sich daraus, dass weder Ländergrenzen noch die Herkunft oder Nationalität von Musikerinnen, denen die Forschungskooperation galt, exklusiv wirken sollten; es ging um Kulturen in bestimmten Sprachräumen. Zusammengearbeitet hatten an dem Projekt das Institut de recherche en musicologie (IReMus) der Musikabteilung der Sorbonne–Paris, die Lothringische Universität Metz und die Fachrichtung Komposition/Tonsatz der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig. Organisatorisch wurde das Wiener Colloquium großzügig von der Stabstelle Gleichstellung, Gender Studies und Diversität der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, namentlich durch deren Leiterin Andrea Ellmeier, unterstützt. Die vonseiten Frankreichs in der Hauptsache vom CIERA (Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne) geförderte Kooperation war dem Wirken musikalisch und musikbezogen aktiver Frauen in der neueren Musikgeschichte gewidmet, die im französischen oder deutschen Sprachraum tätig waren oder die etwas aus ihm mitgenommen hatten: neben Komponistinnen und Interpretinnen auch Instrumentenbauerinnen, Musikmäzeninnen, Klangkünstlerinnen oder Musiktheoretikerinnen.

Dem Colloquium in Wien waren seit Beginn des Wintersemesters 2017 acht Treffen in Paris und Leipzig und eines am Staatlichen Institut für Musikforschung Berlin vorausgegangen. Das Wiener Treffen hatte die Schwerpunkte »approches analytiques« und »künstlerische Forschung«. Organisatorisch und konzeptionell verantwortlich zeichneten Marie-Agnes Dittrich, Andreas Holzer, Annegret Huber, Gesine Schröder, Angelika Silberbauer und Jonathan Stark sowie von Pariser Seite Catherine Deutsch, Imyra Santana und Viviane Waschbüsch. Neben mehreren Vorträgen gab es eine Podiumsdiskussion zum Thema ›artistic research‹ mit Bezug auf Musikerinnen, außerdem führte die Musiktheorieklasse von Gesine Schröder und Jonathan Stark das Ergebnis eines künstlerisch-wissenschaftlichen Projekts zu der Berliner Schönberg-Schülerin Natalie Prawossudowitsch vor. Das im Rahmen dieses Projekts entstandene Stück basierte auf Materialien aus dem im Archiv der Berliner Akademie der Künste aufbewahrten Nachlass von Prawossudowitsch. Fragmente aus deren Stücken wurden in einer Gemeinschaftskomposition für Klarinette, Percussion, Bratsche, Cello und Klavier von neu erstellten musikalischen Glossen unterbrochen, übermalt, ein- und ausgeleitet. Die Glossen stammten von Haruki Noda, Atsuko Ezaki, Sonja Stojak, Asmir Jakupović, Jiyoung Woo, Daniel Serrano und Hristina Šušak, die Dokumentation des Projekts hatten Nia Barabadze und Ona Jarmalavičiūtė übernommen.

Zu hören waren bei dem Wiener Colloquium Vorträge von Florence Launay, Abigail Gower und Chanda VanderHart über Werke von Komponistinnen aus der Musikgeschichte seit 1800, ergänzt durch einen soziologisch akzentuierten Vortrag zur historischen populären Musik der Stadt Paris (Imyra Santana); Vorträge von Melike Atalay und Keiko Uchiyama behandelten geschichtliche Aspekte der Musikpädagogik; Domitille Bès, Anne Ewing und Viviane Waschbüsch widmeten sich dem Themenfeld musikalische Interpretation und Improvisation; zum aktuellen Umgang mit Gender Studies, zu Konzepten feministischer Musikanalyse und künstlerischer Forschung sprachen Marie-Agnes Dittrich und Annegret Huber; und im Kontext von Gender-Fragen reflektierten zwei Künstler*innen ihr eigenes Werk (Hannes Dufek und Hristina Šušak).

Florence Launay beschäftigte sich mit der Oper La Sérénade (1818) der französischen Komponistin Sophie Gail (1775–1819) und ihrer Librettistin Sophie Gay (1776–1852). Das unterschiedliche nationale Eigenarten einbegreifende polystilistische Werk wurde in den seiner Premiere unmittelbar folgenden Jahren als eine Art politisches Manifest verstanden und in dieser Eigenart von Zeitgenossen scharf attackiert. Man unterstellte Gail außerdem, sie habe die Oper gar nicht selber geschrieben, als Urheber vermutete man stattdessen Manuel Garcia (1775–1836), den Vater von Maria Malibran und Pauline Viardot, der Gail aber wohl nur assistiert hatte, und den später für das französische Musikleben so bedeutsam gewordenen François-Joséph Fétis (1784–1871), bei welchem Gail zeitweilig Unterricht genommen hatte. Für die Würdigung der Oper heute stellt es ein eklatantes Problem dar, dass sie seit über hundert Jahren nicht mehr aufgeführt worden ist. Launays Bemühungen in der jüngsten Vergangenheit um eine Wiederaufführung blieben bisher erfolglos.

