Max Reger und das Klavier. Analyse – Interpretation – Performance

Hochschule der Künste Bern

14.–16.9.2023

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Tagungsprogramm


Vivian Domenjoz

Das vom 14. bis 16. September an der Hochschule der Künste Bern (HKB) durchgeführte Symposium stellte Max Reger als Pianisten und Klavierkomponisten ins Zentrum und setzte damit zum Jubiläum seiner Geburt vor 150 Jahren einen besonderen Akzent. Das Programm des Symposiums wurde von zwei Forschungsgruppen des an der Berner Hochschule situierten Instituts Interpretation zusammengestellt. Während sich die eine der beiden Gruppen auf die Thematik aus der Perspektive der Forschung über Notenrollen für selbstspielende Klaviere konzentrierte, brachte die andere Gruppe die Sicht der Musiktheorie in die Tagung ein.

Die Reihe der fünfzehn Vorträge eröffnete Jürgen Schaarwächter (Karlsruhe), der mit seiner grossen Expertise als Reger-Forscher in die Thematik des Symposiums einführte. Als Klaviersolist sei Reger nur in jungen Jahren aufgetreten, später habe er sich auf Liedbegleitung und Kammermusik beschränkt. Doch spielte er im Leipziger Aufnahmestudio der Firma Welte & Sohn 1905 eigene Klavierwerke für das Reproduktionsklavier ein, 1913 folgte die Einspielung weiterer Rollen für die Firma Hupfeld. Für die Firma Philipps geplante Aufnahmen, diesmal mit Werken von Bach, kamen wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr zustande. Im Hinblick auf das Verständnis von Regers instruktiven Bach-Ausgaben ist das bedauerlich, denn Reger hatte sich um die Bildung einer interpretatorischen Tradition bemüht, und seine Aufnahme-Sitzungen hätten in diesem Sinne unterstützend wirken können.

Einen Überblick über Regers musiktheoretisches Können gab Juliane Brandes (Salzburg). Seine Prägung durch und sein Verständnis von Musiktheorie äußerte sich in drei Bereichen: seiner eigenen Ausbildung, seiner Lehrtätigkeit und seinen Kompositionsskizzen. Aus der Studienzeit bei Hugo Riemann hatte er von dessen Konzept von Harmonie langfristig nicht viel mitgenommen. Aus Übungen von Regers Schülern*innen kann ein traditionelles, stufentheoretisches Verständnis abgelesen werden, in dem Kontrapunkt eine hervorstechende Rolle einnimmt. In manchen Kompositionsskizzen bediente sich Reger gar der Generalbassnotation als schneller, verkürzter Schreibweise. Trotz unterschiedlicher ästhetischer Auffassungen unterschied sich sein Handwerk also kaum von dem der Vertreter der Münchner Schule.

Knud Breyer (Karlsruhe) referierte über Regers Klavierbegleitungen, die von der Musikkritik und von Notenrezensenten einhellig als zu klavierlastig empfunden wurden. Durch die Textauswahl habe Reger bisweilen bewusst den Vergleich mit Kollegen wie Richard Strauss gesucht. Die zeitgenössische kritische Rezension einer Ausgabe von Liedern als «Klavierstücke mit obligatem Gesang» nahm Breyer wörtlich und betrachtete die komplexen Klavierbegleitungen vergleichend mit dem Klaviersatz von lyrischen Klavierstücken bzw. Charakterstücken jüngeren Datums. Dabei wurden auffallende Ähnlichkeiten zwischen Regers Liederzyklus op. 75 und Klavierstücken aus Brahms’ Opera 76, 79 und 116 festgestellt.

