Kontrapunkt-Traditionen (II) – Lokale Traditionen und Schulen im 19. Jahrhundert
Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Hochschule für Musik
23.–24.11.2023
Tagungsprogramm
Antonio Kapper, Robert Martin
Nachdem bereits im Juni 2023 die erste Veranstaltung der Symposienreihe in Wien einen Blick auf die kontrapunktischen Traditionslinien des 18. Jahrhunderts, ausgehend vom für die Musiktheorie zentralen Fux’schen Traktat Gradus ad Parnassum, geworfen hatte, trafen sich Ende November 2023 einige Forschende der musikalischen Wissenschaften, um die Entwicklungen im Bereich Kontrapunkt – gewissermaßen chronologisch – im 19. Jahrhundert mit einer näheren Betrachtung der Kontrapunktlehre an den sich in dieser Zeit im deutschen Sprachraum etablierenden Konservatorien und Hochschulen weiterzuverfolgen. Dabei präsentierten die Vortragenden nach dem eröffnenden Überblick über die kontrapunktischen Studieninhalte an 16 ausgewählten deutschsprachigen Musikausbildungsstätten durch Luisa Klaus (Bremen) zumeist lokal begrenzte Betrachtungen von konkreten Musikausbildungsinstitutionen im deutschen Sprachraum, nämlich denen in Leipzig (Gesine Schröder), Berlin (Florian Edler), München (Juliane Brandes) sowie in Frankfurt am Main (Fabian Kolb), und des jeweiligen musiktheoretischen Lehrkörpers. Quasi als Ausblick auf den dritten Teil der Symposienreihe, der vom 6. bis 8. Juni 2024 am Mozarteum in Salzburg stattfinden wird und sich insbesondere mit Fragen der Internationalisierung im angelsächsischen und nordeuropäischen Raum auseinandersetzen soll, kann der Vortrag von Vivian Domenjoz (Bern) verstanden werden, der sich in seinem Dissertationsprojekt und eben auch am Abend des ersten Symposiumstags mit der Kontrapunktlehre am Pariser Conservatoire und insbesondere mit Luigi Cherubini als Lehrkraft an dieser Institution befasste.
Eröffnet wurde das Symposium durch eine kurze Begrüßung von Birger Petersen (Mainz), der neben Yvonne Wasserloos (Salzburg) und Patrick Boencke (Wien) sowie mit Unterstützung von Henrik Schuld für die Konzeption, Organisation und Durchführung der Veranstaltung in Mainz verantwortlich war. Er ließ zunächst den bisherigen und auch noch geplanten Verlauf der Veranstaltung Revue passieren, ordnete die anstehende Tagung ein und hob die Bedeutung des 19. Jahrhunderts für den Kontrapunkt als institutionalisiertes Fach an akademischen Musikausbildungsstätten sowie dessen Umsetzung in entsprechende gedruckte Lehrwerke durch die Lehrenden der Zeit hervor.
