Musiktheorie im Wandel: 24. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie
Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg
4.–6.10.2024
Tagungswebseite
Tuna Dağdelen, Christian Groß, Johanna Kulke, Alena Müller
Am Freitag, dem 4. Oktober 2024, begrüßte Robert Denk, der Kanzler der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, im Auditorium maximum das interessierte Fachpublikum zum 24. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH). Das diesjährige Thema »Musiktheorie im Wandel« war ideal auf den geografischen Kontext zugeschnitten; denn die Stadt Cottbus zeichnet sich durch ihre dynamische Transformation aus und weist eine kulturelle Vielfalt auf, auf welche die Sprecher*innen der Eröffnungsveranstaltung, wo es sich anbot, gerne Bezug nahmen. Nachdem Gabriele Grube, die Leiterin des Kulturreferats der Stadtverwaltung Cottbus, Gregor Fuhrmann (Cottbus), Studiengangsleiter des Instituts für Instrumental- und Gesangspädagogik, sowie Florian Edler (Bremen) als Präsident der GMTH ihre Vorfreude auf einen bereichernden Austausch und inspirierende Begegnungen geäußert hatten, fand die Preisverleihung der Wettbewerbe statt. Neben dem Aufsatzwettbewerb gab es diesmal zwei künstlerische Wettbewerbe. Im Rahmen des Aufsatzwettbewerbs wurden zwei Preise vergeben: Jakob Bonasera (Freiburg) gewann den ersten Preis mit einer Studie über »Die ›kleineste Sexte‹ – historische Perspektiven auf einen Zweiklang und seine harmonische Deutung«, während der zweite Preis an Adrian Nagel (Frankfurt) ging, der einen Aufsatz über »Vokale Magnetfelder. Was noch. von Michael Reudenbach« eingereicht hatte. Bei den künstlerischen Wettbewerben vergab die Jury insgesamt fünf Preise für A-cappella-Songs, die für das Konzert mit der Freiburger Vokalband Anders eingereicht worden waren. Zwei prämierte Beiträge wurden am Freitagabend in einem Konzert der Band präsentiert. Großer Applaus wurde auch Lucas Gottfried (Salzburg) zuteil, der bei dem zweiten künstlerischen Wettbewerb einen Preis gewonnen hatte. Hier ging es darum, das Fragments des Liedes »Nacht« von Richard Strauss zu vervollständigen. Zu Gehör gebracht wurde eine Aufnahme der Uraufführung, die im Juni 2024 im Rahmen der Richard-Strauss-Tage stattgefunden hatte. Präsentiert wurde außerdem ein im Zuge eines Auftrags des Cottbuser Musikdepartments an ihren ehemaligen Absolventen Giordano Bruno do Nascimento (Weimar) entstandenes multimediales Werk, welches Studierende des Cottbuser Instituts uraufführten. Nachdem auch der Kongressleiter Stephan Lewandowski (Cottbus) die Teilnehmer*innen willkommen geheißen hatte, eröffnete Gesine Schröder (Wien/Leipzig) den Kongress mit der ersten Keynote. Sie nahm Bezug auf historisch bedingte Ortseigenschaften von Musik und ihren Theorien und zeichnete ein lebhaftes Bild der Musiktheorielandschaft der Nachwendezeit. Im zweiten Teil ihres Vortrags sprach sie mit Verweis auf Bence Szabolcsis von der Kulturkreislehre inspirierte Bausteine zu einer Geschichte der Melodie (1959) darüber, welche Möglichkeiten sich der Disziplin Melodielehre bei der musiktheoretischen Befassung mit sorbischer Musik und mit Musik der frühen DDR bieten, hier veranschaulicht mit einem von Andre Asriel verfassten Bericht über die Kollektivkomposition eines Massenliedes, das Asriel und Günter Kochan als Meisterklassenschüler Hanns Eislers 1951 gemeinsam komponiert hatten.
