SalonOrchester der Alpen

St. Moritz / Pontresina

24.6.– 25.6.2022

Tagungsprogramm

Sebastian Hensel


Die Geschichte des Engadin und der dortigen Kur- und Grandhotels ist eng verbunden mit der Musik von Kurorchestern. Deren Eigenarten und ihre Sonderstellung innerhalb der kulturellen Institutionen der Region aufzuarbeiten, war das Anliegen eines von Mathias Gredig (Universität Basel, Institut für Kulturforschung Graubünden) und Matthias Schmidt (Universität Basel) geleiteten Forschungsprojekts, das am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel angesiedelt ist, kuratiert und organisiert gemeinsam mit dem Institut für Kulturforschung Graubünden.1 Bei der Ende Juni in St. Moritz und Pontresina durchgeführten Tagung »SalonOrchester der Alpen« ging es jedoch nicht nur um den geistigen Austausch. Ganz im Sinne der zentralen Aufgabe von Kurorchestern umrahmte, bereicherte und strukturierte die Camerata Pontresina (Violinen: Marcin Danilewski, Flurina Sarott, Violoncello: Matthieu Gutbub, Kontrabass: Peter Clemente, Flöte: Sylvie Dambrine, Klarinette: Xaver Fässler, Klavier: Daniel Bosshard) als eines von zwei verbliebenen Kurorchestern der Region den Ablauf der Tagung. Neben Stücken aus seinem Repertoire spielte das Ensemble auch neun neue Bearbeitungen von Notenmaterial u. a. aus dem Archiv der Bibliothek Celerina/Schlarigna, welches von neun Studierenden der Musiktheorieklassen von Gesine Schröder (Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) und Jonathan Stark (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) transkribiert und arrangiert worden war und in einem Abendkonzert der St. Moritzer Öffentlichkeit präsentiert wurde. Vorangegangen war die Auseinandersetzung in Seminaren mit Salonorchester-Bearbeitungen u. a. durch Arnold Schönberg.

Nicht zuletzt die Tagungsräumlichkeiten im Hotel »Reine Victoria« in St. Moritz sowie dem Hotel »Saratz« in Pontresina ermöglichten es, dem Geist nachzuspüren, welcher in der goldenen Ära der Kurorchester durch diese und ähnlich namhafte Einrichtungen geweht haben dürfte. Die Tagung selbst wurde durch ein Grußwort von Cordula Seger (Institut für Kulturforschung Graubünden) eröffnet, in dem sie die Besonderheit dieses vielschichtigen Forschungsfeldes hervorhob, die Einzigkeit der im Engadin verbliebenen Ensembles und damit der seit über hundert Jahren in diesem Hochtal des Inns präsenten Kurorchester-Kultur. Dem schloss sich eine Begrüßung durch den amtierenden Gemeindepräsidenten von St. Moritz Christian Jott Jenny an. Vielsagend für die Bedeutung der Orchester für die Region war die von ihm mitgeteilte Anekdote, nach der die St. Moritzer aufgrund von Rezession und Krieg Anfang der 1940er Jahre vor der Wahl standen, entweder die Mittel für die Kurorchester oder für repräsentative politische Ämter zu streichen. Die Gemeinde entschied sich für den Erhalt der Orchester. Ein kulturelles Bewusstsein, das man sich auch heute wieder in Deutschland wünschen würde, wo erneut die Frage nach dem wirtschaftlichen Nutzen von großen und kleinen Klangkörpern gestellt wird. Der Ansprache folgte der Titel »Gern hab’ ich die Frau’n geküsst« von Franz Lehár, mit dem Jenny die Anwesenden äußerst stilsicher und mit vollem Tenor, begleitet von der Camerata, in den Tagungsreigen entließ. Den Auftakt im repräsentativen Bridgesaal des Hotels »Reine Victoria« machte Markus Böggemann (Universität Kassel) mit dem Referat zu »Musik und Balneologie – Vignetten über die äußere und innere Anwendung von Musik im Bade«. Dort stellte er die Frage nach der Funktion und Eigenart von Musik im Rahmen des Kuraufenthaltes und zeigte, dass das an Kurorten gespielte Repertoire wenig bis gar keinen Bezug auf den Kurort selbst nahm, von gelegentlichen Widmungsträgern wie Hoteliers oder Kurkomitees abgesehen. Stattdessen habe man Schlager aus gängigen Opern und Operetten, leichtere Piecen aus dem Kammermusik- und Klavier-solo-Repertoire sowie virtuose Stücke favorisiert. Er verwies darauf, dass weniger die Aktualität der Stücke im Vordergrund stand als die Tatsache, dass gewisse Soloarien aufgrund ihrer Anlage als Bravourstücke Garanten für die Gunst der Hörer*innenschaft waren, selbst wenn die Arien nicht mehr zum aktuellen Opernrepertoire zählten. Dem folgten Ausführungen zum »Tanz in den Engadiner Hotels«, in denen Leila Zickgraf (Humboldt-Universität zu Berlin, Universität Basel) sich mit dem Alltag professioneller Tänzer im Kontext von Kurhotels auseinandersetzte. Anhand von Offerten und anderem Archivmaterial ermöglichte sie einen Einblick in die von prekären finanziellen Verhältnissen einerseits und rauschenden Festen andererseits geprägte Welt des Tanzes. Dabei ging sie sowohl auf die sozioökonomische Situation der Tänzer ein als auch auf deren Aufgabenspektrum im Ablauf des Kuralltags, das von Konversation über private Tanzstunden und Gruppenunterricht bis hin zur Organisation von Bällen inklusive der Gestaltung der Räume etc. reichte. Der darauffolgende Vortrag über »Die sozioökonomische Stellung der Musiker:innen im Engadin« von Julia Sterki (Royal Academy of Music London, King’s College London) musste leider krankheitsbedingt entfallen. Dieser hätte sich nahtlos an das bereits offene Themenfeld des sozialen Kontextes angefügt und die vorhergehenden Ausführungen um weitere Aspekte bereichert. Der angekündigte Tagungsband wird diese Lücke hoffentlich schließen.