Anhand des Œuvres der im Fin de Siècle bis in die 1930er-Jahre hinein tätigen französischen Komponistin Mélanie Hélène Bonis (1858–1937) zeigte Abigail Gower, dass nicht nur die Menge an Werken, die Bonis in verschiedenen Perioden ihres Lebens komponierte, mit Zeitphänomenen korrelierte – so beeinträchtigte der Erste Weltkrieg, der bei ihr ein persönliches Trauma hinterließ, ihre Produktion entscheidend. Vielmehr zeigt Bonis’ Stil, der zunächst an das anknüpfte, was sie im Wirkungskreis César Francks vorfand, in den 1920er- und 1930er-Jahren eine klassizistische Infiltration von musikalischem Impressionismus.

Die aberwitzige Argumentation, mit welcher in Kreisen des Regensburger Cäcilianismus auf Werke von Ernestine de Bauduin (1852–1906) reagiert wurde, legte Chanda VanderHart offen. Bauduin hatte sich als Komponistin von Kirchenmusik früh einen Namen gemacht, doch vermochten niederträchtige Kritiken wie die von Franz Xaver Witt und Franz Xaver Haberl die Würdigung der Komponistin auf Dauer zu behindern. Dass Frauen nicht für die Kirche zu komponieren hätten, war in Wien zu Beginn von Bauduins dort einsetzender Karriere aber durchaus keine vorherrschende Überzeugung gewesen, wie VanderHart an zahlreichen Dokumenten zeigen konnte. Den alles andere als asketischen Wiener Kirchenmusikstil um 1880 zu schmähen, fiel umso leichter, als der Schmäh sich am Werk einer Frau entzünden konnte.

Den Komplex von Spieltechnik und Aufführungsinstruktion behandelte Domitille Bès exemplarisch anhand einer Interpretationsausgabe der französischen Pianistin, Kritikerin und Komponistin Thérèse Wartel (1814–1865). Mit ihren Übungen für das Spiel von Beethovens Klaviersonaten (1866) hat Wartel, die am Pariser Konservatorium unterrichtete, die französische Aufführungspraxis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidend geprägt.

Sophie-Carmen Eckhardt-Grammatté (1899–1974), Geigenvirtuosin und wiederum Komponistin, lebte und wirkte vor allem in Frankreich, Deutschland, Österreich und schließlich für lange Zeit in Kanada. Viviane Waschbüsch erläuterte mit eigens von ihr eingespielten Videos, die in Großaufnahmen spieltechnische Details zeigten, in welchem Maße die sehr spezielle Geigentechnik dieser Musikerin Merkmale auch ihres Komponierens bestimmte. Eckhardt-Grammattés an ungewöhnlichen Ausdrucksbezeichnungen und dynamischen Angaben reiche Capricen für Violine solo sind formal meist rhapsodisch und stehen damit an der Grenze zwischen Komposition und niedergeschriebener Improvisation.

Bei Anne Ewings Überlegungen zu der Frage, warum Beethovens Bagatellen für Klavier op. 33 so selten genauer untersucht wurden, mischten sich musikanalytische mit musiksoziologischen Argumentationen. Dass man Interpretinnen und das weibliche Publikum insgesamt eher zu Liebhaberinnen der Musik als zu deren Kennerinnen zählte, mag dazu beigetragen haben, dass das, was diesen besonders gefiel und für sie geschrieben war, weniger theoriewürdig schien.

Nicht über eine Einzelperson, sondern über ein Genre ‒ hier die populäre Musik in französischen Cafés des Fin de Siècle ‒ sprach Imyra Santana. Die sogenannte ›erste Welle des Feminismus‹ hatte Emanzipationsbestrebungen zum Sujet von Caféhausmusik gemacht. In schicken Chansons ging es um aktuelle Themen wie Arbeits- und Wahlrecht und um Homosexualität in der Kunst.