Ausgehend von Dirigierpartituren, die aus Regers Zeit als – nicht unumstrittener – Kapellmeister in Meiningen überliefert sind, stellte Thomas Gartmann (Bern) grundsätzliche Überlegungen zu Reger als Interpret an. Dieser bereitete sich äusserst gewissenhaft vor, nicht zuletzt, weil er mit dem Verlag Peters die Veröffentlichung seiner interpretatorischen Notizen in neuen Notenausgaben vereinbart hatte. Die höchst genauen Vortragsbezeichnungen in den Dirigierpartituren zeigen immer wieder Strategien, mit denen Defizite aufgrund der kleinen Orchesterbesetzung ausgeglichen werden sollten. Tempobezeichnungen oder Metronomzahlen existieren von Regers Hand allerdings nicht, das Tempo sollte sich aus den jeweiligen Aufführungsumständen ergeben. Die Dynamik wurde in vielen Fällen durch dreifaches, ja vierfaches piano oder forte anstelle einer einfachen Angabe in die Extreme geführt. In Brahms’ Symphonien wurde gar die Instrumentation retuschiert, vor allem mit dem Ziel, Mittelstimmen hervorzuheben. Die Transparenz und ‹Plastizität› des Orchesterklangs und die Nachvollziehbarkeit des kontrapunktischen Gefüges waren oberstes Gebot.

Der zweite Symposiumstag nahm den Faden von Regers musikalischer Interpretation wieder auf und spann ihn in Richtung der musikalischen Bearbeitung weiter. Eine Bach-Affinität seitens Regers war bereits vor seiner Zeit in München spürbar, wie Birger Petersen (Mainz) anhand von Briefen belegen konnte. So verwundert es nicht, dass er sich mehrfach mit Bachs Goldberg-Variationen in der Fassung für zwei Klaviere von Josef Gabriel Rheinberger auseinandersetzte. Petersen zeigte zunächst auf, nach welchen Prinzipien Rheinberger diesen Variationszyklus bearbeitet hatte. Durch Erfinden zusätzlicher, mehr oder weniger selbständiger Stimmen habe er dreierlei erreicht: die Hervorhebung kontrapunktischer Momente, die Erweiterung des Tonsatzes durch Diminution bis hin zum Klangflächigen und schliesslich die Ergänzung der Harmonien durch sein eigenes Verständnis des Generalbasses. In der eigenen «Bearbeitung dieser Bearbeitung» konturierte Reger seinerseits die Ergänzungen Rheinbergers nochmals und rückte den Zyklus so in ein glänzenderes Licht.

An Regers Telemann-Variationen op. 134 tastete sich Florian Edler (Bremen) mit seinem Vortrag heran. Der Reiz dieser an Klavieretüden erinnernden Variationen nach dem Typus von Figuralvariationen, bei denen die Harmonik und formale Anlage des von Telemann entliehenen Themas beibehalten werden, liege darin, dass es Reger gelinge, durch kleingliedrige Figuren ein sich allmählich verdichtendes Netz über die gesamte Komposition zu spannen. Edler hatte die je ersten zwei Takte der Variationen 6 und 20 als Modell genommen und sie weiterkomponiert, wobei er Entscheidungen aus theoretischer, aber auch aus künstlerischer Sicht traf. Indem er seinen Rekompositionen Regers Originale gegenüberstellte, lotete Edler an den abweichenden Passagen aus, welche Fortführungsmöglichkeiten Reger zulässt. Auf der Basis dieses Befundes diskutierte Edler sodann verschiedene Einspielungen des Werks in Bezug auf sich jeweils abzeichnende pianistische Traditionen der Interpret*innen.

