Das Klavierwerk György Ligetis
Hochschule für Musik Mainz
24.2.2019
Maren Wilhelm
Die 18 Etudes pour piano von György Ligeti gehören zu den bedeutendsten, meistgespielten und bestverkauften Beiträgen zur Klavierliteratur des ausgehenden 20. Jahrhunderts – dass sie bei ihrem Erscheinen zunächst als unspielbar galten, bezeichnete Peter Hanser-Strecker, Leiter des Schott Verlags, im Podiumsgespräch schmunzelnd als einen »guten Werbeeinfall«. Die Mainzer Musikhochschule widmete daher dem Klavierwerk Ligetis am 23. und 24. Februar dieses Jahres eine bemerkenswert anregende Veranstaltungsreihe, die gleichermaßen das Werk wie die Person Ligetis in den Blick nahm: mit einer Meisterklasse bei Thomas Hell, zwei Konzerten (»Ligeti und der Jazz« mit Thomas Hell und Sebastian Sternal sowie »Anforderungen an das Gehirn eines Pianisten Ligetis Etüden vortragend« mit Thomas Hell und Eckart Altenmüller von der HMTM Hannover), einem Podiumsgespräch samt Matinee (»Weggefährten erzählen«, mit Sidney Corbett, Heidy Zimmermann von der Paul Sacher Stiftung Basel und Peter Hanser-Strecker vom Schott Verlag, moderiert von Thomas Hell) sowie einem wissenschaftlichen Symposium am Sonntag nachmittag.
Heidy Zimmermann, mit der Nachlassverwaltung der allein an Musikmanuskripten ca. 25.000 Seiten umfassenden Ligeti-Sammlung der Paul Sacher Stiftung betraut, eröffnete mit ihrem Beitrag die Vortragsreihe des kleinen Symposiums. Im Zentrum ihrer Betrachtung standen die elf Stücke der Musica ricercata als »einem frühen Gegenstück«, genauer: als »Prototyp« für Ligetis Spätwerk, den in zwei Bänden erschienenen 18 Etüden für Klavier. Sie machte zunächst auf ein in diesem Zusammenhang interessantes Detail aufmerksam: Auf der ersten, aus dem Frühjahr 1953 stammenden Partiturreinschrift der Musica ricercata findet sich auf dem Umschlag unterhalb des Titels die Bemerkung »tanulmány«, ungarisch für »Studien« oder »Etüden«. Überzeugend führte sie an ausgewählten Stücken der Musica ricercata daraufhin aus, dass Ligeti hierbei weniger auf den Gattungsbegriff als spieltechnische Problemstellung abgezielt haben dürfte, als vielmehr auf eine an sich selbst gestellte kompositorische Aufgabe, nämlich mit reduziertem Material zu experimentieren, auf der Suche nach einer eigenen, neuen Tonsprache jenseits des Bartók‘schen Erbes. Dieses Spiel vor allem mit der Tonhöhenorganisation binde zum einen älteres Material mit ein (wie die Sonatine für Klavier vierhändig aus dem Jahr 1950) und verweise zum anderen in ihrer technischen Umsetzung bereits auf spätere Werke (wie Continuum und die Klavieretüden).
Eindrucksvoll in ihrer persönlichen Färbung waren die Anmerkungen Sidney Corbetts zum Lehrer Ligeti und zum Kontext seiner Werke. Mit dem Horntrio von 1982 rückte er zunächst jenen Wendepunkt im Schaffen Ligetis in den Blickpunkt, der den Beginn des Spätwerks markieren sollte. Ligeti, der sich, so Corbett, mit dem Horntrio selbst als »Zaungast der Avantgarde« bezeichnete, fand hier zu einer »Sprache des Ausdrucks« und einer »neuen Art von Gestik«. Für die Etüden im engeren Sinn, den zentralen Gegenstand des gesamten Wochenendes, benannte Corbett die bekannten Inspirationsquellen: Die Entdeckung der Musik Conlon Nancarrows und diejenige der Musik Zentralafrikas mündeten in ein neues Konzept von Geschwindigkeit, Virtuosität und Überlagerungen. Er verdeutlichte dabei, dass nicht musikethnologische Studien um der Authentizität des Gegenstands willen im Vordergrund gestanden hätten, sondern vielmehr Ligetis Vorstellungen von Weltmusik Eingang in sein Werk fanden, dass demnach seine individuelle Lesart wichtig für sein eigenes Komponieren gewesen sei: »Ligeti suchte Rohmaterial, um dahin zu kommen, wo er hin wollte.« Im Podiumsgespräch hatte Corbett bereits lächelnd bemerkt: »Er war ein bisschen wie ein Vampir«. Als weiterer Bezugspunkt kam die Musik des Mittelalters hinzu, zuvorderst diejenige von Guillaume de Machaut. Die Hamburger Studenten, so Corbett, hätten das Notenmaterial, das sie durch Ligeti erhielten, unter der Hand weitergegeben und einen Prozess in Gang gesetzt, der bis heute nachwirke, wie Oliver Korte bestätigte.
