Neapolitanische Musikpädagogik im 18. Jahrhundert: Theorie, Quellen und Rezeption
Centro Studi Pergolesi, Università degli studi di Milano
Hochschule der Künste Bern
25.–27.1.2017
Tagungswebseite: http://www.hkb-interpretation.ch/naples
Tagungsprogramm
Lydia Carlisi
Im Rahmen des Projekts »Creating the Neapolitan Canon – Musik und Musiktheorie zwischen Paris und Neapel im frühen 19. Jahrhundert« wurde das Symposium von der Hochschule der Künste Bern in Zusammenarbeit mit dem mailändischen Centro Studi Pergolesi organisiert. Das dreijährige Forschungsprojekt in Bern (2015–2018) hat als Ziel, die französische Rezeption der neapolitanischen Musik und Musiktheorie zu rekonstruieren. Ausgegangen wird dabei von der heute mehrheitlich in Neapel aufbewahrten Sammlung neapolitanischer Musik von Giuseppe Sigismondo (1739–1826) und dessen Kontakten mit den Pariser Musikschulen. Eine zentrale Fragestellung ist dabei, wie die französische Musikpädagogik und Musiktheorie im 19. Jahrhundert von neapolitanischen Unterrichtsmethoden, wie z.B. Partimento und Solfeggio, beeinflusst wurde. Die Doppeltagung mit dem Fokus auf neapolitanischer Musikpädagogik wurde in Mailand begonnen und in Bern fortgesetzt. Giorgio Sanguinetti (Rom) und Rosa Cafiero (Mailand) hatten leider kurzfristig absagen müssen; ihre beiden Vorträge wurden dennoch verlesen und diskutiert.
Nach der Begrüßung der Organisatoren wurde Giorgio Sanguinettis Referat mit dem Titel »Appunti per una teoria degli esemplari: la ›cadenza stabat‹« gelesen. Eine besondere kadenzierende Wendung, die in Pergolesis Stabat Mater mehrmals zu erkennen ist (z.B. in den Takten 8–11 des eröffnenden Duetto), wurde als Modell definiert und durch frühere und spätere Literatur-Beispiele kontextualisiert. Rosa Cafiero versuchte in ihrem Vortrag (»Muscogiuri! Chi era costui? Apprendistato ›secondo la scuola vera di Durante‹ (febbraio 1781–novembre 1782)«), anhand zweier Manuskripte von Biagio Muscogiuri einen neapolitanischen Kompositionskurs der sogenannten ›Durante-Schule‹ in der Nachfolge von Francesco Durante zu rekonstruieren. Muscogiuri war Schüler von Fedele Fenaroli und Giuseppe Gargano, ›secondo maestro‹ am Conservatorio di Santa Maria di Loreto und er dokumentierte, wie alle Musikschüler seiner Zeit, sein gesamtes Musikstudium. Durch diese Sammlungen von Regeln und Übungen kann man sich ein Bild davon machen, was ein junger Komponist in weniger als zwei Jahren gelernt hat. Über die österreichische Rezeption des Partimentos berichtete Ludwig Holtmeier (Freiburg) in seinem Vortrag »Italian Vienna: Emanuel Aloys Förster and the Austrian Partimento-Tradition«. Försters Practische Beyspiele als Fortsetzung zu seiner Anleitung des Generalbasses (1818) markieren den Punkt, an dem die Generalbass-Praxis, analog zur Partimento-Tradition, zur Kompositionslehre wurde. Holtmeier rekonstruierte die pädagogischen Auswirkungen von Försters Modellen als Gerüst der musikalischen Formen im 19. Jahrhundert.
Marco Mangani (Ferrara) präsentierte ein Beispiel der Rezeption von Fenarolis Partimenti aus dem 19. Jahrhundert (»Sopravvivenze ottocentesche: gli studi ›sopra alcuni partimenti di Fenaroli‹ di Luigi Picchianti (Firenze, 1852)«) und betonte, dass zur Zeit von Picchiantis Studi […] sopra alcuni partimenti di Fenaroli Partimenti zunehmend als geschriebene Übungen und nicht mehr als Improvisations-Fäden verwendet wurden. Ein philologischer Ansatz zu ›partimento-studies‹ und insbesonders zu Durantes partimenti diminuiti, die für eine kritische Edition besonders geeignet wären, weil sie mehrere Hinweise zur Realisierung enthalten, wurde von Marilena Laterza (Mailand) in ihrem Vortrag »I partimenti diminuiti di Francesco Durante: esercizi propedeutici per un’edizione critica« vorgeschlagen.
