Peter Cornelius – Perspektiven der Musiktheorie und Ästhetik. Arbeitstagung

Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Hochschule für Musik

27.4.2024

Tagungsprogramm

Philipp Zocha

Im Rahmen des Peter Cornelius-Festivals Mainz, mit dem die Geburtsstadt des Komponisten dessen 200. Geburtstag und 150. Todestag zugleich ehrt, fand die Tagung an der Hochschule für Musik Mainz anlässlich eines ganz besonderen Konzertereignisses statt: der ersten Wiederaufführung des Melodrams »Mein Wald«, das Cornelius auf ein Gedicht von Friedrich Hebbel gesetzt hatte. Dabei handelt es sich mit einiger Sicherheit um die in einem Brief erwähnte Komposition für die Vermählung der Prinzessin Marie zu Sayn-Wittgenstein, von der Cornelius seiner Schwester Susanne im Oktober 1859 berichtete. Im Jahr 2022 konnte das wiederaufgefundene Manuskript des Komponisten durch die Wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz ersteigert werden und liegt nun in einer neuen Edition vor, die von Immanuel Ott, Birger Petersen und Astrid Opitz (Schott Music) präsentiert wurde. Das Werk zeugt in eindrucksvoller Weise vom bemerkenswert facettenreichen Schaffen des Komponisten: Cornelius, der sich selbst als »Dichterkomponist« verstand, war seinen Zeitgenossen ebenso als Poet wie als Musikschriftsteller und Übersetzer, nicht zuletzt aber auch als einflussreicher Lehrer für Harmonielehre und Rhetorik an der Königlichen Musikschule in München bekannt. Vor diesem Hintergrund sah das Tagungsprogramm Blicke aus vielerlei Perspektiven auf das Schaffen des Komponisten vor, die Studien zu Ästhetik, Dichtung, musikalischem Schrifttum und der musikalischen Lehrtätigkeit zusammenführten mit dem Ziel, möglichst unterschiedliche Facetten des vorliegenden Werks zu beleuchten.

Nach der Begrüßung durch Immanuel Ott und Birger Petersen eröffnete Christiane Wiesenfeldt (Heidelberg) die Vortragsreihe mit einem Beitrag über die musikästhetische Streitkultur um 1850. Anknüpfend an die von der zeitgenössischen Kritik getroffene Abgrenzung inhalts- und formalästhetischer Musikauffassungen innerhalb des »Parteienstreits« zeigte sie auf, dass den Argumenten der verschiedenen Richtungen ein genuin romantisches Kunstverständnis zugrunde liegt. Mit der metaphorischen Charakterisierung der Parteienlandschaft als »ein Wald, lauter Bäume« hielt der Beitrag einen roten Faden für den weiteren Verlauf der Tagung bereit: Erst auf der Grundlage der verschiedenen ästhetischen Diskurse und der ihnen eigenen Modellierungen des Romantischen sei demnach ein Raum geschaffen worden, der Realisierungen romantischen Denkens ermöglichte. Anhand von Zeitungsartikeln und Briefen verdeutlichte Wiesenfeldt Cornelius’ eigene ästhetische Auffassung, die von begeisterter Anhängerschaft und Parteinahme für Franz Liszt bis hin zu eigenen Zukunftsentwürfen reichte. Die geschickt ausgewählten Quellen und deren Moderation gaben dabei auch einen Einblick in Cornelius’ pathetische Sprache: Formulierungen wie die Huldigung Liszts als »der Tonkunst Götterhelden« und »seichten Zopfthums Tödter« oder das Selbstverständnis als »inkarnierter Siebenvierteltakt« ließen – auf im besten Sinne unterhaltsame Weise – deutlich werden, dass das leidenschaftliche Eintreten des Komponisten für seine Ideale auch mit einer entsprechenden Prise romantischen Humors einherging.