Birger Petersens Interesse richtete sich im Folgenden auf den Kontext der beiden Orgeletüden Ligetis. Harmonies (1967) und Coulée (1969) bedienen, fasst man die Gattungsgeschichte der Etüde ins Auge, gleichsam eine Randerscheinung. Ist die Etüde allgemein als technische Fertigkeitsübung zu unterscheiden von der Vortragsetüde, der Konzert-Etüde sowie der im 20. Jahrhundert hinzukommenden kompositionstechnischen Studie, so findet die ›Etüde für Orgel‹ als spezifische Ausprägung in keiner Gesamtdarstellung zur Gattung eine nähere Erläuterung, wie Petersen einleitend darlegte. Gut zwanzig Jahre vor Ligetis Orgeletüden lieferte die französische Komponistin und Organistin Jeanne Demisseux mit der Etüdensammlung Six Etudes op. 5 (1944) einen Beitrag zur Gattung, der zum technisch Anspruchsvollsten der Orgelliteratur zählt. Die beiden Orgeletüden Harmonies und Coulée können ihrerseits, wie Petersen formulierte, als »Scharnier in Ligetis Schaffen« verstanden werden. Harmonies beruht auf einem zehntönigen symmetrischen Akkord, der durch seine Schichtung in Terzen und Sekunden mit zwei Tonverdopplungen acht unterschiedliche Tonqualitäten aufweist. Der Ambitus, der über den Verlauf der Komposition sukzessive erweitert wird, erreicht am Ende wieder seinen Ausgangspunkt. Durch die spezifische Spielkonfiguration, bei der durch den zehntönigen Ausgangsakkord alle Finger zum Einsatz kommen und sich pro Takt ein Ton respektive Finger weiter bewegt, gehöre Harmonies (wie auch das 2. Streichquartett oder Ramifications) zu jenen Stücken, die mit Ligetis vielzitiertem Bild harmonischer Netzstrukturen in Verbindung stehen. Weitere Besonderheiten des Werks sind die variable Dauer der einzelnen Takte sowie, neben der Registrierung, Ligetis umfangreiche Anweisungen, die Farbe des Klanges durch Windreduktion zu verfremden. Coulée weist eine markante Nähe zu der Cembalo-Komposition Continuum auf, handelt es sich doch um eine rasende Geschwindigkeits-Studie. Birger Petersen unterstrich, dass diese Phase, »in der Ligeti Netzwerkstrukturen als diastematisches Fundament seiner Kompositionen entwickelte«, eine wesentliche Vorarbeit für die Klavieretüden gewesen sei und verwies im Hinblick auf den Umgang mit Skalenmaterial in Désordre zudem vergleichend auf die polymodalen Strukturen in den Werken Jeanne Demissieux'.
Polymodalität bzw. die Suche nach einer neuen Tonalität oder Modalität, die Ligeti seit den 1980er Jahren verfolgte, war auch die zentrale Ausgangsfrage, die Volker Helbing in Bezug auf Ligetis elfte Etüde, En suspens, beschäftigte. Er verdeutlichte zunächst an mehreren Beispielen, auf welche Weise Ligeti eine scheinbar äquidistante Intervallik erzeugt, die weder auf Chromatik noch auf Ganztönigkeit beruht, sondern auf komplementären Skalen: Werden in der ersten Etüde, Désordre, und in der zehnten, Der Zauberlehrling (hier zu Beginn des 2. Teils), die schwarzen und weißen Tasten auf die beiden Hände verteilt, also Diatonik und Pentatonik kombiniert – ähnlich auch im 1. Satz des Violinkonzerts (zu Beginn und ab T. 34) –, so basiert die siebte Etüde, Galamb Borong, auf zwei komplementären Ganztonskalen. Am Anfang des Klavierkonzerts und in den Etüden Nr. 11 und 12 (Entrelac und En suspens) werden zwei komplementäre diatonische Hexachorde in- und gegeneinander gesetzt: Im Klavierkonzert und Entrelac ein lydisches und ein dorisches Hexachord im Abstand einer großen Terz, in En suspens zwei durale Hexachorde im Tritonusabstand. Helbing konzentrierte sich anschließend auf zwei Stellen in En suspens und richtete den Fokus, nach einem Überblick über die den beiden Passagen zugrunde liegende polyrhythmische Schichtung, auf die Harmonik. Ausgangspunkt war das von ihm konstatierte paradoxe Phänomen, dass sich zwei separate – und als solche durchaus wahrnehmbare – diatonische Schichten zum quasi durchgängig chromatischen Total ergänzen, und sich dennoch, aller Widersprüche zum Trotz, gewissermaßen eine Tonalität auf höherer Ebene einstellt. In seiner faszinierenden Analyse, die hier nur auf ein Minimum reduziert zusammengefasst werden kann, zeigte Helbing en détail, wie sich die beiden in Rede stehenden Abschnitte (T. 1-8 und der Beginn des 3. Teils, T. 27-30) unterscheiden: Der erste weist an markanten formalen Positionen (bei Zäsuren und Anfängen) diatonische Klänge mit Erweiterungstönen, an den Enden der beiden Halbsätze sogar tonale Halbschlüsse auf. Die polymodale Binnen-Klanglichkeit verwendet mit Oktatonik, alternierender Sechsstufigkeit und akustischer Skala symmetrische Materialstrukturen. Die zweite Passage geht von einem ausdifferenzierten polymodalen Changieren (T. 27) über in eine nicht nur von den Lagen der Hände her getrennte Schichtung, sondern auch in eine durch die bestimmenden tritonischen Verhältnisse in der Vertikalen wahrnehmbare Bimodalität. Ausgehend von einem »Zusammenwirken vieler, häufig zueinander querständiger Einzelklänge zu einer schillernden Gesamtfarbe« bei Ligeti spannte Volker Helbing einen assoziativen Bogen zur Maltechnik der Neoimpressionisten um Georges Seurat.