Mit Nicholas Baragwanath (Nottingham) begann eine Reihe Vorträge über das Solfeggio. Er rekonstruierte den dreijährigen Vorbereitungskurs, in dem neapolitanische Schüler vor dem Studium eines Instrumentes und/oder der Komposition unter anderem Notation, Blattsingen, Solmisation und Modulation lernten (»Le note sono sei: Singing the rudiments in Naples«). Eine Analyse von Solfeggi wurde von Roberto Scoccimarro (Köln) präsentiert. Zwei Gruppen von Solfeggi wurden identifiziert: Solfeggi von Nicola Porpora, Riccardo Broschi und Johann Adolph Hasse, die als Vorbereitung der Form der ›Aria col da capo‹ verwendet werden konnten, und Solfeggi von Leonardo Leo, Durante und anderen Maestri, die nicht nur Arien, sondern eine vielseitigere Zusammenstellung von Formen bieten. Das Thema Formenlehre innerhalb der Solfeggi wurde von Markus Neuwirth (Dresden) weiter diskutiert (»Is there an implicit Formenlehre in Fedele Fenaroli’s Solfeggi? On the relationship between formal functions, interpunction models, and voice-leading schemata«). Bei der Formanalyse von Fenarolis Solfeggi entstand die Frage, ob und inwiefern Solfeggi didaktisch auch als eine implizite Formenlehre verwendet wurden. Paolo Sullo (Rom) setzte sich mit dem Thema Modulation innerhalb der Solfeggi im 18. Jahrhundert auseinander (»La modulazione nei solfeggi napoletani del Settecento«) und verglich sie mit anderen zeitgenössischen oder späteren Traktaten, wie Gaspare Selvaggis Trattato di armonia (Napoli 1823), Francesco Azzopardis Le musicien pratique (Paris 1786) und Giovanni Battista De Vecchisʼ Compendio di contrappunto dell’antica e moderna scuola di musica napoletana (Napoli 1850). Der letzte Vortrag am ersten Symposiumstag in Mailand gehörte Peter Van Tour (Leuven). Unter dem Titel »Carlo Cotumacci’s counterpoint treatise: Ideas about its partial reconstruction« stelle er Fragmente von Cotumaccis verlorener Kontrapunktlehre aus Notizen zweier seiner Schüler vor.
Am nächsten Tag begann die bernische Sitzung mit einem Referat von Martin Skamletz (Bern), in dem er ein Manuskript von Jean Baptiste Mathieu vorstellte, bei dem es sich um eine Transkription von Nicola Salas Regole (1794) handelt (»Jean Baptiste Mathieu’s manuscript copy of Nicola Sala’s Regole del contrappunto pratico«). Der Solfège- und Serpent-Lehrer am Pariser Conservatoire hatte diese Kopie bereits 1804 angefertigt, und somit noch früher als die Fassung in Alexandre Étienne Chorons Principes de composition des écoles d’Italie (Paris 1809). Der Beitrag von Claire Roberts (Bern) wurde leider kurzfristig abgesagt. Anschließend stand der Trattato di armonia von Gaspare Selvaggi (1823) im Mittelpunkt von Lydia Carlisis Vortrag (Bern/Freiburg). Eine wichtige Rolle in dieser Schrift spielen die fünfzig verschiedenen Harmonisierungen über Tonleitern. Diverse Beispiele der Dur-, Moll- und chromatischen Tonleiter wurden präsentiert und mit anderen früheren neapolitanischen oder neapolitanisch-französischen Quellen verglichen (»One Canone armonico and fifty other ways of harmonizing a scale in Gaspare Selvaggi’s Trattato di armonia (1823)«).