An diese Ausführungen knüpfte Luisa Klaus nahtlos mit einem Überblick über die Kontrapunktlehre an 16 deutschsprachigen Hochschulen im 19. Jahrhundert an. Sie bezog sich dabei insbesondere auf die umfangreichen, am Sophie Drinker Institut getätigten Forschungen zur Geschichte der Konservatorien im deutschen Sprachraum, die sich im Handbuch Konservatorien versammelt finden, setzte aber mit umfassenden tabellarischen Übersichten zu den einzelnen Institutionen, die bei der Tagung eingesehen werden konnten, einen speziellen Fokus auf den musiktheoretischen Unterricht und die aus den Curricula zu rekonstruierenden Inhalte. Es gelang Klaus hier, ein differenziertes Panorama der Konservatorienlandschaft zu zeichnen, auf das sich die vielen institutionsbezogenen Vorträge mit ihren individuellen Schwerpunkten immer wieder zurückspiegeln und in dem sich die jeweils gewonnenen Erkenntnisse kontextualisieren ließen. Die umfangreiche Quellenbasis wurde von Klaus entlang einiger Stränge genauer untersucht; die entsprechenden Ergebnisse seien hier kurz rekapituliert: Zunächst konnte Klaus nachweisen, dass sich an den deutschsprachigen Musikausbildungsstätten – analog zum Vorbild der renommierten Konservatorien in Paris und Leipzig – eine Trennung von Harmonielehre und Kontrapunkt etablierte, wobei erstere zumeist in größeren Gruppen den Unterricht in letzterem vorbereitete. Es wurde aber auch deutlich, dass es vielfach Ausnahmefälle gab, in denen die Fächer vermischt wurden, was häufig an den Konzepten bestimmter Lehrer festgemacht werden konnte. Zudem konnte Klaus nachweisen, dass Analyse im Curriculum der betrachteten Musikausbildungsstätten kaum eine Rolle spielte. Sie verwies weiterhin auf die Bedeutung des Generalbasses im Kontext der Harmonielehre, aber eben auch in der Kontrapunktlehre. Zum Schluss zeigte sie noch auf, dass insbesondere die Begrifflichkeiten Moritz Hauptmanns in den Curricula, aber auch teilweise in den diesen beigegebenen Literaturlisten nachzuweisen sind und, zumeist über seine Schüler vermittelt, eine weite Verbreitung fanden.
Nach einer kurzen Kaffeepause mit guten Gesprächen nahm Gesine Schröder (Leipzig/Wien) die Zuhörenden in einem weitgehend freien und zugleich lebendigen Vortrag auf eine Reise durch die Kontrapunktlehrwerke verschiedener Leipziger Musiktheoretiker mit: Hauptmanns Kontrapunktunterricht ließ sich anhand der von Ernst Rudorff postum herausgegebenen Aufgaben für einfachen und doppelten Contrapunkt rekonstruieren, wobei es sich hier zumeist um relativ typische cantus-firmus-Aufgaben des Gattungskontrapunkts mit kurzen Arbeitsanweisungen handelte. Schröder wies insbesondere auf Hauptmanns recht individuelle Kontrapunkt-Definition hin, welche neben dem Gegensatz der kontrapunktierenden Stimmen auf melodischer und rhythmischer Ebene auch einen metrischen Widerspruch fokussierte. Hauptmanns gesteigertes Interesse an kontrapunktischen Verfahren und Spielereien verdeutlichte Schröder an dessen 25 Album-Canons und dem von ihm verfassten Vorwort zu einer Ausgabe von August Alexander Klengels Kanons und Fugen in allen Dur- und Moll-Tonarten, die Hauptmann aufgrund ihrer kontrapunktischen Virtuosität und wohl auch aufgrund ihres Rätselcharakters sehr lobte. Hinsichtlich des Kontrapunktunterrichts von Ernst Friedrich Richter wurde auf die weitgehend traditionelle, etwas reduzierte Gattungslehre, die doch deutlich in seinem Kontrapunkttraktat wiederzufindende unterrichtsmethodische Komponente sowie auf seine kritische Betrachtung verschiedenster Literaturbeispiele hingewiesen. Im Gegensatz dazu strebte der nicht am Leipziger Konservatorium lehrende, aber in der Stadt ansässige Johann Christian Lobe eine Reform der Kontrapunktlehre an, was sich nicht zuletzt in der für die Zeit ungewöhnlichen Struktur seines vierbändigen Lehrbuchs der musikalischen Komposition widerspiegelte, dessen dritter Teil nämlich Fuge, Kanon und doppelten Kontrapunkt in einem Band zusammenfasste. Dabei strebte er die Abstraktion der Fugenkomposition aus den vorliegenden Werken Johann Sebastian Bachs an und reduzierte hierbei seine Betrachtungen – unter Auslassung der etablierten musikanalytischen Fachterminologie – auf die vielfältigen Imitationsmöglichkeiten. Für Salomon Jadassohn war die Beschäftigung mit Kontrapunkt insbesondere dadurch motiviert, dass so die Kunstwerke Bachs und seiner Zeit besser verstanden werden könnten. Am Beispiel von Stephan Krehl und dessen Schüler Franciszek Brzeziński gelang es Schröder, die Bedeutung der Verbindung von Kompositionspraxis in Form von Charakterstücken mit den kontrapunktischen Techniken am Ende des 19. Jahrhunderts hervorzuheben. In eine ähnliche Richtung zielt Hugo Riemanns Kritik an den von Hauptmann noch als beispielhaft hervorgehobenen Kanons von Klengel, die er für zu schematisch und zu wenig phantasievoll hält.