Danach stellte ein studentisches Organisationsteam die Autumn School vor, die dieses Jahr, wiederum auf Initiative von Anne Hameister (Hamburg) und Maren Wilhelm (Nürnberg), zum zweiten Mal angeboten wurde. Studierende aus Deutschland, Italien, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz trafen sich zwei Tage vor dem Kongress, um sich unter der fachlichen Leitung von Gesine Schröder und Philippe Kocher (Zürich) dem Kongressthema »Musiktheorie im Wandel« zu nähern, unter anderem mit Blick auf elektroakustische Musik der DDR, hier solche von Georg Katzer und Lothar Voigtländer.
Im Anschluss an die Eröffnungsveranstaltung fanden – jetzt auf dem Universitätscampus Sachsendorf – jeweils bis zu acht Vortragssektionen parallel statt. Die Themenvielfalt sowie die unterschiedlichen Formate ermöglichten den Teilnehmenden, für sie relevante Inhalte zu entdecken.
Methodik, Didaktik
Der Freitagnachmittag begann mit einer von Florian Edler, Arvid Ong (Hamburg) und Anne-Kathrin Wagler (Dresden) geleiteten lebhaften Gesprächsrunde über Musiktheorie-Zugangsprüfungen an deutschen Musikhochschulen. Dabei formulierte die AG Musikschulen als ein zentrales Anliegen, sich über Möglichkeiten einheitlicher Standards solcher Prüfungen auszutauschen. Die AG Musikunterricht präsentierte ihre Ergebnisse einer Online-Befragung von Lehrkräften und Studierenden zur Integration von Musiktheorie und Gehörbildung in den Schulunterricht. Es zeigte sich, dass sich insbesondere Berufsanfänger*innen mit ihrem musiktheoretischen Unterricht im Lehramtsstudium nur unzureichend auf die berufliche Praxis vorbereitet fühlen. Während Lehrer*innen an allgemeinbildenden Schulen zumeist von einem großen bzw. einem Überangebot an traditioneller Satzlehre im Studium berichten, vermissen sie neben einer größeren Vielfalt, die vor allem neue Musik, Instrumentation oder Rhythmuslehre umfassen sollte, die Vermittlung methodischer Werkzeuge für die Behandlung musiktheoretischer Inhalte mit Kindern und Jugendlichen. Der Umfrage, in der sich insbesondere die Beteiligung baden-württembergischer Gymnasiallehrer*innen niederschlug, sollen weitere empirische Datenerhebungen folgen, um ein besseres Bild des Bedarfs im Rahmen des Musiklehrerberufs zu erlangen. In einem anderen Panel verfolgte das musiktheoretische Colloquium der HMTM Hannover das Ziel, eine Standortbestimmung des Fachs Musiktheorie zwischen historisch differenzierter Dogmatik und einem ›Anything goes‹ (im Verständnis von Paul Feyerabend) vorzunehmen. Exemplarisch wurde hier anhand von Beethovens 27. Klaviersonate e-Moll op. 90 über die epistemologischen Möglichkeiten von Analysemethoden und deren Pluralität im Sinne eines pragmatischen Kontextualismus nachgedacht. Wiederum didaktischen Fragen war der Vortrag von Marius Barendt (Freiburg/Basel) gewidmet. Er stellte mit einem »Klavierlabor« ein Unterrichtsmodell vor, das zwischen Innovation und Sparmaßnahme balanciert. Von künstlerischen Perspektiven des musiktheoretischen Unterrichts berichteten Paul Kohlmann, Lisa-Marie Haid, Georg-Friedrich Wesarg, Kanaz Difrakhsh und Daniló Kunze (alle Weimar), die eine entsprechende Initiative der Weimarer Hochschule vorstellten. Die Ergebnisse eines im Unterricht an der Manhattan School of Music realisierten Projekts zur Komposition für zwei Akkordeons diskutierten Daniel Roth und Marius Staible (beide Weimar). Dabei ging es um die spieltechnische Umsetzung bestimmter Klangideen, um Möglichkeiten, elektronische Klangeffekte wie delay oder reverse mit dem Akkordeon zu imitieren, und auch darum, das protokollierte Denken und Fühlen von Spieler*innen auszuwerten.