Auch bei Lars Laubhold (Linz) ging es um Fragen der pianistischen Interpretation. Diese versuchte er anhand verschiedener Einspielungen von Regers Bach-Variationen op. 81 zu beantworten. Im Mittelpunkt stand eine vermutlich 1962 privat in New York entstandene Aufnahme von Eduard Steuermann, eine Amateuraufnahme, die einer aufwändigen Restaurierung bedürfte, womit sich der Forscher gewissermassen ins Gebiet einer musikalischen Archäologie begibt. Im Fortgang zog Laubhold noch weitere Aufnahmen aus dem 20. Jahrhundert heran und verglich sie nicht nur miteinander, sondern auch mit Regers Angaben in den Noten sowie anhand der gemessenen Dauern von Sätzen, Abschnitten und Pausen. Durch ihr Spiel stellten die Pianisten*innen Regers Tempi in Frage, wobei Steuermanns Aufnahme dem Interpretationsstil Regers besonders nahekomme, einem Stil, der in den weiteren Vorträgen noch mehrfach beschrieben wurde: Ungestüm, zerbrechlich, unbeherrscht, brüchig, verschwommen, stimmungsvoll, charakterlos zerfliessend, spukhaft sind einige der Adjektive, die für dessen Beschreibung gefunden wurden. Wo die Art des Tonsatzes es in seinen Augen erforderlich machte, konnte Reger vertikal asynchron spielen, um eine Entfaltung der einzelnen Stimmen im polyphonen Gefüge zu erlauben. Laubhold demonstrierte, dass auch Steuermann diese Fähigkeit besass und sie situativ einsetzte.

Manuel Bärtsch (Bern) bestätigte diesen Befund. Es herrsche eine gewisse Ratlosigkeit beim Entschlüsseln von Regers in den Notenrollen gespeicherten musikalischen Interpretationen, die dem heutigen Verständnis von präzisem Klavierspiel widersprechen. Nach dem aktuellen Forschungsstand könne gesagt werden, dass die Welte-Mignon-Einspielungen der akustischen Realität entsprachen, Regers Spiel habe tatsächlich wie eben beschrieben geklungen. Können diese aus heutiger Sicht problematischen Aufnahmen dabei helfen, eine bestimmte Aufführungspraxis der Jahre um 1900 wiederzubeleben? Bärtsch berichtete von einem neuen Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds, das in den nächsten Jahren versuchen werde, darauf eine Antwort zu geben. Darin werden weitere Notenrollen mit Reger-Werken in den Einspielungen weniger bekannter Musiker*innen wie Paula Hegner oder dem mysteriösen Georg von K. untersucht. A priori lässt sich sagen, dass Regers «akkordisch fast-gleichzeitiges» Spiel dazu diente, die Funktion der Stimmen zu klären. Darüber hinaus bot die daraus gewonnene Quasi-Polyphonie potenziell die Möglichkeit, den Klavierklang unmittelbar zu beeinflussen.

Regers Einspielungen untersuchte erneut Hermann Gottschewski (Tokyo), allerdings im Hinblick auf seine Agogik. Regers Vortragsbezeichnungen in den Notentexten sind vielfältig, auffallend für die Tempobeschleunigung ist, dass Reger die Bezeichnung stringendo bevorzugt. Im Gegensatz zu entschleunigenden Bezeichnungen, die in vielfältigen Konstellationen mit dynamischen Angaben vorkommen, werden die stringendi fast ausnahmslos von crescendi begleitet und stellen somit einen Sonderfall in Regers Agogik dar. Analysen von Tempokurven aus Regers Einspielungen der Bach-Variationen op. 81, dem Tagebuch op. 82/1/6 oder der Silhouette op. 53/2 nach der Skyline-Methode zeigen, dass er Tempoveränderungen sowohl bogenförmig als auch linear ausführte, die stringendi jedoch stets linear, auch an Stellen, die nicht explizit dafür vorgesehen waren. Diese später auch von anderen Interpret*innen übernommene Eigenheit scheint Teil seines Aufführungsstils gewesen zu sein.