Unter dem schönen Vortragstitel »Vom Engadin ins Paradies! Exotismus in der Salonmusik« sprach Martina Sichardt (Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig) u. a. über Musik, die Wünschen der zahlreichen englischen Gäste im Engadin entgegenkam. Ihrem Text und Titel nach thematisierte diese Musik beispielsweise das seit 1846 für ein Jahrhundert britische Protektorat Kaschmir als Sehnsuchtsort, ohne sich aber musikalisch wirklich auf ihn einzulassen. Mauricio Kagels Die Stücke der Windrose (1989–1995), die zu den ganz wenigen original für Salonorchester geschriebenen Kompositionen der jüngeren Zeit gehören, wurden in dem Vortrag »Der musikalische Tourist« von Christoph Haffter als Möglichkeit diskutiert, kompositorisch nicht-touristisch und explorativ für Salonorchester zu schreiben.

Der Folgetag war über die inhaltliche Vielfalt hinaus von den verschiedenen Veranstaltungsorten bestimmt, die wiederum weitere Einblicke in den Alltag von Kurorchestern ermöglichten. So eröffnete ein Gesprächskonzert im Taiswald den Vormittag. Jonathan Stark verglich in seinem Vortrag »Von der Opernbühne in den Salon – Mozarts Zauberflöte für Salonorchester« verschiedene Herangehensweisen innerhalb des Bearbeitungsprozesses, dem ein größeres musiktheatralisches Werk zu unterziehen war, wenn man es zu einer vom Salonorchester gespielten Opernfantasie von etwa zehn Minuten Dauer umwandeln wollte. Dabei ging er anhand zweier um 1910 entstandener Salonorchesterfantasien über Die Zauberflöte sowohl auf die Auswahl der Nummern ein als auch auf die kompositorischen Eingriffe, die ein musikalisch sinnvolles Zusammenfügen der Stücke erfordert. Federica di Gasbarro (Deutsches Historisches Institut Rom) thematisierte in ihrem nachfolgenden Konzertkommentar »Wer übernimmt hier das Horn?! Klangfarbenbehandlung in der Praxis des Salonorchesters« die Herausforderungen, die aus instrumentatorischer Sicht die Reduktion einer Orchesterpartitur auf eine kleine Salonorchesterbesetzung mit sich bringt. Anhand eines aus der Bibliothek Celerina stammenden älteren und eines vom Berichterstatter neu erstellten Arrangements von Louis Spohrs Ouvertüre zur Oper Jessonda ging sie nicht nur auf allgemeine Aspekte der Instrumentation ein, sondern auch auf die formbildende Funktion, die die Orchestration in den Originalwerken übernimmt und die in einer Bearbeitung nicht verloren gehen sollte.