Digitales, KI
Bemerkenswert ist die große Anzahl an Präsentationen, die beim Cottbuser Jahreskongress Aspekte des Themas Digitalisierung beleuchteten, über deren Relevanz und Herausforderungen für das Fach Musiktheorie in mehreren Vorträgen nachgedacht wurde. Niels Pfeffer und Julius Hauth (beide Tübingen) präsentierten ihre innovativen Ansätze zur Kodierung der unkonventionellen Notation der Préludes non mesurés von Louis Couperin mittels der Music Encoding Initiative (MEI). Ihr Ziel ist es, eine digitale Version der Préludes zu erstellen, die nicht nur die Notation erfasst, sondern auch eine Funktion zur Reduktion auf strukturelle Merkmale, wie etwa einen Kadenzplan, beinhaltet. Immer mehr Forschende nutzen computergestützte Verfahren, um umfangreiche Datenmengen zu analysieren und daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen. So analysierte Nura Natour (Freiburg) den »satztechnischen Wortschatz« von Orlando di Lasso. Zudem präsentierte eine Gruppe von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Myrto Zarzalis, Daniel Fiedler, Johannes Hasselborn, Georg Brunner) eine korpusbasierte Untersuchung. Anhand eines Datensatzes von 300 Stücken (ausgewählt auf Grundlage des Bildungsplans Baden-Württemberg und eines Schulbuchs) wurden Tonfolgen ermittelt, die häufig im Repertoire des schulischen Musikunterrichts vorkommen. Auch Derek Remeš (Dortmund) griff auf computergestützte Methoden zurück, um bei Johann Christian Kittels Mehrbass-Chorälen die häufigsten Klauselkombinationen der Außenstimmen zu eruieren.
In diesem Jahr wurden wieder zahlreiche Workshops angeboten, davon mehrere im Bereich ›Digitales‹: Egor Polyakov (Leipzig) stellte eine neue Version von CAMAT vor und teilte seine neuesten Programmier-Hacks mit der Community. Zusammen mit Christoph Finkensiep (Amsterdam) gab er einen weiteren Workshop über symbolische KI-Implementierungen im Bereich der Musik. Pia Steuck (Weimar) sprang kurzfristig für Jörn Arnecke (Weimar) ein und führte dem Publikum einen Musikautomaten vor, der Stile von Schubert bis Scott Joplin nachahmt. Die Entwicklungen sind faszinierend und beängstigend zugleich, was zu lebhaften Diskussionen mit dem Publikum führte. Christian Kämpf (Dresden) richtete sich mit seinem Beitrag »Digitales Publizieren im Fachrepositorium musiconn.publish« an Musiktheoretiker*innen, die direkt vor einer Publikation ihrer Arbeiten stehen, und Wendelin Bitzan (Düsseldorf) leitete einen hands-on Workshop zur Open Music Academy.
Der zweite Konferenztag begann mit einer beeindruckenden Keynote von Ulrich Kaiser (München), der die dynamischen Veränderungen des digitalen Wandels in der Musiktheorie beleuchtete. Erstaunlich war die Interaktion zwischen ChatGPT und Udio, die aufzeigte, wie KI und digitale Tools die musiktheoretische Praxis in naher Zukunft verändern werden. Kaiser forderte dazu auf, sich ernsthaft mit diesen Entwicklungen auseinanderzusetzen, und warnte vor einem dystopischen Szenario, in dem das Fach in der Zukunft seine Existenzberechtigung verlieren könnte. Im Anschluss an seinen Vortrag entwickelte sich eine angeregte Diskussion im Plenum.
