Analyse – Interpretation – Aufführung – Performance. Ein Spannungsfeld der Neubestimmung musikwissenschaftlicher Methoden
Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft 2015
18.–21.11.2015
Universität für Musik und darstellende Kunst in Graz
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Tagungsprogramm
Thomas Wozonig
»Das größte Verbrechen eines Musikers ist es, Noten zu spielen, statt Musik zu machen.« – Dem großen Geiger Isaac Stern war klar: Das, was da schwarz auf weiß vor einem in den Noten steht, entspricht nicht ›der Musik‹, denn diese muss erst gemacht werden, also eine Aufführung erleben, die sie in ein hörbares und – im idealen Fall – in ein ansprechendes Klangerlebnis übersetzt. Gerade in diesem Punkt arbeiteten Musikwissenschaft und Musiktheorie allerdings jahrzehntelang mit Scheuklappen: Der Notentext galt als einzige gültige Instanz in der Frage, was die ›Musik‹ sei, ohne dass man sich dabei eingehender mit dem komplexen Verhältnis zwischen dem Geschriebenen und dessen Ausführung befasst hätte.
Dementsprechend lang dauerte es bis die Musikforschung begann, sich Prozessen musikalischer Aufführung als Forschungsobjekt zuzuwenden: Die Vorstellung eines sakrosankten Geltungsanspruchs des Notentextes wurde – maßgeblich angestoßen durch den Einfluss der historisch informierten Aufführungspraxis seit den 1960er Jahren – nach und nach fallen gelassen zugunsten der Erkenntnis, dass sich das musikalische Werk erst innerhalb einer bestimmen Aufführungskultur ganz entfaltet. Ergänzt wurde diese neue Sichtweise auch vor allem im Zuge der Digitalisierung durch das steigende Interesse an Tonaufnahmen als grundlegendem Forschungsmaterial, oft im Rahmen performance-orientierter Corpusstudien.
Diesem vielschichtigen Wechselspiel widmete sich die vergangene Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft, die vom 18.–21. November 2015 unter dem Titel »Analyse – Interpretation – Aufführung – Performance. Ein Spannungsfeld der Neubestimmung musikwissenschaftlicher Methoden« an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Graz stattfand. Zahlreiche internationale Fachleute, sowohl WissenschaftlerInnen als auch ausübende KünstlerInnen, gingen vor dem oben skizzierten Hintergrund u.a. der Frage nach, ob und in welcher Weise historische und strukturelle Analyse und Forschung mit praktischem, intuitivem Wissen bei der Ausführung in ein fruchtbares Miteinander treten können. Dazu wurden in insgesamt 20 Vorträgen die unterschiedlichsten Methoden herangezogen: Diese reichten von historischer Rezeptions- und Interpretationsforschung über performance-orientierte Analysen und die interdisziplinären Ansätze der britischen musical performance studies, empirische Methoden und organologische Untersuchungen bis hin zu Betrachtungen außereuropäischer Musik- und Musizierformen.
Die Tagung war in fünf Sektionen organisiert, die jeweils von einem Hauptvortrag eröffnet wurden. Die erste Sektion unter dem Motto »Die Gegenwart des historischen Klangs« wurde von Joshua Rifkin (Boston) eingeleitet, der durch seine zweifache Tätigkeit als Dirigent und Wissenschaftler am Knotenpunkt zwischen Theorie und Praxis steht und sich in seinem Beitrag auch mit dem Ungleichgewicht zwischen diesen beiden Ebenen beschäftige: Unter anderem anhand von Claudio Monteverdis Marienvesper zeigte er auf, zu welch verzerrenden Ergebnissen man kommen kann, wenn nicht notationell fixierte Aspekte der jeweils zeitgenössischen Aufführungspraxis unberücksichtigt bleiben, etwa Aspekte der Zeit- und Tempogestaltung sowie die in diesem Fall besonders akute Frage der zyklischen Ordnung und großformalen Architektur. Demgegenüber zeigte Johannes Gebauer (Bern) durch seinen Vergleich mehrerer praktischer Ausgaben von Pierre Rodes 24 Capricen für Violine auf, dass und wie sich die jeweilige Aufführungsästhetik einer Zeit in zeitgenössischen Editionen niederschlägt. Karin Martensen (Detmold), Lars Laubhold (Salzburg) und Sebastian Bausch (Bern) nahmen sich dann aus unterschiedlicher Perspektive der Frage an, ob, wie und mit welcher Konsequenz man sich historischen Klangvorstellungen durch Tondokumente nähern kann.