In Florian Edlers (Bremen) Vortrag wurden dann zwei Traditionslinien der Berliner Kontrapunktlehre aufgearbeitet: Ausgehend von einem Vergleich der Betrachtungen Heinrich Bellermanns und Siegfried Dehns zu Bach’schen Fugen im Kontext von deren jeweiligen Kontrapunkttraktaten, in dem schon erste Unterschiede bei der Bewertung der historischen Bezugspunkte deutlich wurden, kristallisierten sich im Vortrag die unterschiedlichen Positionen der beiden und ihrer jeweiligen Lehrer heraus. Obwohl sich beide Theoretiker auf historische Entwicklungen beziehen, bewertet Dehn die kontrapunktische Tradition des 16. Jahrhunderts als ›Kultur der Reglementierung‹ noch eher negativ, während Bellermann die Bach‘schen Fugen aufgrund der stärkeren Abweichung vom Prinzip der tonalen Einheit als Ergebnis eines ›Dekadenzprozesses‹ begreift. Bernhard Klein, der Lehrer Dehns, betont den Unterschied zwischen strenger und freier Schreibart, wobei erstere deutlich stärker reglementiert sei, weitgehend diatonisch funktioniere, dem kirchlichen Kontext und damit der Gebrauchsmusik zugeordnet sei, während letztere der Komposition und damit der Vorstellung von absoluter Instrumentalmusik nahestehe und im Kontrapunktunterricht anzustreben sei. Modalität spielte hierbei eine untergeordnete Rolle, da sie lediglich noch für die Harmonisierung alter Choräle in der kirchenmusikalischen Praxis gebraucht wurde. Im Gegensatz dazu stellte sich Eduard Grell, der Lehrer Bellermanns, auf die Seite der Vokalmusik und wurde von Edler als wichtiger Vorreiter der Alte-Musik-Bewegung im 19. Jahrhundert charakterisiert. Ein zentraler Punkt war für ihn die Förderung des A-capella-Gesangs. Zudem versuchte er, die Harmonik aus der Kombination kontrapunktischer Verhältnisse herzuleiten. Auffallend war, dass sich gerade mit Grell und Bellermann ein historistischer Kontrapunkt am königlichen Institut für Kirchenmusik sowie der Universität etablierte und so in Konkurrenz zur Lehre an der Berliner Hochschule für Musik trat. Darüber hinaus konnte Edler die Schulbildung in Sachen Kontrapunkt am Beispiel der beiden Zelter-Schüler Klein und Grell durch den Blick auf wiederum deren Schüler deutlich machen.