Der anschließende Beitrag von Immanuel Ott (Mainz) erweiterte anhand der von Cornelius veröffentlichten Rezensionen die Perspektive auf das ästhetische Denken des Komponisten. Als Ausgangspunkt dafür zeigte Ott einen ästhetischen Paradigmenwechsel im ausgehenden 18. Jahrhundert auf, der einem rein vernunftmäßigen Regelwerk des Schönen die Sphäre künstlerischen Empfindens entgegenstellt. Danach widmete er sich der Rezension einer Sinfonie von Richard Wüerst, die Cornelius 1854 in der Neuen Zeitschrift für Musik veröffentlicht hatte und in der er das besprochene Werk als Negativbeispiel einer konservativen und überholten Musikform abtat. Cornelius’ Plädoyer für die von Liszt angestoßenen Bemühungen um eine fortschrittliche Ausrichtung der Komposition zugunsten der programmatischen Sinfonik zeugt von einer romantischen Inspirationsästhetik auf der einen Seite, auf der anderen aber auch von einer kulturhistorisch motivierten Ablehnung der traditionellen Sinfonie, die aufgrund gesellschaftlicher Zwänge die Entwicklung poetischer Gedanken zu sehr einschränke. Auffallend waren die von Cornelius gewählte, im Vergleich zu anderen Autoren nur wenig polemische Darstellung, mit der er Partei für eine programmatische Ausrichtung der Sinfonik bezieht, und die Tatsache, dass einer detaillierten Analyse des rezensierten Werks kaum eine Bedeutung beigemessen wird. Anstelle einer genauen kritischen Betrachtung von Wüersts Sinfonie stellt sich die Rezension vielmehr als eine grundsätzliche Reflexion über die ästhetische Dimension bestimmter und unbestimmter poetischer Empfindungen im musikalischen Schaffen dar, womit dem kompositorischen Prozess vorgelagerte ästhetische Entscheidungen zu Cornelius’ zentralen Qualitätskriterien werden.

Innerhalb einer zweiten Sektion nahmen die Beiträge am Nachmittag stärker das Wirken des Komponisten als Musiktheoretiker, Lehrer und Dichter in den Blick. Ein Vortragspanel der Berner Forscher Michael Lehner, Martin Skamletz und Stephan Zirwes widmete sich zunächst dem musiktheoretischen Schaffen. Skamletz führte zuerst in die Rahmenbedingungen des Berner Projekts zur Unterrichtsforschung ein, bevor Zirwes einen Überblick über das umfangreiche, handschriftliche Unterrichtsbuch gab, das Cornelius hinterlassen hat. Dieses enthält neben den Lehrmaterialien zusätzlich auch analytische Abschriften sowie Umschriften und Gebrauchsmusiken, wodurch sich ein vielgestaltiges Bild von Cornelius’ Lehrtätigkeit und eine annähernd vollständige Rekonstruktion von dessen Harmonielehrgang gewinnen lässt. Eine zentrale Stellung nimmt neben Übungsbeispielen in Form bezifferter Bässe das theoretische Werk Moritz Hauptmanns ein. Dessen naturgesetzliche Auffassung harmonischer Phänomene wurde zur Grundlage des Unterrichts im Fach Harmonielehre und zugleich diente sie dazu, poetische Gehalte musikalischer Werke auf einfache Grundprinzipien zurückzuführen und damit erklärbar zu machen. Außerdem stellten analytische Betrachtungen von Haydns Streichquartetten einen wichtigen Bestandteil des Lehrgangs dar. Daran anschließend nahm Lehner die Hauptmann-Rezeption von Cornelius genauer unter die Lupe. Vor dem Hintergrund, dass Cornelius in München seine erste umfangreichere Lehrstelle an einem größeren Ausbildungsinstitut antrat, waren insbesondere die Zeugnisse interessant, die Cornelius in seinen Briefen über Herausforderungen bei der Hauptmann-Lektüre ablegte. Lehner zeigte außerdem auf, welche Anpassungen Cornelius vornahm, um das Hauptmann’sche System bei der Betrachtung komplexerer Phänomene der zeitgenössischen Harmonik im Unterricht anwenden zu können. Zum Abschluss des Panels demonstrierte Skamletz, wie sich die Beschäftigung mit den betrachteten Quellen in die aktuelle Musikausbildung in Bern integrieren ließ. Anhand von Rekompositionsstudien verdeutlichte er, wie der didaktische Ansatz von Cornelius – nämlich die analytische Zergliederung von Beispielkompositionen als Inspirationsquelle für nachgebaute eigene Kompositionen zu verwenden – zur Gestaltung heutiger Lernszenarien genutzt wurde. Eindrucksvoll war dabei die stilistische Bandbreite der Ergebnisse, die sich von der historischen Vorlage bis hin zu Jazz-Adaptionen der Lyrischen Suite von Alban Berg erstreckte.