Einen praktischen Ansatz zu den von Kaiser aufgezeigten Themen verfolgte Konstantin Bodamer (Düsseldorf), der die aktuelle Situation der Musiktheorie im Klassenzimmer im Kontext der digitalen Transformation darstellte. Er zeigte auf, wie wichtig der Gebrauch neuer digitaler Werkzeuge wie Moodle, Ilias und Smartboard ist, um den Enthusiasmus der Studierenden zu steigern, und wie nützlich Online-Übersetzungswerkzeuge wie DeepL sind, um sprachliche Herausforderungen der musiktheoretischen Terminologie zu verringern, die ausländische Studierende oft erleben. Bodamer teilte seine Erfahrungen mit verschiedenen Konzepten und wies darauf hin, welche hohe Bedeutung die digitale Transformation für die Didaktik der Musiklehre hat, insbesondere beim Satzlehreunterricht, bei Höranalyseaufgaben und der Erstellung von Stilkopien.
Eine zum weiteren Nachdenken anregende Diskussion über die Digitalisierung der Musiktheorie wurde von Immanuel Ott (Mainz) initiiert. Er konzentrierte sich darauf, darzustellen, wie sich die Entwicklung der generativen künstlichen Intelligenz auf die Musiktheorie auswirkt. Da neue Werkzeuge der künstlichen Intelligenz mittlerweile in der Lage sind, Werke zu produzieren und bestimmte Stile auf sehr überzeugende Weise zu imitieren, argumentierte Ott, dass der Unterscheidungswert einer menschlichen Komponente in einem Musikwerk nun im Umkreis des Begriffs der Intentionalität diskutiert werden solle, d.h. im Kontext der Absichten von Komponist*innen und nicht in rein technischen Begriffen. Den Bereich ›Digitales‹ berührte auch der Vortrag von Martin Grabow (Mannheim). Er sprach über das Komponieren im Stil von Conlon Nancarrow und reflektierte darüber, wie ältere Formen digitalen Denkens auch noch für den heutigen Stand der Digitalisierung relevant sein können.
Chopin
Angesichts der Nähe des Kongressortes zur polnischen Grenze lag ein Schwerpunkt des Cottbuser Kongressprogramms auf der Beschäftigung mit Frédéric Chopin. In einer Keynote sprach Halina Goldberg (Bloomington) über Chopins Lehrer Józef Elsner und illustrierte dessen Theorie anschaulich anhand ihrer Spuren in Chopins Musik. Am Folgetag präsentierte sie ihr 2023 erschienenes Buch Polish Jewish Culture Beyond the Capital: Centering the Periphery. Izabela Maria Jutrzenka-Trzebiatowska (Krakau) thematisierte in ihrem Vortrag den Einfluss von Chopins Lehrern Elsner und Václav Vilém Würfel auf seine sogenannten Warschauer Polonaisen, während Marvin Balzer (München) Sequenzen in Chopins Musik mithilfe von Adam Riccis Systematik näher untersuchte. Magdalena Oliferko-Storck (Bern) zeigte in ihrem Vortrag, dass improvisatorische Elemente bzw. Gesten ihren Weg in die Kompositionen beispielsweise von Chopin oder Johann Nepomuk Hummel fanden, während gleichzeitig das Improvisieren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend aus der Mode kam.
Umbrüche
Im Rahmen der übergreifenden Thematik »Umbruch in der zeitgenössischen Musiktheorie« fanden zahlreiche interessante Vorträge statt, die sowohl historische als auch aktuelle und innovative Perspektiven beleuchteten. Lucia Maloveská (Prag) thematisierte die Herausforderungen der modernen Musiktheorie im tschechischen Diskurs und gab damit einen Einblick in regionale Besonderheiten. Christian Groß (Leipzig/Freiburg) stellte einen Vergleich zwischen den Aufbrüchen des Fachs Musiktheorie in Stuttgart 1970 und Berlin 2000 an und erläuterte, inwieweit diese Aufbrüche Ähnlichkeiten aufweisen und was sie grundlegend unterscheidet. Kilian Sprau (Berlin) legte die Relevanz des ›performative turn‹ für die Musiktheorie dar und stellte die Frage, ob Struktur ohne Noten auskommen kann. Anne Hameister gab Einblicke in die Perspektiven einer polyphonen Musikgeschichte und skizzierte mögliche Wege in die Zukunft der Musiktheorie. Wanyi Li (Manchester) präsentierte eine multi-parametrische Analyse von Beethovens späten Werken, insbesondere des Streichquartetts op. 132/I, und hob hypermetrische Aspekte hervor. Ein Dialog über den Energie-Begriff in Musikpsychologie und Physik wurde von Thomas Noll (Barcelona) und Peter beim Graben (Berlin) initiiert.