Aspekte der Europäisierung des Osmanischen Reichs in den Jahren um 1900 zeigte Melike Atalay an Lebenswegen und Wirkungsfeldern von Musikpädagoginnen aus deutsch- und französischsprachigen Ländern auf. Exemplarisch untersuchte sie die Musikkultur in einem Viertel von Istanbul, das vorwiegend von Deutschen und Franzosen bewohnt wurde. Musikpädagogisches Wirken im Japan des ausgehenden 19. Jahrhunderts konnte Keiko Uchiyama anhand der Aktivitäten von Nobu Kōda (1870–1946) exemplifizieren. Mit ihr war eine aus den Violinschulen von Joseph Joachim (Berlin) und Josef Hellmesberger (Wien) hervorgegangene Technik und Streicherästhetik in das Japan der Meiji-Zeit gelangt. Das Interesse an kulturellem Austausch mit dem Abendland war in Kōdas Kindheit und ihren Jugendjahren noch untypisch gewesen. Dennoch konnte sie bereits in Japan einen Konservatoriumsabschluss im Fach Violine erwerben. Neunzehnjährig verließ sie für ein paar Jahre ihre Heimat, um zunächst in Boston und ab 1890 in Wien zu studieren. Nach Japan zurückgekehrt, gab sie ihre Erfahrungen an Schüler*innen der Musikschule Tokio und an Privatschüler*innen weiter. Kōda brachte mit Komponisten wie Mendelssohn, Haydn oder Bach ein hauptsächlich deutsches Streicher-Repertoire nach Japan.

Über Zeitfragen reflektierte Marie-Agnes Dittrich. Den nach ihrer Beobachtung zusehends häufiger auftretenden Vorstößen, die – in Österreich gesetzlich verbindlichen – Gender Studies aus den Universitätscurricula zu löschen, begegnete sie mit zwei Empfehlungen: Man solle Gender Studies nicht als Extrastudien betreiben, sondern sie in die anderen Fächer und Disziplinen implementieren. Zugleich wären sie inhaltlich breiter auszurichten und entsprechend in Power Studies umbenennen. Die spezielle Thematik des Arbeitstreffens überschritt auch Annegret Huber. Sie sprach davon, wie sich ›artistic research‹ als Forschungsgebiet fassen lässt und wie man diese in diverse Bereiche wissenschaftlicher Betätigung entsenden könne. Statt zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung einen Gegensatz zu konstruieren, sollten wirklich alle Bedingungen musikbezogener Erkenntnis beider Forschungsansätze bedacht werden. Die folgende, von Andreas Holzer geleitete Podiumsdiskussion war ›artistic research‹ gewidmet, wobei der Akzent auf dem Thema des Forschungsprojekts insgesamt lag: analytischen, historischen und soziologischen Zugängen zum Wirken musikalisch oder musikbezogen aktiver Frauen in deutsch- und französischsprachigen Gebieten. Was Musiktheorie angeht, so hat man sich im Bereich von künstlerischer Forschung erst zu orientieren und zu erproben, daher wurden in der Podiumsdiskussion hauptsächlich Konzepte entworfen. Holzer hatte folgende Fragen vorgegeben: Geht es bei artistic research um eine Demokratisierung der Wissensproduktion (um das »Forschen aller«)? Ist eine Aufwertung von Kunst in öffentlichen Diskursen beabsichtigt? Kann künstlerische Forschung die seit dem 19. Jahrhundert sanktionierte Trennung von Kunst und Wissenschaft aufheben? Welche Rolle kann Musiktheorie dabei spielen? Geht es darum, dass Künstler*innen sich in einer Zeit umfassender Ökonomisierung finanziell bedienen können (z. B. im Hinblick auf das Einwerben von Geldern etwa in PEEK-Programmen)? Warum wird künstlerische Forschung im deutschen Sprachraum besonders heftig kritisiert? Warum wurden Genderaspekte im Kontext künstlerischer Forschung bislang kaum untersucht? Ist bei künstlerischer Forschung tatsächlich keine patriarchalisch geprägte Tradition zu überwinden? Johannes Kretz, der als elektroakustischer Komponist mit Interesse an entlegenen Musikkulturen zurzeit das künstlerische Forschungsprojekt Creative (mis)understandings. Methodologies of inspiration https://www.mdw.ac.at/creativemisunderstandings durchführt, gab den guten Rat, dass man den Erfolg von artistic research in weitreichenden Kooperationen suchen solle, Ego-Trips wären hier fehl am Platz.

