Kontrapunkt-Traditionen (III)
Universität Mozarteum Salzburg
6.–7.6.2024
Symposiumswebseite: Weblink
Simon Paul Klampfer
Am 6. und 7. Juni 2024 fand an der Universität Mozarteum Salzburg der dritte und letzte Teil der von Yvonne Wasserloos (Salzburg), Patrick Boenke (Wien) und Birger Petersen (Mainz) konzipierten und organisierten fachübergreifenden Symposiumsreihe »Kontrapunkt-Traditionen« statt. Die Tagungs-Trilogie nahm über den Zeitraum eines Jahres hinweg Intentionen, Bedeutung und Nachhall von Kontrapunktlehren seit dem 18. Jahrhundert in den Blick. Ein Fokus lag dabei auf Schulbildungen und ihren Fixierungen in nationalen wie internationalen Schriften sowie auf lokalen Traditionen in den Institutionen der Musikausbildung. Nach einem auf das 18. Jahrhundert konzentrierten Auftakt in Wien wurde die Reihe in Mainz mit Blick auf das 19. Jahrhundert fortgesetzt. In Salzburg wurden nun vermehrt internationale Entwicklungslinien, Kulturtransfers und Öffnungsprozesse bis ins 20. Jahrhundert hinein nachvollzogen. Wasserloos, welche für die Tagung an der Universität Mozarteum Salzburg verantwortlich zeichnete, kündigte für die Tagungs-Trilogie eine dreibändige Publikation an, wobei der dritte Band der Salzburger Tagung gewidmet sein wird.
Den ersten Vortrag hielten Wasserloos und Petersen über das Thema »Tradition und Transformation: Von Leipzig nach Dänemark und Neu-England«. Der Theorieunterricht in den Anfangsjahrzehnten des Leipziger Konservatoriums bis 1918 lässt sich unter anderem aus den Lehrbüchern von Ernst Friedrich Richter, Oscar Paul und Salomon Jadassohn sowie aus Moritz Hauptmanns Traktat Die Natur der Harmonik und der Metrik rekonstruieren. In diesen Jahren belief sich die Anzahl der ausländischen Studierenden auf bis zu stolzen 44 Prozent. Unter den dänischen Studierenden waren es Christian Frederik Emil Horneman und Niels Wilhelm Gade, welche ihr musiktheoretisches Wissen zur Förderung der Musikbildung in ihr Heimatland brachten. Horneman wendete sich jedoch bald nach seiner Rückkehr nach Kopenhagen vom ›Leipziger‹ Stil, den er als kontrapunktisch geprägt auffasste, zum Homophonen und zur Volksliedkultur hin. Auch Edvard Grieg, der ebenfalls in Leipzig studierte, wendete sich von der konservativen Leipziger Kompositionsschule ab. Aus Nordamerika gab es in Leipzig nachweislich hunderte Musikstudierende, darunter George Whitefield Chadwick, der nach einem zweijährigen Studium in Leipzig in München weiterstudierte und schließlich in Boston Direktor des New England Conservatory werden sollte. Interessant ist, dass in den Vereinigten Staaten Stücke mit dem Titelzusatz »contrapuntal study« beliebt waren, welche dort als Nachweis besonderer kompositorischer Befähigung galten.
Darauffolgend hielt Hye Min Lee (Mainz) einen Vortrag über die Kontrapunkt- und Kompositionslehre am Conservatoire Royal de Bruxelles zu Zeiten François-Joseph Fétis’, welcher von 1833 bis zu seinem Tode im Jahre 1871 dessen Direktor war. Als Vorbild für diese Institution diente das Pariser Conservatoire, an welchem Fétis seit 1821 als Professor für Komposition und Harmonielehre unterrichtet hatte. Zu Unterrichtszwecken erwarb er für das Brüsseler Konservatorium Exemplare sämtlicher Pariser Lehrwerke und hielt sich auch an die akademische Ausrichtung des Pariser Conservatoire. So fanden in regelmäßigen Abständen Wettbewerbe und Prüfungen statt, und der Solfège-Unterricht wurde hochgehalten. Fétis überarbeitete seinen ursprünglich für den Unterricht am Pariser Conservatoire verfassten und 1825 erschienenen Traité du Contre-point et de la fugue und veröffentlichte diese neue Fassung 1846.