Zum Abschluss des intensiven ersten Symposiumstages wurde Vivian Domenjoz über eine Videoplattform dazugeschaltet, um über sein aktuelles Dissertationsprojekt zu berichten und das bis dahin Gehörte mit Betrachtungen zu Cherubini und dem Pariser Conservatoire um eine internationale Perspektive zu erweitern. Zunächst wies Domenjoz auf die Problematik des Kontrapunkt-Begriffs in der Gründungszeit des Conservatoire hin, der ein Begriffsspektrum von Komposition im Allgemeinen über Satztechnik bis hin zu speziellen Stimmführungsregeln annehmen konnte. Diese begriffliche Unklarheit stand sicherlich im Zusammenhang mit der fehlenden Kontrapunkt-Praxis in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts: Dies zeigte sich sowohl darin, dass es kaum entsprechende umfassende Veröffentlichungen gab, als auch in der Beschränkung der Chant-sur-le-livre-Praxis auf schlichte Note-gegen-Note-Improvisationen, in einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der reinen Instrumentalmusik und damit auch dem Kontrapunkt. Domenjoz fasste zusammen, dass Kontrapunkt in den Revolutionsjahren als »Synonym für strenge Stimmführung in der Harmonielehre und in harmonischen Übungen« verstanden wurde. Die Französische Revolution prägte die Gründungszeit des Conservatoire insofern, als diese Institution auf rationalen Prinzipien fußen sollte und der neuen Zeit entsprechend auch aktueller Lehrwerke bedurfte. In diesem Kontext trat auch Cherubini erstmals in Erscheinung; er war nämlich für die Erstellung von Lehrbüchern sowie die Überwachung des Unterrichts in seiner Funktion als einer von fünf Unterrichtsinspektoren verantwortlich. In dieser Frühphase des Conservatoire gab es gerade im musiktheoretischen Lehrkörper auch Diskussionen darüber, ob man überhaupt noch Kontrapunkt lehren solle. Schließlich setzte sich aufgrund von Verkleinerungen des Lehrkörpers zugunsten der kontrapunktfreundlichen Fraktion die klassische hierarchische Struktur des musiktheoretischen Studiums mit der Abfolge Harmonielehre – Kontrapunkt – Komposition durch. Dem Kontrapunkt-Unterricht seiner Kollegen steht Cherubini von Anfang an skeptisch gegenüber: Insbesondere den Unterricht Anton Reichas will er einschränken und lässt daher zunächst François-Joseph Fétis ein entsprechendes Kontrapunkt-Traktat in seinem Sinne für die Lehrbuch-Sammlung des Conservatoire verfassen. Ein eigenes kontrapunktisches Lehrkonzept Cherubinis lässt sich aber aus Aufzeichnungen von Privatschülern bereits ab 1807 rekonstruieren. Zu einer Veröffentlichung kam es jedoch erst deutlich später, was nicht zuletzt zu einer teils fehlerhaften Rezeption der Schrift geführt hat und erst in der jüngeren Vergangenheit durch entsprechende Forschungen korrigiert werden konnte. Cherubinis Cours de contrepoint umfasst einen systematisch aufbauenden Kurs mit vielfältigen kontrapunktischen Aufgaben.
In seinem Vortrag Zum Kontrapunkt-Unterricht am Dr. Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Main 1878–1918 stellte Fabian Kolb (Frankfurt a. M.) am nächsten Morgen die sich durch wechselnde Direktoren stetig entwickelnde und spezialisierende Kontrapunktlehre in Frankfurt vor, deren Wirkungen bis weit ins 20. Jahrhundert zu erkennen sind und sich etwa bei Paul Hindemith niederschlugen (unter anderem in seinen Fugen aus dem Zyklus des Ludus tonalis von 1942). Zu Beginn des Vortrags stellte Kolb Joachim Raff vor, der am 1878 gegründeten Frankfurter Konservatorium die Etablierung einer akademischen Kontrapunktlehre förderte, während er als Gründungsdirektor neben Franz Magnus Böhme und Anton Urspruch auch selbst zu unterrichten begann. Bei der Ausrichtung des Kontrapunktunterrichts entschied sich Raff ungewöhnlicherweise gegen die Lehrmethoden einiger seiner (teils auch Frankfurter) Kollegen und griff auf die zu seiner Zeit kürzlich erschienenen Lehrbücher Ludwig Busslers zurück. In Der strenge Satz (1877) und Contrapunct