Da die Welte-Mignon-Klavierrollen inzwischen wissenschaftlich gut erschlossen seien, wie Sebastian Bausch (Bern) konstatierte, nehme er nun diejenigen der Firma Hupfeld in den Fokus. Hier sei noch grundlegende Arbeit zu leisten, die durch die geringe Menge erhaltener Rollen und dadurch erschwert werde, dass die Rollen weit verstreut verwahrt werden. Unterschiedliche Formate, aber auch das Fehlen von Dynamik und Artikulation in den Einspielungen, die allenfalls eine Unterscheidung zwischen legato oder staccato erlauben, mögen zu der geringeren Verbreitung der Hupfeld-Rollen beigetragen haben. Dass Reger für beide Firmen – Hupfeld und Welte – teilweise dieselben Werke aufgenommen hat, ermöglicht einen Vergleich, beispielsweise beim Intermezzo op. 45/3. Bausch konnte bei den beiden Aufnahmen u.a. unterschiedliche Dynamikverläufe, unterschiedlich arpeggierte Akkorde, verschobene Fermaten und im Detail eine andere Agogik beobachten. Dank der überlieferten Hupfeld-Einspielung der Fuge op. 99/6 durch Reger selbst kann zudem dessen persönlicher Stil des Fugenspiels untersucht werden. Zur Veranschaulichung führte Bausch Regers Einspielung in einer digitalen Fassung mit Cembalo- anstelle von Klavierklängen vor und bemerkte, wie Regers Spiel dadurch dem eines Cembalisten näher komme.

Auch der anschliessende Vortrag von Camilla Köhnken (Bonn) nutzte die Möglichkeiten des digitalen Reproduktionsklaviers. Das Nachspielen von Regers Aufnahmen erlaubt eine enge Annäherung an seine musikalischen Interpretationen, gleichwohl bleibt es für modern geschulte Pianisten*innen schwierig, seinen Stil zu imitieren. So erwies sich beispielsweise das zu frühe Eintreten bestimmter Töne als echte Herausforderung. Mit der Humoreske op. 20/5 wurden jene Passagen thematisiert, die Köhnken als auskomponiertes «Weggleiten» oder salopp als «Geschluder» bezeichnet hatte. Im halben Tempo abgespielt, machte Regers Einspielung hörbar, dass er tatsächlich alle Töne einer solchen Passage trifft. Im Selbstversuch a tempo sei die Stelle wegen Körper- und Materialwiderstand jedoch nicht zu schaffen. Wie hat Reger dies bloss hinbekommen, er, der bekanntlich kaum übte? Köhnken lieferte damit einen Erfahrungsbericht im Sinne des musikalischen Embodiments, verstanden als performatives Experiment. Mit dem digitalen Instrument war sogar eine Lektion bei Reger persönlich möglich, 107 Jahre nach seinem Tod. Köhnken analysierte Regers Einspielung des zehnten Stücks aus dem Tagebuch op. 82/1. Regers eigene Interpretation lässt sich nicht nur nachspielen, sondern dank der erweiterten Möglichkeiten des digitalen Reproduktionsklaviers konnte die eine Hand von Regers Aufnahme gespielt werden, während Köhnken die andere übernahm. Ein Verfahren, das offensichtlich schnell zum Erfolg führen kann.

Der dritte und letzte Tag des Symposiums stand ganz im Zeichen der Musiktheorie. Die bereits erwähnten negativen Kritiken von Regers Auftritten als Pianist und Organist wurden von Markus Neuwirth (Linz) mit den negativen Kommentaren zu seinem Komponierstil ergänzt. Unter anderem war von «Unverständlichkeit» oder «Schwerverständlichkeit», von «komplexen Modulationen» irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn, von «kühner, oft sprunghafter Modulation und komplizierter Harmonik» oder von «grosser, irrational durchgehender Masse» die Rede. Grundsätzlich gebe es aber wenig musikanalytische Studien zu Reger, gab Neuwirth zu bedenken. Er nahm die Einladung nach Bern zum Anlass, verschiedene Theorien der Tonalität auf Regers Werk anzuwenden und «analytische Vignetten» auf den Prüfstand zu stellen. Die Silhouette op. 53/6 wurde mit dem Konzept der Ursatztonalität untersucht. Eine Annäherung an den Ursatz sah Neuwirth darin, dass pauschal die Funktionalität der Akkorde erhalten blieb. Beim Klavierkonzert op. 114 sei zu Beginn des zweiten Satzes kein tonales Zentrum feststellbar, jedoch konnte Neuwirth das Erklingende Tonfeldern zuordnen. In seinem dritten Beispiel, dem achten Stück aus dem Tagebuch op. 82/2, lasse sich das Vorhandensein zweier konkurrierender Tonarten ausmachen, die keine einheitliche Tonalität mehr erzeugten. Regers Musik sei mithilfe der Tonalitätstheorien durchaus zu entschlüsseln, so Neuwirth, man müsse aber, frei nach Martin Eybl, mit einer Mischung aus sich ergänzenden Theorien operieren.