Zum Abschluss des ersten Symposiumstages referierte Thomas Holme (Aarhus) über Knud Jeppesens Werdegang, seine Kontrapunktlehre und deren Rezeption sowie über Jeppesens Nachfolger in der dänischen Musiktheorie. Jeppesen war Schüler von Carl Nielsen und Thomas Laub, wobei Letzterer seine Liebe zur Musik Palestrinas beförderte. 1922 reichte Jeppesen in Wien seine von Guido Adler betreute Dissertation über Dissonanzen im Palestrinastil ein, und 1930 veröffentlichte er auf Dänisch sein bekanntes Lehrbuch über Renaissance-Kontrapunkt. Wie auch in der Diskussion deutlich wurde, lassen sich Jeppesens akribische Studien mit einer computerunterstützten Corpus-Analyse von heute durchaus vergleichen. Darauf ließ Holme Ausführungen über Jeppesens Studierende folgen, beginnend mit Finn Hoffding, dessen 1969 publiziertes Buch über zweistimmigen Kontrapunkt von Jeppesen jedoch keine offizielle akademische Unterstützung erhielt, da für diesen ein zweistimmiger Palestrina-Kontrapunkt undenkbar war. In einem Briefwechsel mit Povl Hamburger, einem seiner Schüler, räumte Jeppesen die Unvollständigkeit seines heute immer noch verwendeten Lehrwerks ein. Daraufhin schrieb Hamburger eine Abhandlung über vokalen Kontrapunkt, deren Zweck die Ergänzung von Jeppesens Lehrbuch war und aufgrund derer Hamburger in Dänemark nunmehr als höchste wissenschaftliche Autorität in Sachen Kontrapunkt galt. 1968 verfasste Thomas Alvad ein Buch über elementare Vokalpolyphonie, in dem er sich namentlich bei Hamburger bedankte. Mit Ausnahme eines 2005 erschienenen Aufsatzes von Svend Hvidtfelt Nielsen über den dreistimmigen Palestrina-Satz gab es über den Kontrapunkt seit über einem halben Jahrhundert keine weitere international bekannt gewordene Publikation aus Dänemark.
In der Diskussionsrunde wurde über die Auswirkungen gesprochen, die die Entdeckung weiterer Primärquellen aus der Renaissance, darunter auch historische Lehrmaterialien, durch die musiktheoriehistorische Forschung auf die musikanalytische Sicht auf den Kontrapunkt hatte. Betont wurde, dass es – wie auch in anderen Epochen – in der Zeit der Vokalpolyphonie sowohl Personal- als auch Gruppenstile gab und somit Jeppesens Schriften über Palestrina nur einen Teil dieser Musik abdecken. Insbesondere die Forschungen und pädagogischen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte hätten gezeigt, dass Kontrapunkt nach Palestrina weder stilistisch noch methodisch mit dem ›Renaissancestil‹ insgesamt gleichzusetzen sei. Ebenfalls stand die Frage im Raum, welche Richtung neuere Kontrapunktlehrbücher mit ihrem didaktischen Aufbau einschlagen. Im Gegensatz zur früheren Kontrapunktlehre wollten sie zumeist nicht mehr generell als Anleitung zum kontrapunktischen Schreiben oder als Übungsbuch für eine kompositorische Handwerkslehre für ›Musik von heute‹ verstanden werden (was Jeppesens historischer Stilforschung nicht unbedingt widerspricht). Gleichwohl sei auch in neueren Lehrbüchern immer noch der Anspruch vorhanden, eine grundlegende Art (inner-)musikalischen Denkens zu trainieren, das eine Dialektik von horizontalem und vertikalem Geschehen voraussetzt.