Indem Oliver Korte die Bedeutung der ›Alten Musik‹ für das Komponieren Ligetis zum Gegenstand seines Vortrages machte, knüpfte er zugleich an den Beginn des Symposiums, nämlich an die Beiträge von Heidy Zimmermann und Sidney Corbett an. An ausgewählten Beispielen ging er der Frage nach, auf welche Weise Ligetis »durch und durch synkretistisch« geprägtes Musikdenken die unterschiedlichsten Elemente zu etwas individuell Neuem »amalgamierte« und Älteres oder Musikfremdes rezipierte, um die entdeckten Techniken für sein eigenes Schaffen fruchtbar zu machen (hier sei noch einmal an Sidney Corbetts »Vampir« erinnert). Dabei orientierte er sich an den eigenen Äußerungen Ligetis und verfolgte die Rolle der Alten Musik in Ligetis unterschiedlichen kompositorischen Schaffensphasen. Beeinflusste Frescobaldis Soggetto aus dem Recercar cromaticho der Missa degli apostoli Ligetis Hommage a Girolamo Frescobaldi, die, zunächst als Orgelstück konzipiert, in überarbeiteter Form als letztes Stück in die Musica ricercata einging, so ist es Ende der 1950er Jahre Johannes Ockeghem, der nach Ligetis Angaben zum Impulsgeber wurde. Als möglichen konkreten Bezugspunkt benannte Korte hier den 36-stimmigen Kanon Deo gratia und zeigte an Ligetis Requiem verwandte Züge sowohl zu den Techniken Ockeghems als auch zu Musica ricercata XI auf. Zugleich verdeutlichte er den Entwicklungsschritt zu den Werken der 1960er Jahre: »Doch aus Polyphonie wird Mikropolyphonie, Ligetis Pseudo-Frescobaldi-Soggetto versinkt in einem quasi Ockeghem-Kanon.« Anschließend folgte ein Blick auf Jacob de Senleches, Guillaume de Machaut und Josquin Desprez. Die komplexen rhythmischen Strukturen bei Senleches, veranschaulicht an dessen Ballade Je me merveil, führten zu einem Vergleich mit Autumne à Varsovie aus dem ersten Band der Etüden. Neben dem Aspekt der ›Illusionstemposchichten‹ wies Oliver Korte auf eine für Ligeti typische melodische Gestalt hin, nämlich »chromatische Fächerfiguren«, ein »echtes Kontinuum im Ligeti’schen Schaffen über alle Paradigmenwechsel hinweg«. Den Prozess der oben angesprochenen ›Amalgamierung‹ konkretisierte er am zweiten Satz des Violinkonzerts, der sich auf Machauts Hoquetus David bezieht. Wird hier das technische Verfahren des Hoquetus zwar nahezu im Sinne einer Stilkopie umgesetzt, so erscheint bei Ligeti aber das klangliche Resultat durch die Wahl des Tonmaterials, der Instrumentation inklusive Spieltechniken sowie des Tempos völlig neu: »Ligetis Hoquetus klingt wie ein geschäftiges, fast hysterisches Gezwitscher.« An White on White, der 14. Etüde, lassen sich Einflüsse der Komponistengeneration um Josquin ablesen. Neben Notenbild und Tonvorrat wies Korte im ersten Teil der Etüde auf das zugrundeliegende Prinzip der »fuga ad minimam« hin, auch hier überlagert durch Verfremdendes, und zwar durch Zusatztöne, die den Satz anreichern und einen konstant hohen Dissonanzgrad bewirken. Als Resümee seines anschaulichen Exkurses bilanzierte Oliver Korte, dass der Einfluss der alten Musik zum einen ein konstanter Faktor im Schaffen Ligetis gewesen sei, zum anderen gerade an stilistischen Wendepunkten als »Katalysator zur Schaffung des Neuen« fungiert habe.
Der rundum gelungene Nachmittag an der Mainzer Musikhochschule weckt Erwartungen an kommende Veranstaltungen.