»Modelle«: 22. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie

Universität Mozarteum Salzburg

30.9.–2.10.2022


Tagungsprogramm

Susanne Hardt, Tim Kuhlmann, Kaja Nieland, Gernot Preusser, Philipp Zocha


Unter einem weit gefassten Kongresstitel luden die Kongressleitung und das Organisationsteam um Juliane Brandes und Stephan Quandel beim diesjährigen Jahreskongress der GMTH dazu ein, auch das »Modell Jahreskongress« neu zu (über)denken: Neben altvertrauten Formaten durften die ins herbstlich-regnerische Salzburg Gereisten daher zahlreiche neue Vortragsmodelle erleben und erproben. Unter schmucken Titeln wie »Concerto«, »Battaglia« und vielen weiteren fanden Workshops, Streitgespräche, Diskussionsrunden statt und nicht zuletzt auch einige durch live gespielte Musikbeiträge besonders ansprechende Vorträge. Einen Vorgeschmack auf innovative Formate brachte eine kollektiv gestaltete Keynote: Nach Impulsvorträgen von Otfried Büsing (Freiburg) und Cosima Linke (Saarbrücken), die sich mit der Frage nach Modellen und Topoi bzw. musikalischen Gesten in neuerer und posttonaler Musik beschäftigten, wurde das Thema in Form einer Diskussion zwischen einem erweiterten Podium und dem Publikum weitergeführt.

Beim ausgerufenen Motto lag selbstverständlich eine Beschäftigung mit Satzmodellen auf der Hand, sodass sich gleich mehrere Beiträge vor allem mit deren analytischem Potenzial in harmonisch avancierten Stilen befassten, die von Gustav Mahler (Frederik Kranemann, Freiburg/Mainz; Majid Motavasseli, Graz) über Sergej Rachmaninoff (Diana Lizura, Weimar) und Maurice Ravel (Eric Domenech, Weimar) bis hin zu James P. Johnson (Philipp Teriete, Freiburg) reichten. Jonas Wolf (Karlsruhe/Trossingen) hielt einen Vortrag über satztechnische Progressionen bei Richard Wagner und einen zweiten über solche bei Nik Kershaw, doch den weitesten historischen Bogen schlug wohl Maximilian Nickel (Würzburg/Stuttgart) mit seinem Beitrag über ein auch von späteren Komponisten verwendetes Eröffnungsmodell aus Giovanni Battista Pergolesis Stabat Mater.

Das traditionelle musiktheoretische Korpus erfuhr Erweiterungen in einer Reihe von innovativen Vorträgen: Ausflüge in die Film- und Medienmusik unternahmen Susanne Hardt (Dresden), Gernot Preusser (Lüneburg) und Elke Reichel (Weimar) mit ihrer auf großes Interesse stoßenden Sektion. Ferner wurde von bemerkenswerten Forschungsergebnissen auch in den Sphären von Jazz, Pop und Hiphop berichtet. Im Bereich der posttonalen Musik ist die groß angelegte und noch laufende Feldstudie zum Thema »Hören posttonaler Strukturen« angesiedelt (Leitung, Vortrag und Workshop: Christian Utz, Graz), der ein Korpus aus 100 nach 1909 entstandenen Werken zugrunde liegt. Nicht nur zeitlich, sondern auch geografisch wagte das Kongressprogramm große Sprünge und beleuchtete neben einer mehrteiligen Sektion zu Frankreich im 20. Jahrhundert auch japanische Musiktraditionen (Hubertus Dreyer, Düsseldorf; Yuko Ueda, Hiroshima) und indische Ragas (Workshop von Johanna Koerrenz, Weimar).

Aber auch der Nutzen von Modellen im Spannungsfeld von Theoriebildung und Vermittlung stand bei einigen Beiträgen im Fokus, und zwar aus vielfältigen Perspektiven: Zum einen wurden Modelle der Instrumentationsdidaktik vorgestellt. Zum anderen beleuchtete ein größeres Panel das didaktische Potenzial des Modellbegriffs im universitären und schulischen Bereich, wobei sich im Kompositions- und wiederum im Instrumentalunterricht die Relevanz und Anschlussfähigkeit musiktheoretischer Inhalte offenbarte.