Der zweite Symposiumstag startete mit dem Vortrag Lost in Translation: Kontrapunktlehren und ihre Übersetzung von Martin Eybl (Wien). Der Vortrag handelte von Intentionen, Umständen und Wirkungsweisen von Übersetzungen und daraus resultierenden Problemen von Kontrapunktlehren. Hierbei nahm der Vortragende auf Übersetzungen von Johann Joseph Fux’ Gradus ad Parnassum und Heinrich Schenkers Kontrapunkt Bezug. Kontrapunkt wurde als letzter der drei Teile von Schenkers Hauptwerk Musikalische Theorien und Phantasien von John Rothgeb und Jürgen Thym ins Englische übersetzt und 1987 publiziert. Im Gegensatz zu früheren Übersetzungen wurde der Inhalt nicht gekürzt. Als problematisch erweist sich die Übersetzung des Terminus ›strenger Satz‹ mit ›strict composition‹, wodurch ›Kontrapunkt‹ bereits den Status von ›Komposition‹ erhält. Schenker hatte ihn im Gegensatz dazu als bloße Vorübung zur eigentlichen Komposition verstanden. Eine weitere Herausforderung stellte Schenkers der gesprochenen Sprache nahestehende Schreibstil dar. Durch die Fassung in englischer Sprache wirkt der Text zwar ›gezügelter‹, es gehen dieser Übertragung aber Nuancen und ein Teil der rhetorischen Kraft verloren.
In Eybls folgenden Ausführungen standen Fux’ Gradus ad Parnassum im Mittelpunkt. Fux habe die Gradus zwar auf Latein geschrieben, da dies die damalige Gelehrtensprache war und das Deutsch jener Zeit zu umständlichen Formulierungen verleitete, doch habe er sich von der italienischen Lehrtradition inspirieren lassen, welche die Übungen bereits im 16. Jahrhundert in Gattungen einteilte. So dürfe es nicht verwundern, dass in Bälde zahlreiche Übersetzungen der Gradus ins Italienische kursierten, beispielsweise in Bologna und Neapel. In Leipzig übersetzte Lorenz Christoph Mizler das Lehrwerk ins Deutsche, wobei er editorisch in den Text eingriff. Ihm gelang indes eine Übersetzung, die von der ›Wiener Gelehrsamkeit‹ des lateinischen Originals zu einer Fassung führte, die nicht nur bei einer breiten Leserschaft, sondern auch in deutschen Gelehrtenkreisen gut ankam. So sollten die Gradus wie in Italien auch im deutschen Sprachraum einen hohen Stellenwert erhalten. Eine untergeordnete Rolle spielten sie dagegen in Frankreich, wo sie erstens im Gegensatz zu den deutschen und italienischen Fassungen nicht vollständig übersetzt wurden und zweitens in ihrer späteren Rezeption hinter die einheimischen Kontrapunktbücher von Cherubini und Fétis zurücktraten.
Sodann hielt John Koslovsky (Leuven) einen Vortrag über die Begrifflichkeiten ›Erscheinung‹ und ›Bedeutung‹ bzw. ›structure‹ and ›prolongation‹ in der Schenker-Literatur. Felix Salzer und Hans Weisse gehörten zu den in die USA ausgewanderten Schenker-Schülern, und an Salzers dort geschriebenem Buch Structural Hearing (1952) und dem gemeinsam mit Carl Schachter verfassten Lehrwerk Counterpoint and Composition (1969) ist noch immer der große Einfluss abzulesen, den die moderne Psychologie, wie sie in den ersten Jahrzehnten nach 1900 an der Universität Wien gelehrt wurde, auf das musiktheoretische Denken Schenkers ausgeübt hatte. So blickte Schenker aus einer psychologischen Perspektive auf Dissonanzen und Konsonanzen. In den Jahren 1935 und 1936 hielt Salzer Vorträge am Salzburger Mozarteum, in denen er Schuberts Walzer op. 18 Nr. 10 und Chopins Polonaise-fantaisie op. 61 analysierte. In seine schenkersche Reduktion der Polonaise fügte er, um ›verbotene‹ Parallelen zu vermeiden, 1935 einen Fes-Dur-Akkord ein, der im Original nicht vorkommt. Dagegen verzichtete er in einer neueren Analyse der Polonaise aus dem Jahr 1952 auf die Einfügung des Fes-Dur-Klangs und nahm den Satzfehler in Kauf. Aus psychologischer Sicht entsprechen Erscheinung und Bedeutung den schenkerschen Begrifflichkeiten Hintergrund und Vordergrund. In dieser Perspektive werden die Begriffe ›Struktur‹ bzw. ›Bedeutung‹ (der Hintergrund) mit den tieferen psychologischen Motiven eines Menschen und ›Erscheinung‹ bzw. ›Prolongation‹ (der Vordergrund) mit den gezeigten Emotionen verglichen. Weiters führte Koslovsky aus, dass Salzer noch in seiner Wiener Zeit Vokalmusik der Notre-Dame-Epoche unter Verwendung schenkerscher Werkzeuge analysiert habe, wobei er viele Phänomene dieser Musik mittels Stimmkreuzungen zu erklären vermochte, welche die strukturellen Akkorde linear miteinander verbinden. Schenker, kein Freund modaler Musik, habe seinem Schüler Salzer diesen Ansatz nicht verwehrt. Um darzulegen, dass Stimmführungsregeln (im Sinne Schenkers ein kontrapunktisches Phänomen) universelle Gültigkeit haben, analysierte Schenker häufig Schubert und Chopin, wiewohl diese keineswegs als Koryphäen von Kontrapunkt im herkömmlichen Sinne bekannt waren.