Mit »Listening to the Twentieth Century: Musikalische Aufführung im Analyse-Zeitalter« war die zweite Sektion betitelt. Der Hauptvortragende Kai Köpp (Bern) zeigte dabei anhand eigener Forschungsprojekte auf, wie durch die Untersuchung musikalischer interfaces (z.B. Streicherbögen), instruktiver Notenausgaben sowie historischer Tonaufnahmen Rückschlüsse auf historische Klangvorstellungen gewonnen werden können. Annotierte Partituren und Tondokumente spielten auch in Thomas Glasers (Wien) Vortrag Anmerkungen zu René Leibowitz’ Beethoven-Interpretationen eine wichtige Rolle, zeigte er doch anhand einiger von Leibowitz’ Dirigierpartituren und Einspielungen von Beethovens Symphonien auf, wie sich der französische Dirigent in seinen Aufführungen an Aussagen Richard Wagners (so etwa der Idee der Prozesshaftigkeit melodischer Verläufe) orientierte.
Marie Louise Herzfeld-Schild (Köln) mit einem Vortrag zu geschichtlichen Dimensionen der Emotionsforschung, Marko Ciciliani (Graz) und Klaus Lippe (Wien) vervollständigten diese zweite Sektion. Mit den beiden letztgenannten Vortragenden kam erstmals auch die neue Musik mit zwei paradigmatischen Kontexten ins Spiel: Zum einen war auf dem Gebiet der elektronischen Musik von Beginn an die Frage der Aufführungspraxis besonders virulent, wobei Cicilianis Modelle »zentripetaler« und »zentrifugaler« Aufführungspraktiken produktions- und rezeptionsästhetische Ebenen stringent verbinden und so ein sehr praktikables Werkzeug der Aufführungsanalyse für diesen durch neue Technologien sich stark dynamisch wandelnden Bereich bereitstellen. Lippes Vortrag wiederum zeigte wie die hochkomplexen Partituren Brian Ferneyhoughs die Ausführenden nicht allein in nie dagewesener Weise fordern und zu technischen Höchstleistungen motivieren, sondern auch wie sich dabei der »Eigenwert« eines komplexen Textes mit jenem seiner performativen Interpretation durchdringt.
Dem Verhältnis, in dem Analyse und Darbietung zueinander stehen oder stehen können, widmete sich die dritte Sektion »Interpretationen analysieren und Analysen interpretieren«, eröffnet durch John Rink (Cambridge), einem der Leiter der viel beachteten britischen Forschungsprojekte CHARM (AHRC Research Centre for the History and Analysis of Recorded Music, London 2004–2009; http://www.charm.kcl.ac.uk) und CMPCP (AHRC Research Centre for Musical Performance as Creative Practice, Cambridge 2009–2014; http://www.cmpcp.ac.uk), mit seinem Vortrag Playing with structure. The performance of musical analysis. Rink (selbst auch Pianist) ging es dabei u.a. darum zu zeigen, dass musikalisches Material an sich keine musikalische Form generiere, sondern vielmehr eine »inference of structural relationships« erzeuge. Diese »Schlussfolgerung« werde bei jeder Performance neu ausgelegt, sodass sich musikalische Form erst durch ein praktisches Umsetzen der (natürlich bereits wesentlich ›vorgeformten‹) Notenschrift ergebe und dabei im Prinzip jedes Mal einzigartig sei – was die Möglichkeit des Interpretationsvergleichs freilich keinesfalls ausschließt. Sheila Guymer (Cambridge) widmete sich vor dem Hintergrund umfangreicher Fallstudien in ihrer Study of expert performers’ interpretative decision-making dem Verhältnis von »explicit« und »tacit knowledge«, also von durch Analysen, Traktate oder weiteren Sekundärquellen gewonnen Erkenntnissen einerseits und physischer, intuitiver Kompetenz andererseits. Durch ihren Selbstversuch im Unterricht bei vier verschiedenen Hammerklavier-Solisten gelang es ihr, ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, wie die unterschiedlichen Faktoren – Instrumententypen, individuelle Herangehensweisen der Pianisten oder die spezifischen Anforderungen der gespielten Werke – in ein Wirkungsverhältnis treten, das sich erst jenseits einer rein schriftbasierten Analyse eröffnet. Christian Utz (Graz) zeigte im Anschluss, wie Aufführungskonzepte von Werken der musikalischen Avantgarde der 1960er und 70er Jahre für Solo-Cello (Lachenmann, Xenakis, Ferneyhough) unterschiedliche Erfahrungen musikalischer Zeit provozieren können und verband dabei quantitative Tempomessungen mit qualitativen Betrachtungen eines »close listening«. Alan Dodson (British Columbia) schließlich wies anhand von Claude Debussys Klavierwerken darauf hin, wie stark die Erfahrungen von Rhythmus und Metrum beim Ausführen, beim ›stillen Lesen‹ und beim Hören von Musik voneinander abweichen können.