und Fuge im freien (modernen) Tonsatz (1878) beruft sich Bussler, der seine musiktheoretische Ausbildung bei Dehn erhalten hatte, wie sein Lehrer beim strengen Satz auf Palestrina und Lasso sowie für den freien Satz auf Bach, Marpurg und Kirnberger. Diese konservative Grundhaltung, gepaart mit einer von Bussler konzipierten didaktischen Strukturierung des Lehrstoffes, überzeugten Raff und gaben den Kurs der Frankfurter Kontrapunktlehre bis zu seinem Tod im Jahr 1882 vor, woraufhin Bernhard Scholz das Direktorenamt übernahm und der Kontrapunktlehre am Frankfurter Konservatorium neue Impulse gab. Unter der neuen Leitung kam es zu einer gezielten Spezialisierung des Kontrapunktunterrichts, die sich unter anderem in der Umsetzung eines neuen Lehrplans und in der Einrichtung einer eigenen »Theorieschule« zeigte. Zählte die Lehre des Kontrapunkts unter Raff noch zu einer Grundkompetenz der musikalischen Ausbildung, so war nun eine zunehmende Profilbildung zu beobachten. Es sollten etwa »alle Schüler der Anstalt […] bis zur selbstständigen Begleitung einer gegebenen Melodie geführt werden, während das Studium des Contrapunkt und der eigentlichen Compositionslehre nur mit den dazu Begabten betrieben wird.« Ein weiterer einschlägiger Aspekt der Neuausrichtung durch Scholz war die Wahl eines neuen Lehrbuchs. Statt der Lehrschrift Busslers griff Scholz nun auf das sperrigere und gewichtigere Werk Dehns zurück, bei dem Scholz 1855/56 in Berlin Komposition studiert hatte und dessen Kontrapunktlehre er als einer seiner letzten Schüler nach dessen Tod herausgab. Die Wahl des neuen Lehrbuchs zeigte durchaus Auswirkungen auf den Kontrapunktunterricht am Hoch’schen Konservatorium. Zwar waren inhaltliche und didaktische Unschärfe wie etwa unkonkrete Übungsaufgaben oder mangelnde Erläuterungen zu praktischen Umsetzungen in Dehns Lehrschrift erkennbar, doch vor allem entsprach die vorgegebene Richtung durchaus Scholz’ konservativer Haltung. So sollten »die Zöglinge […] mit dem Besten, für alle Zeiten Mustergültigen, genährt werden«. »Gute Traditionen zu wahren, in Liebe und Ehrfurcht das herrliche Erbe zu pflegen, welches die hohen Meister unserm Volke hinterlassen haben«, sei der Beruf eines Konservatoriums. Dehns Lehrwerk sollte lange Zeit prägend für die Kontrapunktlehre des Frankfurter Konservatoriums sein. Symptomatisch dafür ist auch Scholz’ eigene Kontrapunktlehre, die 1904 im Druck erschien und bei analogem Aufbau zu Dehns Lehrbuch vor allem versuchte, dessen didaktische Defizite auszugleichen. Während unter Scholz kontrapunktische Phänomene auch anhand von Bachs Wohltemperiertem Klavier betrachtet wurden, fehlte in seiner Kontrapunktlehre – aufgrund der Komplexität des Themas – ein Kapitel zur Fugenlehre. Das Abfassen einer solchen übernahm Iwan Knorr Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinem Lehrbuch der Fugenkomposition (1911). Knorr, der 1883 zur gleichen Zeit wie Scholz ans Konservatorium gekommen war, wurde 1908 dessen Nachfolger als Direktor. Unter seiner Leitung gewannen vor allem die Fugenlehre und Analyse von Bachs Wohltemperiertem Klavier weiter an Bedeutung, was Kolb auch dem Einfluss der Dehn’schen Lehre zuschrieb. Trotz einer unter Knorrs Leitung zunehmenden Anzahl von Studierenden, für die der Theorieunterricht ein Hauptfach war, reduzierte er seine Unterrichtsstunden und überließ Karl Breidenstein und Bernhard Sekles, die beide ihre Ausbildung am Hoch’schen Konservatorium erhalten und Kontrapunkt bei Knorr gelernt hatten, den Großteil des Unterrichts. Sekles wurde 1923 Direktor des Konservatoriums und unterrichtete unter anderem Hindemith, dessen Aufzeichnungen aus Studienzeiten sich intensive Auseinandersetzungen mit Kontrapunkt, Kanon und Fuge entnehmen lassen. Wie genau sich diese Frankfurter Kontrapunkt-Tradition nach 1918 weiterentwickelte und bei Hindemith nachhallte, bleibt indes offen für weitere Untersuchungen.