Den Abschlussvortrag hielt Anna Fortunova (Understanding Music Academy Hannover). Ihre Präsentation über Kontrapunkt in der russischsprachigen Musikforschung war in drei Abschnitte gegliedert, wobei der erste Teil von Michail Glinka (1804–1857), der zweite von Sergej Taneev (1856–1915) und der dritte von der Zeit nach Taneevs Tod handelte. Glinka wollte die »europäische« Fuge, die in seinen Augen als pars pro toto für den Kontrapunkt stand, mit der russischen Musik im metaphorischen Sinne einer Eheschließung vermählen. Taneev galt zu seinen Lebzeiten als Autorität in Fragen des Kontrapunkts. Er übersetzte unzählige west- und mitteleuropäische Schriften ins Russische; für ihn war der Kontrapunkt ein wichtiges Werkzeug, um die Kluft zwischen »europäischer« und russischer Musik zu überbrücken. Sein Ziel war eine Symbiose, wobei er sich einen Baum vorstellte, der für Europas Kunstmusik steht und aus dessen Ästen russische Triebe sprießen. Für Taneev war Kontrapunkt, unabhängig von zeitgebundener Mode und nationalem Geschmack, auf mathematischen Grundlagen aufgebaut und aus ganzheitlicher Sicht sogar als Leitfaden für ein moralisches Leben zu betrachten. Im abschließenden Teil des Vortrags listete Fortunova einige zwischen 1969 und 2018 geäußerte Charakterisierungen von Kontrapunkt durch verschiedene russische Musiktheoretikerinnen (Tat’jana Dubravskaja und Galina Demeško) und Musiktheoretiker (Stepan Grigor’ev mit Teodor Mjuller und Sergej Skrebkov) auf. Oftmals stand eine ganzheitliche Sicht auf Kontrapunkt im Vordergrund. Bemerkenswert ist, dass der Terminus ›Polyphonie‹ in Russland den Begriff ›Kontrapunkt‹ verdrängte, da man der Auffassung war, der Begriff ›Polyphonie‹ lasse sich inhaltlich weiter fassen.
Eine Diskussionsrunde rundete das zweitägige Symposium ab. Unter anderem ging es um die Frage, ab welchem Zeitraum Kontrapunktlehrbücher nicht mehr als Übungsbücher zum (zeitgenössischen) Komponieren konzipiert wurden. Ebenfalls erwähnt wurde der stärkere Fokus, der im deutschen Sprachraum seit den 1910er Jahren für einige Jahrzehnte auf die Polyphonie gelegt wurde. Mit diesem Ausblick auf ein künftiges Forschungsfeld fand die Tagungsreihe ihren Abschluss.
Zum Autor
SIMON PAUL KLAMPFER (*1996 in Wien) studiert seit 2017 Musiktheorie an der Universität Mozarteum Salzburg (Hauptfach-Unterricht bei Juliane Brandes). Seit 2019 studiert er ebenda Klavier IGP mit den Schwerpunkten Korrepetition und Jazz/Pop. In den Bereichen Analyse und Komposition liegen seine Interessen auf tonaler Musik, wobei sein Hauptaugenmerk auf praxisnahe Analysen und Melodik gerichtet ist. Um musikalischen Sachverhalten auf den Grund zu gehen, nutzt er insbesondere statistische Analysen, wie er es bereits in seiner Bachelorarbeit über Sequenzen in Bachs WTK I erprobt hat.