Die anschließende vierte Sektion entfernte sich dann vorübergehend vom Schwerpunkt der westlichen (›Kunst‹)-Musik und blickte auf die »Aufführung und Analyse in Musikformen außerhalb Europas«. Mit ihrem Hauptvortrag zog Sarah Weiss (Singapore) besondere Aufmerksamkeit auf sich: Sie äußerte Zweifel daran, ob »Western Art Music« (WAM) und »Non-Western Art Music« tatsächlich scharf gegeneinander gestellt werden sollten, gerade wenn der Faktor der Performance prominent berücksichtigt wird; tatsächlich seien viele vermeintliche Alleinstellungsmerkmale der WAM – etwa der hohe Stellenwert der Schrift sowie die theoretische Unterfütterung und Reflexion – auch in außereuropäischen Musikformen in ebenso starkem Maße anzutreffen. Ergänzt wurde Weissʼ allgemeiner Überblick anschließend zum einen durch die Studie von Mikyung Lee (Gwangju/Südkorea), Hyeonjoo Song (Gyeonggi-do/Südkorea) und Jin Hyun Kim (Berlin), in der die Wissenschaftlerinnen aufzeigten, wie erfahrene MusikerInnen innerhalb koreanischer Schamanenmusik intuitiv mit verschiedenen metrischen Ebenen umgehen. Zum anderen stellte Su Yin Mak (Hong Kong) in ihrer Ethnographic study of a professional quartet in Hong Kong ein systematisches Forschungsmodell vor, in dem durch die monatelange Begleitung und Dokumentation von Probenprozessen die Genese einer Gruppen-Interpretation minutiös nachgezeichnet werden kann.
Den letzten Tag nahm schließlich die Sektion »Aufführung, Analyse und empirische Forschungsfragen« ein, die sich u.a. der Möglichkeit quantitativer Mess- und Darstellbarkeit musikalischer Aufführungsparameter im Kontext der naturwissenschaftlich orientierten ›performance science‹ zuwandte. Die Vorträge von Renee Timmers (Sheffield), Rainer Simon (Erlangen-Nürnberg) und Erica Bisesi (Graz) lieferten dabei zu diesem Thema denkbar unterschiedliche Herangehensweisen, die vom phänomenologisch geprägten Ansatz einer ›deskriptiven Analyse von Musikaufführung‹ (Simon) zum ›measurement of expressiveness in performance‹ (Timmers) reichten. Sowohl in Timmers’ als auch in Bisesis Vortrag standen die Aspekte von Ausdruck und Emotion im Vordergrund, wobei die für die Quantisierung der Forschungsmethoden notwendige Reduktion dieser komplexen Phänomene ins Auge stach und einige offene Fragen aufwarf.