Auch Birger Petersen (Mainz) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Lehrtätigkeit von Peter Cornelius und nahm dabei insbesondere dessen Verhältnis zu seinem Münchner Kollegen Josef Gabriel Rheinberger genauer unter die Lupe. Petersens Ausführungen zu den persönlichen Äußerungen, die hauptsächlich von Rheinbergers Frau Franziska in deren Tagebüchern vorliegen, zeigten, inwiefern die Lehrtätigkeit beider Komponisten stärker zum Ausdruck von Konkurrenz als Kollegialität wurde. So empörte sich Franziska Rheinberger darüber, dass Cornelius in einem Zeitungsartikel zugesprochen worden war, in München als erster die »richtige« Lehre in der Tradition Hauptmanns eingeführt zu haben, um süffisant zu bemerken, dass in Wahrheit Rheinberger von Cornelius »dringend gebeten [wurde], ihm zu zeigen, wie man überhaupt unterrichtet!« Wenngleich Cornelius gegenüber dem Ehepaar Rheinberger offenbar einige Vorbehalte hatte, so enthielt die inhaltliche Konzeption der Lehre der beiden durchaus Gemeinsamkeiten, wie Petersen erläuterte. Dabei sei Cornelius stärker als Didaktiker aufgetreten, der – anders als Rheinberger – vornehmlich Schüler im Nebenfach unterrichtete und die Schrift Hauptmanns deshalb umfangreicheren Reduktionen und Adaptionen für das eigene Unterrichten unterzog.

Den Abschluss der Vortragsreihe bildete der Beitrag von Monika Ritzer (Leipzig), die sich der Textvorlage des Melodrams widmete und diese vor dem Hintergrund des besonderen persönlichen Verhältnisses von Peter Cornelius und Friedrich Hebbel untersuchte. Im eingangs zitierten Brief berichtete Cornelius nämlich seiner Schwester: »Die Composition ist mir ganz gut gelungen, während der Arbeit aber hatte ich entmuthigte Stunden. Bei dieser Gelegenheit hatte ich auch einen kleinen Strauß mit Hebbel auszufechten, der eine reizbare, leichtverletzliche Natur ist.« Neben der Betrachtung des wechselhaften Verhältnisses der beiden Künstler würdigte Ritzer detailliert die sprachliche Gestaltung des Gedichts, das während Hebbels Arbeit daran zeitweise den auch in Cornelius' Autograph übernommenen Titel »Mein Wald« trug (anstelle des späteren Titels »Ein Wald«), und ordnete es in das Schaffen des Dichters ein.

Die Tagung endete mit einem Gesprächskonzert, in dem das wiederaufgefundene Melodram gleich zweimal erklang. Sae-Nal Lea Kim und Thomas Hell interpretierten den harmonisch komplexen vierhändigen Klavierpart ausdrucksstark und Nicolas Ries lieh der Dichtung Hebbels mit gleicher Intensität seine Stimme. Zwischen den beiden Aufführungen gab eine Podiumsdiskussion Einblick in die Geschichte des Werkes bis zum Erwerb durch die Stadtbibliothek Mainz und zu der nun vorliegenden Erstedition. Das Publikum erhielt dadurch die Möglichkeit, sich dem Werk zuerst nur übers Zuhören und im Anschluss ein weiteres Mal nach der einführenden Podiumsdiskussion gewissermaßen informiert zu nähern. Dies dürfte nicht nur Cornelius’ ästhetischen Ansinnen Rechnung getragen haben, sondern schaffte auch einen Transfer der während der Tagung diskutierten Inhalte in den Konzertsaal.


Zum Autor

PHILIPP ZOCHA studierte Musiktheorie bei Immanuel Ott und Birger Petersen, Schulmusik (mit Hauptfach Fagott), Latein und Mathematik in Mainz. Er unterrichtet Musiktheorie und Gehörbildung an der Hochschule für Musik Mainz und der Hochschule für Musik Freiburg und ist außerdem als Gymnasiallehrer an der Maria Ward-Schule Mainz tätig. Derzeit arbeitet er an seiner Dissertation über Kompositionsunterricht im 19. Jahrhundert.