Bei dem Wiener Colloquium stellte der Komponist Hannes Dufek seinen aus einem Doktorat an der Kunstuniversität Graz erwachsenen Beitrag zu künstlerischer Forschung vor. Ausgehend von der Erfahrung der gängigen Komponierpraxis als ungenügend, lebensfern und unkritisch, hatte er kompositorisch und konzeptionell untersucht, was die Freiheit des kompositorischen Ichs für ihn selbst bedeuten könne. Aus seinem Unbehagen heraus entstand eine musikalische Poetik, die sich entlang einer Idee des Utopischen zu entfalten versucht. Er nahm eine Perspektive ein, die nicht mehr ein Werk, dessen korrekte Wiedergabe oder dessen autorgelenktes ›richtiges‹ Verständnis anstrebte, sondern in deren Zentrum der geteilte Raum, die verstrichene Zeit, die Möglichkeit(en) echter Erfahrung in solchen Zeiten und Räumen stehen sollte. Für Makroformen hat Dufek unterschiedliche Konzepte erprobt: die offene, von der Form unabhängige Partitur, dezidiert lückenhafte Werke und die Gleichzeitigkeit von mehr als einer Realität.

Als exemplarisch für Verläufe künstlerischer Forschung dokumentierte und reflektierte Hristina Šušak den Entstehungsprozess und die Nachgeschichte ihrer Performance Limes. Diese gehört zu einer Serie von Performances, deren Sujet und Realisierung bei jeder Aufführung anders sind, denen aber eine identische mathematische Basis zu Grunde liegt. Der Anteil von Reflexion bestand zunächst in Überlegungen, die der Komposition vorausgehen. Es galt ein Forschungssetting zu schaffen, das probeweise als Ausgangspunkt wirken konnte; die Komposition hatte bei der Feststellung des Forschungsstandes anzusetzen. Zu erwerben seien zunächst die Kenntnis von existierenden Performances anderer Komponist*innen und die kritische Auseinandersetzung mit ihnen. Von da aus versuchte Šušak offenen Fragen und sogar Mängeln bereits existierender Performances mit dem eigenen Konzept zu begegnen. Der kompositorische Prozess solle sich während der Entstehung des Stücks offen zeigen für eine Neuausrichtung; diese betraf bei Limes die Vermittlung und machte damit das Publikum der jeweiligen Aufführung zu einem Akteur. Schließlich war nachträglich das zustande Gekommene zu überdenken, was auf eine musikalische Analyse der eigenen Performance hinauslief. Wie ein wissenschaftliches vermöge auch ein künstlerisches Forschungsprojekt Fragen zu lösen, und es eröffne mit den Lösungen zugleich neue Fragen, so dass die Erfahrungen zukünftige Arbeiten anstoßen könnten.

Das Colloquium endete mit einem Resümee des zweijährigen Forschungsprojekts insgesamt. Gebracht hat es mit der intensiven Kooperation von Musikolog*innen des französischen und deutschen Sprachraums zu musikalisch aktiven Frauen der letzten Jahrhunderte die Einsicht, wie wesentlich es bei der Untersuchung von sprachkulturell definierten Räumen ist, sich auf das Wirken von Musikerinnen einzulassen, die diesen Räumen von ihrer Herkunft her nicht angehörten. Weil die gehaltenen Vorträge besonders oft neueste Musik in den Blick nahmen, ergaben sich auch Fragen danach, wann die Kunst von Musikerinnen der jüngeren Zeit damit begonnen habe, »ihr weibliches Geschlecht« zu zeigen, wie es in der bildenden Kunst seit Valie Export, Marina Abramović oder Niki de Saint Phalle geschah. Die Zahl von insgesamt zehn Arbeitstreffen über zwei Jahre hinweg hatte es mit sich gebracht, dass viele Beiträge aus der laufenden Forschung und aus dem Studienbetrieb heraus entstanden. So wurden aktuell ohnehin anstehende Arbeitsthemen um Genderfragen bereichert und fanden damit – unerwartet beflügelt durch die Ende 2017, also mit Beginn des Projekts einsetzende #MeToo-Debatte – Eingang in den laufenden Unterrichtsbetrieb. Es gab eine Reihe echter Entdeckungen. Dazu gehören die Musiktheoretikerin Elisabeth von der Osten, die in den Anfangsjahren der DDR wirkte, Studien zur Interpretationsforschung, welche Spielkulturen des französischen und deutschen Sprachraums miteinander verglichen, und zahlreiche Komponistinnen elektroakustischer Musik. Eine online-Publikation sämtlicher Beiträge ist geplant.