Im Anschluss widmete sich Juliane Brandes (Salzburg) in ihrem Vortrag Zur Kontrapunktlehre der Münchner Schule um 1900 – ein Blick über drei Generationen einer weiteren lokalen Kontrapunktschule zur Zeit der Jahrhundertwende, wobei der seinerzeit renommierte Komponist und Hochschullehrer Ludwig Thuille (1861–1907) Ausgangspunkt der Betrachtung war. Unterrichtsinhalte wie Methoden wurden anhand von damaligen Lehrplänen, Schülermitschriften und -kommentaren sowie Lehrmaterialien erschlossen. Dabei wurde deutlich, dass (auch) in München der Kontrapunkt als wesentliche kompetenzvermittelnde Methode angesehen wurde, dessen Beherrschung als ein allgemeines ›Vehikel‹ für individuellere stilistische wie gattungsspezifische Gestaltungsweisen diente. An den Anfang ihres Vortrags stellte Brandes die Lehrkonzepte Josef Gabriel Rheinbergers, der von 1867 bis 1901 an der Musikschule unterrichtete. Thuille zählte von 1879 bis 1882 zu dessen Schülern, ehe er selbst ab 1883 als Lehrperson tätig war. Der an der königlichen Musikschule verbindliche Lehrplan für Komposition gab vor allem die Unterweisung im Kontrapunkt vor, welche in drei Klassenstufen (die jeweils einem Studienjahr entsprachen) unterteilt war: In der ersten Klasse wurde der einfache und doppelte Kontrapunkt neben dem vierstimmigen Vokalsatz und einer basalen Harmonielehre gelehrt, während in der zweiten Klasse – neben der Vertiefung mit dem doppelten Kontrapunkt – Fugenlehre und Kanon behandelt wurden. Formenlehre und Instrumentation kamen – neben einer Wiederaufnahme der Fugenlehre und dem Erstellen von Variationssätzen, wie sich in den handschriftlichen Unterlagen zeigte – in der dritten Klasse hinzu. Diese Einteilung hatte über Jahrzehnte hinweg bis hin ins 20. Jahrhundert Bestand und wurde auch unter Thuilles Leitung weitergeführt. Aus dieser Einteilung – bezeichnend ist der Fokus auf doppelten Kontrapunkt und Fugenlehre – lässt sich Rheinbergers Verehrung für die (Bach’sche) Fuge herauslesen, von der er sagte, sie sei »die wichtigste Form in unserer Musik« und man lerne erst mit dem Schreiben von Fugen »musikalischlogisch denken«. Teil von Rheinbergers Lehrplan war folglich auch das Entwerfen sogenannter »Schulfugen« mithilfe eines stereotypen Bauplans und entsprechenden Vokabulars. Einflüsse auf diese pädagogische Ausrichtung gingen etwa von Cherubinis Cours de contrepoint et de fugue (1835) sowie der (nord-)deutschen Tradition der Choralfiguration aus. Thuille übernahm diese methodische Herangehensweise, als er seine Lehrtätigkeit in München 1883 begann. Allerdings löste er sich beispielsweise von der strengen Fugenform Rheinbergers zugunsten freier Gestaltungsweisen. Zudem wird in seinem Unterricht mehr als bei Rheinberger eine individuelle Herangehensweise und eine etwas avancierte Harmonik deutlich, auf deren Basis die Studierenden ihren Individualstil entwickeln konnten. Edgar Istel, ein Schüler Thuilles, lobte dessen Unterricht als »solide musikalische Erziehung«. Nachdem man die »üblichen kontrapunktischen Schulstudien« hinter sich gebracht habe, könne man in Thuilles Unterricht komponieren »wie einem der Schnabel gewachsen ist«, was zu einer kompositorisch vielfältigen Stilistik unter Thuilles Studierenden führte. Auch Hermann Wolfgang von Waltershausen, ein weiterer Schüler, lobte Thuilles »Fähigkeit, in die vielen gärenden Köpfe mannigfaltigster Richtungen und Zielstrebigkeiten Ordnung zu bringen«. Im Jahr 1905 wurde Max Reger als Nachfolger Rheinbergers an die Musikschule berufen, welche er aber nach nur einem Jahr schon wieder verließ. Für