XIII. Weimarer Tagung/17. Arbeitstreffen der Fachgemeinschaft Hörerziehung/Gehörbildung der GMTH
Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar
3.–5.5.2019
Tagungsprogramm
Arne Lüthke und Arvid Ong
Die XIII. Weimarer Tagung, die in diesem Jahr gemeinsam mit dem 17. Arbeitstreffen der Fachgemeinschaft Hörerziehung/Gehörbildung (FHG) der Gesellschaft für Musiktheorie durchgeführt wurde, widmete sich dem Oberthema »Solmisation« aus historischer, pädagogischer und musikpraktischer Sicht. Der Präsident der Weimarer Hochschule Christoph Stölzl äußerte in seinem wie gewohnt humorigen Grußwort den Wunsch, dass das durch Solmisieren zu erreichende Verständnis tonaler Strukturen zur Bildung eines jeden Heranwachsenden gehören sollte wie das Binden von Schnürsenkeln oder das Reparieren eines Fahrrads. Zusätzlich zu den Vorträgen steuerte die FHG kurze Sequenzen mit praktischen Übungen bei. Verschiedene Workshops und Hospitationen im Gehörbildungsunterricht, auch am Musikgymnasium Schloss Belvedere, rundeten das abwechslungsreiche Tagungsprogramm ab.
Den Auftakt zu Vorträgen über die Geschichte der Solmisation machte Gesine Schröder (Leipzig) mit einem Blick auf die lokale Historie der Solmisationsdidaktik um 1600: Sie referierte über die mitteldeutschen Lehren von Cyriacus Schneegaß (Friedrichroda in Thüringen), Sethus Calvisius (Leipzig) und Nicolaus Gegenbach (Zeitz) und exemplifizierte die zeitgenössische Solmisationspraxis anhand einiger Solmisationsfugen von Johann Steurlein. Christoph Rudolph (Leipzig) stellte überblicksartig die verschiedenen Stationen absoluter und relativer Solmisation seit Guido von Arezzo bis zum 20. Jahrhundert vor. Helmut Well (Weimar) erläuterte zunächst die Ursprünge des Hexachordsystems und stellte anschließend diverse Ausschnitte aus Vokalwerken von Josquin Des Prez, Girolamo Frescobaldi und John Bull vor, deren Solmisations-Soggetti bereits im jeweiligen Werktitel angezeigt werden (wie im Falle von Josquins Missa la sol fa re mi). Anhand des Beginns der D-Dur Fuge aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach diskutierte er das Verhältnis von Vorzeichnung, Tonart und Themenbeantwortung vor dem Hintergrund des traditionellen Hexachorddenkens. Diese Ausführungen zur Historie ergänzten Beiträge zur Solmisation im 20. Jahrhundert: Christhard Zimpel (Berlin/Weimar) stellte die bisher wenig im Fokus stehende Berliner Musikpädagogin Maria Leo und die ›Tonika-Do‹-Lehre vor. Umfangreiche biographische Ausführungen, insbesondere zum tragischen Schicksal der jüdischstämmigen Leo in den 1930er Jahren bereicherten den Vortrag. Christine Klein und Anett Schwarzenberger (Halle) sprachen über die relative Solmisation nach Richard Münnich, der lange Zeit an der Weimarer Hochschule lehrte und dessen ›Ja-Le‹-System in der Musikpädagogik der DDR (und vereinzelt darüber hinaus) weit verbreitet war.