In einer von Christian Utz geleiteten Podiumsdiskussion zum Thema »Interpretationsforschung vs. Performance Studies: (Un-)Vereinbarkeit musikwissenschaftlicher Methoden?«, an der Christa Brüstle (Graz), Werner Goebl (Wien), Reinhard Kapp (Wien) und John Rink teilnahmen, wurde am Ende des dritten Tages die Frage verfolgt, wie die bis zur Gegenwart im deutschsprachigen und im englischsprachigen Raum stark divergierenden Forschungsmethoden zu ›Interpretation‹, ›Aufführung‹ und ›Performance‹ von Musik im Spannungsfeld zur Analyse verstärkt in sinnfällige Formen des Dialogs gebracht werden könnten. Dass diese Grenzbereiche bis heute erheblicher systematisch-konzeptioneller Überlegungen bedürfen, war bereits in den Vorträgen mehrfach deutlich geworden, allein schon dadurch, dass viele Vortragende (u.a. Köpp, Ciciliani und Guymer) versuchten, das Forschungsfeld als Ganzes in Form von feldartigen Diagrammen zu ›vermessen‹. Die Diskussion zeigte deutlich, wie schwer es auch weiterhin bleibt, Schnittmengen insbesondere zwischen methodischen Grundvoraussetzungen einer streng an historischen Quellen orientierten Annäherung (Kapp) und jener der empirisch-quantitativen Methoden (Goebl) zu bilden, auch wenn über die in England entwickelten interdisziplinären Ansätze (Rink) nun bereits seit längerer Zeit zweifellos höchst erfolgreiche Synthesen vorliegen und über die Integration theaterwissenschaftlicher Methoden zur Beschreibung von (Live-)Aufführungen (Brüstle) ebenfalls neue musikologische Akzentsetzungen möglich scheinen. Nicht nur im Anschluss an dieses Podium erwiesen die lebhaften und kontroversen Diskussionen jedenfalls, dass das Tagungsthema an fundamentale Bereiche des Selbstverständnisses des Fachs heranreicht und als solches die Diskussionen der kommenden Jahre gewiss weiterhin bestimmen wird.
Das dichte Vortragspensum wurde von drei Sondersektionen bzw. -veranstaltungen ergänzt. Als Abschluss des ersten Tages lieferten Posterpräsentationen weitere fruchtbare Denkanstöße zum Tagungsthema. Am folgenden Tag fand die (thematisch nicht ans Tagungsthema gebundene) Vortragssektion ›Junge Musikwissenschaft‹ statt: Vier NachwuchswissenschaftlerInnen lieferten pointierte Beiträge, die sich teilweise gut in bereits aufgeworfene Themenfelder einpassten. Ein Konzert im prächtigen Barocksaal des Kulturzentrums bei den Minoriten am dritten Abend der Tagung schließlich knüpfte direkt an einige der in den Vorträgen besprochenen Facetten an. Am eindringlichsten geschah das sicherlich in der Aufführung von Johann Sebastian Bachs Kantate »Gott ist mein König« BWV 71 (1708), auch unter dem Beinamen Ratswahlkantate bekannt, die an den Tagen zuvor von Joshua Rifkin mit SolistInnen und dem Barockorchester der Kunstuniversität Graz (Leitung: Michael Hell, Susanne Scholz) erarbeitet worden war. Die folgenden Werke – die zwei Motetten op. 29 von Johannes Brahms, umrahmt von zwei Uraufführungen der beiden Grazer Studierenden Americ Goh (… de l’âme …) und Sung-Ah Kim (Propter) – widmeten sich dann den vielfältigen Übergangsweisen zwischen ›Alter‹ und ›Neuer‹ Musik. Alle Werke wurden von universitätsinternen Ensembles auf höchstem Niveau ausgeführt. Das kuriose Highlight des Konzerts stellte ein ›Trompeterautomat‹ dar, dessen Rekonstruktion von Birgit Lodes (Universität Wien) anlässlich des 650-Jahr-Jubiläums der Universität Wien initiiert worden war und den Helmut Kowar (Österreichische Akademie der Wissenschaften) und Christoph Reuter (Universität Wien) im Vorfeld des Konzerts präsentierten (http://homepage.univie.ac.at/christoph.reuter/trompeterautomat). Dieses Gerät, ein Nachbau einer Erfindung von Johann Nepomuk Mälzel, stellt optisch tatsächlich eine Trompeterfigur dar, die mittels einer durch eine Stiftwalze angesteuerten vibrierende Zunge Melodien von sich geben kann. Eine Reihe von Zeitgenossen komponierte Werke für den Automaten; einer davon war Friedrich Kalkbrenner, dessen Grand March for Maelzel’s Trumpeter (1809) das Konzert eröffnete – ein sicherlich eher aus technischer denn aus musikalischer Sicht spektakulärer Beginn.