ihn waren ähnliche Lehrinhalte verbindlich. Die letzte Generation der Kontrapunktschule in München, die Brandes in ihrem Vortrag vorstellte, war die von Thuilles Schülern. Den Anfang machte Brandes mit Walter Braunfels, der 1901 in München studierte und in dessen Unterrichtsmaterial aus den 1910er und -20er Jahren Innovationen erkennbar sind. Hatte Thuille bis dahin weitestgehend nur dur-moll-tonale Aufgaben gestellt, brachte Braunfels nun auch Modalität in seinen Unterricht ein. Der bereits erwähnte Thuille-Schüler von Waltershausen unterrichtete von 1920 bis 1933 als ordentlicher Professor an der königlichen Akademie und übernahm die Unterrichtsmethoden seines Lehrers, um diese noch weiter auszubauen. So lehrte er mit der Harmonielehre von Louis/Thuille (1907) und intensivierte sogar noch die Münchner Kontrapunktlehre auf geradezu orthodoxe Weise. Friedrich Klose war als Nachfolger Thuilles von 1907 bis 1919 Professor für Komposition an der Münchner Akademie der Tonkunst und entwarf einen Lehrplan für eine Kompositionslehre, der – in zwei Klassen aufgeteilt – die Behandlung von zweistimmigem Kontrapunkt und Fugenlehre vorsah. Die letzte Person, deren Lehre Brandes in den Blick nahm, war Walter Courvoisier, der zunächst ab 1910 als Lehrer für Harmonie, Gehörbildung und Allgemeine Musiklehre aktiv war, ehe er ab 1921 Professor für Komposition an der Münchner Akademie wurde. Wie Waltershausen unterrichtete Courvoisier nach der ursprünglichen Fassung der Harmonielehre von Louis/Thuille und Kontrapunkt in inhaltlich vergleichbarer Weise wie seine Vorgänger. Unter anderem Paul Ben-Haim (ehemals: Frankenburger) und Dora Pejačević nahmen an seinem Unterricht teil. Wie es Pejačevićs Studienhefte nahelegen, wurden für die Kontrapunktlehre Richters einschlägige Lehrbücher herangezogen. Durch Ben-Haims weiteres Wirken erstreckte sich die Rezeption der Münchner Lehre bis nach Israel.
Damit lag am Ende der zwei intensiven Tage den Zuhörenden und Teilnehmenden ein umfassendes Panorama von unterschiedlichsten Kontrapunkt-Verständnissen vor, bei dem insbesondere deutlich wurde, dass sie jeweils sehr stark durch die Lehrerpersönlichkeiten geprägt wurden, die an den jeweiligen Institutionen tätig waren. Diese Erkenntnis passt gut zu der im Eröffnungsvortrag des ersten Symposiums der Reihe von Reinhard Kapp geäußerten Einsicht, dass das, was jeweils unter Kontrapunkt verstanden wird, sicherlich durch persönliche, soziale wie lokale Gegebenheiten geprägt wurde und immer in komplexe Beziehungsnetze zwischen Praxis, musikalischen Wissenschaften und zeitgenössischen Denkströmungen eingebunden ist. Mit Spannung kann nun das kommende Symposium in Salzburg erwartet werden, welches ja dann den Blick zu einer europäischen Perspektive weiten soll.
Zu den Autoren
ANTONIO KAPPER (*1996 in Regensburg) studierte seit 2015 im Lehramtsstudiengang der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz Mathematik und Musik (mit Hauptfach Klavier), später den B. A. Musikwissenschaft mit Beifach Geschichte und schließlich noch den M. Mus. Musiktheorie an der Hochschule für Musik Mainz. Seine Masterarbeit verfasste er zur Harmonik von Francis Poulenc. Seit Herbst 2023 hat er einen Lehrauftrag für Musiktheorie an seiner Alma Mater und ist Referendar am Studienseminar für Gymnasien in Frankfurt am Main.
ROBERT MARTIN (*2003 in Mainz) studierte ab 2022 Musik- und Theaterwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und wechselte im Herbst 2023 an die Hochschule für Musik Mainz, an der er aktuell Musiktheorie im Bachelor studiert.