Transkulturelle Musiktheorie
Wiederum ein Vortragspanel widmete sich der Transkulturellen Musiktheorie, hier mit dem Ziel, eigene Erfahrungen und Ansätze auszutauschen und Anregungen für das bisher weitgehend vernachlässigte Gebiet zu geben. Tiago de Oliveira Pinto (Weimar) diskutierte die Ursprünge des Begriffs Transkulturalität mit Blick auf die Arbeiten von Fernando Ortiz aus den 1940er Jahren und stellte die Schwerpunkte der Weimarer transkulturellen Musikwissenschaft vor. Ehsan Mohagheghi Fard (Weimar/Salzburg/Leipzig) sprach über seine positiven Erfahrungen bei der Aneignung iranischer mikrotonaler Gesangstraditionen im Gehörbildungsunterricht. Stephan Schönlau (Berlin/Dresden) stellte seine neusten Forschungen zu den Auswirkungen der europäischen Dur-Moll-Dualität und von Ostinatobass-Strukturen auf südafrikanische Popmusik im Kontext von kultureller Hegemonie und Kolonialismus vor. Schönlau präsentierte auch die Untersuchungen seiner Kollegin Sarvenaz Safari (Berlin/Leipzig), die kurzfristig verhindert war. Safari hatte die Möglichkeit erkundet, eine Theorie des Ornaments im Bereich der transkulturellen Musiktheorie zu entwickeln, in der dem Ornament von jeher eine wesentliche Rolle zukommt. In einer Diskussionsrunde am Ende des Panels ging es um Perspektiven auf die aktuelle Forschung und Lehre zu dem Reservoire nicht-westlicher Musiktheorien. Zum thematischen Kontext des Panels gehörte auch der Vortrag von Wei Shen (Berlin). Er sprach über Dilemmata bei der Verbindung traditioneller chinesischer Musikelemente mit westlichen Musiksystemen und machte einen Vorschlag dazu, wie sich Kompatibilität herstellen lasse.
Fin de siècle und Studien zur Sonatenform
Im Themenbereich ›Fin de siècle‹ rückte Maria Hector (Berlin) die Rhythmustheorien von Mathis Lussy und Hugo Riemann ins Zentrum und analysierte deren Einfluss auf die rhythmusbewegte Musiktheorie um 1900, während sich Ariane Jeßulat (Berlin) mit dem kombinatorischen Kontrapunkt im späten 19. Jahrhundert auseinandersetzte, bei dem formelhafte Kontrapunktik des späteren 17. Jahrhunderts versteckt (oder abstrakt) aufgegriffen wurde. Sebastian Pstrokoński-Komar (Leipzig) erläuterte, inwiefern sich das letzte Klavierstück aus Schönbergs Opus 19 als Mahler-Apotheose und Transzendenzausdruck verstehen lässt, während Tobias Hauser (Freiburg) Mahlers Verwendung der Kadenz im Adagio der 10. Sinfonie analysierte. Angeregt von Schönbergs Modelle[n] für Anfänger hatte sich Martin Hecker (Essen/Leipzig/Hannover/Bremen) auf die Suche nach Beispielen für modellhaft ausformulierte musikalische Gesten in Schönbergs eigenen Kompositionen begeben. Über Entwicklungen im Liedschaffen von Carl Nielsen um 1900 sprach Sanne Lorenzen (Graz), und Georg Thoma (Freiburg/München) führte Tonfeldanalysen von Debussys Klavierwerken vor. Dimitrios Katharopoulos (Graz) thematisierte die Ästhetik und Metrik von Scherzi vom Fin de siècle. In dessen Umkreis lag der thematische Schwerpunkt mehrerer dieser Sektion zugeordneter Beiträge