Nathalie Meidhof (Bern) nahm die modulatorischen Vorgänge aus Regers Beiträge[n] zur Modulationslehre unter die Lupe. Sie hatte einen Katalog der darin verwendeten Akkorde und harmonischen Mittel erstellt und daraus eine Systematik abgeleitet. Regers Akkordschrift wurde einerseits von Ernst Friedrich Richters Lehrbuch der Harmonie beeinflusst, andererseits von dem, was am Lehrerseminar in Altdorf bei Nürnberg in Gebrauch war, etwa von Christian Heinrich Hohmanns Harmonie- und Generalbasslehre. Statistisch hatte Meidhof erfasst, welche Wendungen bei Reger am häufigsten vorkommen, und sie erprobte ihr Ergebnis an der Rückmodulation zur Reprise im dritten Satz der Sonatine op. 98/2. Auf den ersten Blick schien Reger seinen eigenen Prinzipien nicht gefolgt zu sein. Substruiert man der Ausgangs- und Zieltonart jedoch eine dritte, vermittelnde Tonart, so zeigt sich, dass Reger auch hier genau jene, in den Beiträge[n] angeführten gebräuchlichsten modulatorischen Elemente nutzt. Mit dieser Methode der Modulationsanalyse wurde ein Arbeitsinstrument vorgestellt, das weniger «ver-rückt» ist, als es scheint.

Mittels Abweichungen von den Normen der überlieferten Satzlehre suchte Stephan Zirwes (Bern) nach Spuren einer Entwicklung in Regers früher Stilistik. Der Kerngedanke dabei war, dass Reger durch seine Tätigkeit als Pianist die Satzlehre in den Fingern hatte und beim Komponieren oder Improvisieren differenziert mit ihr umzugehen wusste. In der ersten Nummer aus den Lose[n] Blätter[n] op. 13 finden sich, wie Zirwes aufzeigte, klare, stabile und häufige Kadenzen und Sequenzbildungen. In der Nr. 8 hingegen werde die Zuordnung zu einem Tonvorrat wegen des mehrfachen Gebrauchs trugschlüssiger Wendungen erschwert – der Titel des Stückes, ?__?, scheint Programm zu sein. Die Nr. 7 ist formal und rhythmisch traditionell und über weite Strecken rein diatonisch gehalten, doch wird mittels Sequenzierungen plötzlich in eine weit entfernte Region moduliert, und in der Reprise vergrössert sich diese Entfernung nochmals. Zirwes zufolge lassen sich im Bereich der Tonartendisposition in der Silhouette op. 53/7 keine stabilisierenden Momente, keine spezifischen Arten, Tonarten zu formen, feststellen. Dafür finden sich Sequenzmodelle mit Akkorden, die instabil bleiben und dennoch das gesamte Stück zusammenzuhalten vermögen. Zirwes zeigte damit die Vielfalt und Eigenständigkeit des Reger’schen Frühstil auf, in dem gleichwohl eine auf Tradition beruhende Klangsprache feststellbar ist. Analytisch müsse man sich Reger nicht nur anhand der Akkordik, sondern auch der Formen und Modelle annähern, mahnte Zirwes an.