Am Nachmittag wurden die Vorträge im nahegelegenen Pontresiner Hotel »Saratz« fortgesetzt. Hier konnte die Gemengelage aus Touristik, sozialen Aspekten, Gender und musikalischer Rezeption erneut erweitert werden. So führte Kurt Gritsch (Institut für Kulturforschung Graubünden) in seinem Vortrag »Zur Mobilität von Salonorchester-Musikern im Unterengadiner Hotel Waldhaus in Vulpera« aus, wie sehr die Musiker und Orchester auf die Engagements in den Hotels angewiesen waren und dass sie trotz der häufig sehr schlechten vertraglichen Bedingungen jedes Jahr aufs Neue von einem Ort zum nächsten zogen, da dies ihre Erwerbsgrundlage bildete. Patrick Gasser (Touriseum – Südtiroler Landesmuseum für Tourismus, Meran) lenkte den Blick auf das Aufblühen und Vergehen der Kurorchesterkultur in Meran analog zur Entwicklung der Stadt als Kurort. Simone Hutmacher-Oesch (Universität Basel) widmete sich mit ihrem Vortrag »Musikerinnen in den Engadiner Hotels« dem noch weitgehend ungeschriebenen Narrativ von Damenorchestern im Bereich der Salon- und Kurorchester. Dabei verwies sie sowohl auf die hohe künstlerische Qualität, die eingeschränkten Arbeitsbedingungen für Musikerinnen im Allgemeinen und die oftmals schlechten und erniedrigenden Erwartungen der Arbeitgeber an die Musikerinnen, denn sie sollten u. a. während der Pausen mit den mehrheitlich männlichen Gästen Konversation betreiben, um sie bei Laune zu halten und sie zum Alkoholkonsum zu ermuntern. Mit dem abschließenden Vortrag von Karina Zybina (Paris-Lodron-Universität Salzburg, Mozarteum Salzburg) wurde der Fokus auf die musikalische Rezeption der sogenannten »Schlitteda« – das rätoromanische Wort für Schlittenfahrt – gelegt. Dazu stellte Zybina der lokalen und mit ihren Zitaten und dem Glockengeklingel beinahe experimentellen Komposition Engiadina. Suite Alpestre per Orchestra (con riferimento a canzoni popolari) (1936) von Gioffredo Sajani die durch und durch konventionelle Petersburger Schlittenfahrt (1885/86) von Richard Eilenberg gegenüber. Abgerundet wurde die Tagung durch die am Abend stattfindende Eröffnung der von Mathias Gredig und Matthias Schmidt kuratierten Ausstellung »Höhenmusik. Orchester der Hotels und Kurvereine im Engadin« im Museum Alpin Pontresina. Hier wurden sämtliche in den vorangegangenen Vorträgen angesprochenen Aspekte erneut durch reichhaltiges Archivmaterial veranschaulicht. Gleichzeitig bot der Veranstaltungsrahmen noch einmal die Gelegenheit, in entspannter Atmosphäre sich über die vergangenen zwei Tage auszutauschen und das Erlebte und die neuen Eindrücke auf sich wirken zu lassen.


  1. Die Webseite des Forschungsprojekts: https://musikwissenschaft.philhist.unibas.ch/de/forschung/aktuelle-forschungsprojekte/geschichte-der-salonorchester-im-engadin/ (Abruf: 2. Juli 2022).