Einen zentralen Raum beim Kongress nahm das Thema Digitalität ein: Von einem Programm zur Unterstützung bei Noten- und Literatur-Recherche (»musiconn«; Bernhard Lutz, München) über Software zur computergestützten Musikanalyse (»CAMAT«; Egor Poliakov, Leipzig/Weimar) sowie verschiedenen Forschungsprojekten zur digitalen Korpusanalyse (Christoph Finkensiep, Lausanne; Johannes Hentschel, Lausanne; Johannes Menke, Basel; Markus Neuwirth, Linz; Martin Rohrmeier, Lausanne) bis hin zur »Kantionalsatzmaschine KATI« (Jörn Arnecke, Philipp Schmidt, Alex James Vaughan, sämtlich Weimar) wurden neuartige Softwarekonzepte und -ansätze präsentiert. In ganztägig besuchbaren »Promenaden« zeigte zum einen Philipp Sobecki (Hannover/Berlin/Würzburg/Köln) eine Touchscreen-basierte Reflexion über den Modellbegriff und zum anderen Jonathan Stark (Wien) sein Onlinetool zum interaktiven Erleben sinfonischer Musik.

Aber auch innerhalb einzelner Vorträge wurde der Drang zur stärkeren Digitalisierung der Musiktheorie deutlich: So wurde unter anderem YouTube verstärkt als Quelle sowie als Verbreitungsmedium eigener Forschungsergebnisse genutzt, und es wurden neue Webseiten (https://fmadb.org/ von Hardt oder https://rapanalyse.com/ von Daniel Grote, Berlin/Leipzig) zu speziellen Forschungsgebieten präsentiert. Ein inspirierendes Wochenende erlebten die Kongressteilnehmenden auch im Hinblick auf das Thema Musiktheorie und musikalische Interpretation. So demonstrierte der US-amerikanische Musiktheoretiker Robert Hatten (Austin [Texas]) in seiner Keynote gemeinsam mit einem live spielenden Streichquartett, wie sich mithilfe seiner Theorie der »virtual agency« bei der Interpretation von Beethovens op. 18 Nr. 2 ein lebendiges Ineinandergreifen von musikalischen Gesten gestalten lässt.

Weitere Beiträge widmeten sich u.a. der Vergleichbarkeit musikalischer Interpretationen: Während Nico Schüler (San Marcos [Texas]), Alina Seibel (Mainz) und Adele Jakumeit (Münster) vier Interpretationen der Allemande aus der a-Moll-Partita BWV 1013 mithilfe der Software »Sonic visualizer« gegenüberstellten, verglich Motavasseli ein Korpus von ca. 220 verfügbaren Aufnahmen der Goldberg-Variationen in Hinblick auf die tatsächlich gespielten Wiederholungen und offenbarte dabei deutliche Unterschiede und Schwerpunktsetzungen der Interpret*innen.

Ganz im Zeichen des Instrumentalspiels stand auch der in diesem Jahr anstelle des Kompositionswettbewerbs von der GMTH ausgeschriebene Improvisationswettbewerb – ebenfalls eine Neuheit im Kongressprogramm: Am Samstagvormittag traten sechs Ensembles, die unter den zwölf Bewerbungen von der Jury ausgewählt worden waren, mit einem Pflicht- und einem Wahlstück in einer eindrucksvollen stilistischen Bandbreite gegeneinander an, von Renaissance-orientierten bis frühbarocken »Gesprächen« des Vokalensembles Le Bois Chantant bis hin zu magischen, elektronisch erzeugten und verstärkten Klängen des Zürcher Trios Aspirateur Spatial. Am Ende konnte insbesondere ein Teilnehmer überzeugen: Der Saxofonist Ferran Gorrea i Muñoz erspielte sich sowohl einen 2. Preis mit dem Trio Aspirateur Spatial als auch einen 1. Preis mit dem Slide Ensemble und wurde damit zum verdienten Doppelpreisträger. Um die Leistungen aller sechs Ensembles würdigen zu können, entschied sich die Jury dafür, anstelle eines einzelnen dritten Platzes an die verbliebenen vier Ensembles sämtlich Förderpreise zu vergeben.

Im Vordergrund stand beim diesjährigen Kongress ebenfalls die Förderung junger Musiktheoretiker*innen: Neben dem Workshop »Erfolgreich bewerben« mit Sigrun Heinzelmann (Salzburg) und Wendelin Bitzan (Düsseldorf) gab es eine vielversprechende Studierendensektion, in der sich u. a. Sebina Weich (Würzburg) über einen gut gefüllten Bösendorfer-Saal freuen durfte: In ihrem Beitrag wusste sie anschaulich darzustellen, welche vielfältigen Funktionen Generalpausen in den Sinfonien Joseph Haydns erfüllen können. Malte Höfig (Salzburg) demonstrierte sowohl theoretisch als auch praktisch an der Gitarre, dass sich das Partimentospiel längst nicht mehr nur auf Tasteninstrumente beschränken muss. Nach dem Motto »Wie klingt eigentlich atonal?« stellte Marius Barendt (Basel) exemplarisch dar, wie man sich Schönbergs früher Klaviermusik auch auf anderem als textanalytischem Wege nähern kann – und zwar improvisatorisch am Klavier. Zum Abschluss der Sektion gab Oliver Mathes (Hamburg) einen Einblick in die interessanten Klaviersonaten op. 21–30 des Liszt-Schülers Rudolf Viole und deren didaktischen Mehrwert als implizite Formenlehre der Romantik.