Einige Referenten befassten sich mit der Solmisation außerhalb des deutschsprachigen Raums. Nach einem Einblick in die Anfänge der ungarischen Solmisationsmethodik sprach Jens Marggraf (Halle) über die spätere Etablierung des Konzepts in Musiklehrbüchern. Dabei untersuchte er eine Sammlung verschiedener Lehrmaterialien für Schülerinnen und Schüler allgemeinbildender Schulen sowie für angehende Kindergärtnerinnen. An verschiedenen Beispielen zeigte Marggraf auf, dass in der ungarischen Musikpädagogik Solmisation nicht allein auf den Elementarbereich beschränkt war, sondern diese sogar für Analysen von Strawinsky und Schönberg diente. Die konsequente Anwendung der Methode blieb zunächst ein ungarisches Phänomen. Anna Dalos (Budapest) gab einen Einblick in die von Jenő Ádám und Zoltán Kodály mitbegründete ungarische Solmisationstradition anhand einer systematischen Gesangslehre für Kinderchöre, mit deren Hilfe das Publikum der Zukunft erzogen werden sollte – und zwar aufgrund des verwendeten Volksliedrepertoires nicht zuletzt im Sinne eines Bekenntnisses zur ungarischen Nation. Vor allem die Methodik zum Erlernen guten Intonierens beim Singen ist ursächlich für den Erfolg der ungarischen Solmisationslehren. In ihrem Vortrag »Solmisation – warum ein Streit-Thema?« arbeitete Violaine de Larminat (Wien) heraus, dass der Erfolg der Solmisation nicht allein von der Frage abhängt, ob diese absolut oder relativ betrieben wird. Da es letztendlich auf jahrelanges Training seit dem Kindesalter, vor allem aber auf das Singen an sich ankomme, plädierte de Larminat dafür, verschiedene Lehrtraditionen nicht gegeneinander auszuspielen. Aufgrund der Verhinderung der Referentin las ihr Wiener Kollege Michael Meixner freundlicherweise den Text vor.
In einer ersten Unterrichtseinheit zur Gehörbildung ließ Christhard Zimpel (Weimar) fünf Studierende von Blechblasinstrumenten Motive aus dem Scherzo der fünften Sinfonie von Gustav Mahler hörend erkennen und auf ihren Instrumenten nachahmen, um darauf aufbauend kleine Improvisationen zu entwickeln. In einer zweiten, noch spielerischeren Unterrichtsdemonstration mit Musikschülern ging es um das gegenseitig hörende Erspüren von Tönen beim Cello-Spiel. Erkannt werden musste der gehaltene Zielton eines Glissandos, von dem aus die zweite Spielerin ein neues Glissando begann. Anne-Kathrin Wagler (Dresden) zeigte verschiedene Beispiele für den praktischen Einsatz der Solmisation im schulischen Unterricht und arbeitete Prinzipien für das Entwickeln der Grundtonempfindung sowie der diatonischen Tonstufen heraus. Durch Waglers Beitrag wurde deutlich, dass die Solmisation ungarischen Ursprungs in der gegenwärtigen Musikpädagogik durchaus wieder großen Zuspruch erfährt. Stefan Garthoff (Naumburg) berichtete von seiner Arbeit als Musiklehrer am Naumburger Domgymnasium, wo er mit einem Oberstufenkurs Musik des Naumburger Musiktheoretikers und Komponisten Heinrich Faber entdeckte. Ausgehend von dessen Musik beschäftigten sich die Schüler mit Quellenkunde, lokaler Musikgeschichte und Solmisation, die an Fabers Stücken singend und mit Boomwhackern erprobt wurde. Die Teilnehmer der Tagung durften diese Unterrichtssequenz durch eigene Anschauung nachvollziehen. Guido Mattausch (Halle) referierte über seine Erfahrungen im Solmisieren an einem Gymnasium. Anhand eines Videos zeigte er, wie regelmäßiges und kleinschrittiges Training Schüler einer Chorklasse dazu befähigt, Chorstimmen eigenständig einzuüben. Ob dies auch für Klassen ohne besonderen Musikschwerpunkt erreichbar wäre, bleibt zu diskutieren. Malte Heygster (Bielefeld), bekannter Buchautor zur relativen Solmisation, demonstrierte auf eindrückliche Art, wie Solmisieren das musikalische Empfinden und körperliche Erleben intensiviert. Für ihn erscheint die Solmisation als Mittel zum Zweck, um Musik körperlich erfahrbar zu machen.
Besonderer Dank ist dem Tagungsleiter Jörn Arnecke und den Studierenden der Hochschule für die Organisation und Durchführung der Tagung ebenso auszusprechen wie Christhard Zimpel für die Ermöglichung der Unterrichtsdemonstrationen sowie den beteiligten Studierenden und Musikschülern für ihre Mitwirkung im öffentlichen Gehörbildungsunterricht. Der Tagungsort für das Jahr 2020 wird noch bekanntgegeben. Die Fachgemeinschaft Hörerziehung/Gehörbildung trifft sich auf Einladung von Krystoffer Dreps voraussichtlich vom 8. bis 9. Mai in Münster zum Schwerpunkt »Jazz/Pop/Klassik/Elektroakustik«.