Michael Lehner (Bern) streifte Eigenarten vieler im Laufe des Symposiums besprochener Werke und erinnerte an eine oft vergessene Einfachheit der Reger’schen Schreibart. In verschiedenen Phasen seiner Kompositionstätigkeit habe Regers Stil auch eine klassizistisch zuordenbare Schlichtheit und Leichtigkeit besessen. Dies mag auf Verlagswünsche zurückzuführen sein, schliesse aber eigene künstlerische Tendenzen nicht aus. Auch das Humorvolle sei bei Reger zu finden: z.B. Humor aus Inkongruenz oder als performativer Scherz, aber sogar ein abgründig romantischer Humor. Dabei müssen sich klassizistische und humoristische Ansätze nicht notwendigerweise überschneiden. Als Fallbeispiel zog Lehner die Sonatinen op. 89 heran. In den Nummern 1 und 2 würden à la Mozart gehaltene Themen allmählich sanft aus dem klassischen Rahmen gehoben; in den später entstandenen Nummern 3 und 4 liessen sich zwei Topoi ausmachen, das grazioso und das espressivo, die eigene Stilebenen bildeten und auch gelegentlich ineinander fliessen könnten. Daraus werde gleichzeitig Komplexität und Einfachheit in immer neuen Verhältnissen erzeugt.

Das reibungslos organisierte Symposium wurde durchgehend von einem interessierten Publikum begleitet, und so ergaben sich in den Diskussionen anregende Ergänzungen und Kontextualisierungen, die, wie sehr zu hoffen ist, in die geplante Publikation einfliessen werden. Die Vernetzung von Analyse, Interpretation und Performance – als Motto der Veranstaltung – wurde nicht zuletzt durch die in Form von Kurzkonzerten dargebotenen Beiträge seitens der Studierenden der HKB erreicht. Mehrfach wurde betont, dass viele Vor- und Werturteile über Regers Musik und seine musikalische Interpretation revidiert werden müssen, denn es sei zu bedenken, dass er in verschiedenen, nebeneinander existierenden ‹Modi› operierte, die gleichzeitig mehrere pianistische und kompositorische Traditionen ausprägen und diese weitertradieren. Eine wichtige Erkenntnis des Symposiums war, dass es mittels Analyse möglich ist, jenseits der negativen zeitgenössischen Rezeption einen Zugang zu Regers Musik zu finden. Zum Schluss darf gesagt werden, dass dank digitaler Technik der Geist Regers tatsächlich im Raum herumschwirrte: Als die Klaviertasten wie von selbst auf und ab hüpften, schienen die Hände des Meisters in personam über die Tastatur zu gleiten.


Zum Autor

VIVIAN DOMENJOZ ist Komponist, Musiktheoretiker und Musikpädagoge. Er wurde in der Westschweiz geboren, lebt, lehrt und musiziert nun in der Grenzregion zwischen der Schweiz, Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein. Nach Studien in Feldkirch und Zürich (Diplom in Komposition, MA in Musiktheorie und BA in Instrumentalpädagogik) unterrichtete er 2011–2023 Musiktheorie an der Stella Hochschule für Musik, vormals Vorarlberger Landeskonservatorium. Er ist Mitbegründer des Ensembles PulsArt, Initiator der Tonsatzwerkstatt und der Reihe Reden wir über Musik. In seiner kompositorischen Arbeit wird er von der musiktheoretischen Fragestellung angetrieben, wie sich die eigene Auslegung einer spektralen Musik mit traditionelleren kompositorischen Mitteln verbinden lässt. Sein work in progress wird mit regelmässigen Uraufführungen dokumentiert. Seit 2021 ist Domenjoz als Doktorand an der Université de Lausanne und im Forschungsprojekt «Luigi Cherubini und die Kompositionslehre am Pariser Conservatoire als umfassende Ausbildungspraxis (ca. 1810–1840)» an der Hochschule der Künste Bern tätig.