Eine besondere Würdigung erhielten Studierende auch im Rahmen des am Freitagabend stattfindenden Konzertes »Junger Mozart«, dessen innovatives Konzept bei den Kongressbesuchern großen Zuspruch fand: Studierende waren im Vorfeld dazu aufgerufen worden, Eigenkompositionen im Stile Mozarts einzureichen, von denen die besten im Konzert gemeinsam mit einem Original des Komponisten aufgeführt wurden. So entstand ein abwechslungsreiches und kurzweiliges Programm aus zahlreichen Sinfoniesätzen, einem Streichquartett, Arien und vielem mehr – ganz im klassischen Stil. Im Anschluss daran war das Publikum gefragt und durfte per App für das vermeintlich originale Stück votieren. Überraschend: Während die meisten Zuhörenden das Allegro in B-Dur von Erik Aren Schroeder (Salzburg) für den echten Mozart hielten, landete dieser mit seiner (Jugend-)Komposition zusammen mit einem anderen Stück nur auf einem der hinteren Plätze.

Das zweite Konzert im Rahmenprogramm des Kongresses knüpfte inhaltlich an das erste an, indem sich fünf Lehrende des Mozarteums mit ihren Kompositionen diesmal die Frage nach der Grenze zwischen Stilkopie und Komposition stellten. Achim Christian Bornhöft verwendete in seinem Tonbandstück Nirvana DC unter anderem Klänge der gleichnamigen Gruppe. Quandel brachte seine Drei Fragen für Klavier solo zur Uraufführung, gefolgt von Andreas J. Winklers vier Neue[n] Lieder[n] nach Rilke, eindringlich und einfühlsam vorgetragen vom Bassisten Roland Faust und von Marta Kucbora am Klavier. Den Abschluss machten Traumbildfragmente III für Violine und Klavier von Ludwig Nussbichler sowie das mit einem Mozart-Zitat beginnende Klaviertrio 1990 von Christian Ofenbauer, das sich nach kurzer Zeit jedoch von der Vorlage ablöste.

Den Bogen zur Stilkopie schlugen dann auch Brandes und Oliver Korte (Lübeck) im Rahmen der Abschlussveranstaltung; sie brachten die an vielen Einzelheiten des Kongresses spürbare Nähe und Verbundenheit von Musiktheorie und künstlerischer Praxis auf den Punkt: Brandes rückte die Perspektive der Lernenden in den Fokus, indem sie anhand anschaulicher Beispiele aufzeigte, wie viele verschiedene künstlerische Entscheidungen beim Schreiben einer Stilkopie getroffen werden müssen, während Korte auf einen weiteren bemerkenswerten Aspekt in Hinblick auf die Rezeption solcher historisch-künstlerischer Arbeiten hinwies, dessen Effekt bereits im Konzert »Junger Mozart« zu bemerken war: So hatte seine Untersuchung ergeben, dass das Publikum dazu neigte, vorgefundene Stilistiken nachahmende Werke anstelle eines Originals als »echt« anzuerkennen, was darauf schließen lässt, dass sowohl Schreibende als auch Zuhörende einem falschen Bild vom »originalen Stil« aufsitzen. Die so geschlagene Brücke von komplexen musiktheoretischen Fragestellungen zur alltäglichen Unterrichtspraxis bildete einen gelungenen Abschluss des Kongresses, indem sie die Stilkopie nicht nur als musiktheoretischen Erkenntnisweg, sondern auch als künstlerisches Schaffen zu würdigen versuchte. Daher dürften Stilkopien auch beim nächsten, in Freiburg stattfindenden Jahreskongress eine Rolle spielen, bei dem es im Rahmen des Themas »Artistic Research« um das Verhältnis von Künstlerischer Forschung und Musiktheorie gehen soll, unter anderem aus hochschulpolitischen, wissenschaftstheoretischen, fachgeschichtlichen und praxisbezogenen Perspektiven.