Mit seinem Vortrag über den Leiter des Pariser Conservatoire zwischen 1822 und 1842, Luigi Cherubini, bot Sean Curtice (Evanston, IL) eine Einführung in die französische Partimento-Tradition (»Luigi Cherubini and the French Partimento Tradition«). Curtice betonte die Modifizierung der Partimenti im 19. Jahrhundert in Frankreich im Vergleich zu den Partimenti der neapolitanischen Schule. Johannes Menke (Basel) befasste sich mit der Rezeption der Partimento-Tradition im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum. Unter dem Titel »Zwei Beispiele deutscher Partimento-Rezeption im 19. Jahrhundert: Siegfried Dehn und Richard Wagner« zeichnete Menke anhand einiger aufschlussreicher Beispiele von Dehn und Wagner den Partimento-Einfluss auf deutsche Musik um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach, bei ersterem innerhalb einer theoretischen Schrift, bei Wagner im kompositorischen Zusammenhang. Giulia Giovani (Bern) präsentierte in ihrem Beitrag die Sammlung von Partituren, die Rudolphe Kreutzer im Jahr 1800 in Neapel für die Bibliothek des Pariser Conservatoire gekauft hatte und die von der Referentin durch Archivarbeit in Neapel und Paris rekonstruiert werden konnte (»How to build a music library collection: the French diplomatic mission in Naples in 1800«).
Die letzte Sitzung begann mit der Buch-Präsentation von Giuseppe Sigismondos Apoteosi della musica del Regno di Napoli (hg. von Claudio Bacciagaluppi, Giulia Giovani und Raffaele Mellace, Rom: Società Editrice di Musicologia 2016). Das Buch, welches im selben Verlag und Jahr auch auf Englisch erschienen ist (Apotheosis of Music in the Kingdom of Naples), wurde von Claudio Toscani (Mailand) vorgestellt. Das Werk ist in vier Bände geteilt. Der erste Band enthält die musikalische Autobiographie Sigismondos, Notizen über geistliche Musik und die Oper sowie einen Beitrag über die ›Dekadenz der Musik‹ im Neapel des 19. Jahrhundert. Im zweiten Band sind ist die Geschichte der ersten öffentlichen Bibliothek Neapels (am Conservatorio della Pietà dei Turchini) und der vier Conservatorii der Stadt und ihrer Maestri dargestellt. Die übrigen zwei Bände enthalten Elegien der wichtigste Meister der neapolitanischen Schulen wie z.B. Leo, Durante, Sala und Pasquale Cafaro.
Ein zweiter Beitrag von Rosa Cafiero (Mailand) wurde dank einer Audiokonferenz mit der Referentin ermöglicht. Cafiero widmete sich dabei Raffaele Carli (1764–1827), einem neapolitanischen Verleger, der in Paris tätig wurde. Zu seinem Kreis gehörten verschiedene neapolitanische Musiker, die nach Paris geflüchtet waren, und der Katalog seiner Tipografia della Sirena könnte als ideelles Modell der neapolitanischen Schule verstanden werden (»›Ils s’exerçaient en même temps à écrire la musique, en copiant leurs leçons, ou celles des autres; et par cet moyen, les principes et les règles de l’art se gravaient dans leur esprit‹. Neapolitan music collectors, scholars, copyists, amateur musicians and publishers in Paris (1795–1820)«). Zum Abschluss machte Nathalie Meidhof (Freiburg) auf die große Bedeutung Chorons für die Verbreitung neapolitanischer Autoren in Paris am Anfang des 19. Jahrhunderts aufmerksam (»Neuausgabe oder Umarbeitung? – Alexandre Étienne Chorons Beitrag zum Kulturtransfer zwischen Neapel und Paris«).
Das große Interesse an Partimenti, Solfeggi und historischen Improvisations- und Kompositionslehren fördert diese immer lebendigere Forschungsrichtung. Der Hochschule der Künste Bern und dem Centro Studi Pergolesi sind für die hervorragende Organisation dieser Veranstaltung zu danken. Eine Publikation der gehaltenen Vorträge in einem Kongressbericht ist für Ende des Jahres 2017 geplant.