wie Jakob Kasakowskis (Saarbrücken) Diskussion von Tschaikowskys Notizen und Kommentaren zur Harmonielehre, Julian Caskels (Essen) Beleuchtung der Molltöne und -theorien bei Brahms mithilfe der Neo-Riemannian Theory, Franz Kaern-Biederstedts (Leipzig) Nachvollzug der Dramaturgie von Form und Virtuosität in Liszts unvollendeter Fantasie über Themen aus Figaros Hochzeit und Don Juan von Mozart sowie Benjamin Weinholds (Freiburg) Diskussion der Harmonik und Satztechnik in Wagners fünftem Wesendonck-Lied. Umgekehrt entstanden Joan Manéns Fantasia-Sonate und ihre Orchestrierung, die Daniló Kunze (Weimar) vorstellte, erst Jahrzehnte nach der Wende zum 20. Jahrhundert.
Die Keynote zur Sektion über Musik und Musiktheorien des Fin de siècle hielt Stefan Keym (Leipzig). Er zeigte an zahlreichen Beispielen auf, inwiefern die vielgestaltigen Realisierungen von Sonatenformen um 1900 eher als Transformationen denn als Deformationen des klassischen Sonatenmodells zu verstehen sind, wobei sich solche Transformationen zumeist im Bereich von Dynamik und Tempogestaltung finden. Eine weitere Einlassung auf die Sonatenform kam von Felix Baumann (Zürich), der sein Buch Rhythmisch-energetische Intensivierung vorstellte. Dabei gerieten insbesondere die zunehmende rhythmische Verdichtung und Dramatisierung in Sonatenexpositionen bei Komponisten der Wiener Klassik in den Blick. Laurence Sinclair Willis (Graz) nahm genauer unter die Lupe, wie die Gestaltung von Durchführungen klassischer Sonaten in neueren Theorien der musikalischen Form behandelt wird.
Aktuelle Musik, Komponistinnen
Benjamin Lang (Rostock) präsentierte sein Buch the time is out of joint: Transkomposition und Anachronismus im Werk von Johannes Schöllhorn, während Sophia Susanne Westenfelder (Rostock) Einblicke in ihr Dissertationsprojekt über Thomas Adès gab. Sie zeigte auf, wie Adès im Stück Traced Overhead tonale Anklänge mittels historischer Satztechniken evoziert. Keith Waters (Boulder, Colorado) und Brian Levy (San Diego, Kalifornien) stellten ihr Buch über die Theoretisierung von Jazz-Improvisation anhand historisch gewordener Exempla beispielsweise von Charlie Parker vor, während Barbara Bleij (Amsterdam) die Intertextualität in Wayne Shorters Stück Lester Left Town analysierte. Anne Melzer (Mainz) untersuchte, wie sich Theo Brandmüllers eigenes Improvisieren an der Orgel in seinen Kompositionen niederschlug. Zum Bereich der aktuellen Musik im engeren Sinn gehörte Julia Freunds (Hamburg) Vortrag über Claudia Molitors Werk You touched the twinkle on the helix of my ear (2018). Freund hatte es unter der Fragestellung analysiert, wie sich musikalische Form bei intermedialen Werkkonstellationen einstellen kann. Werke von Komponistinnen standen auch im Mittelpunkt weiterer Vorträge. Johanna Kulke (Luzern) widmete sich der Frage, wie ein Original von seiner Bearbeitung unterschieden werden könne, exemplifiziert anhand einer Analyse der zwei Fassungen des Streichquintetts d-Moll von Emilie Mayer. Lisa-Marie Haid (Weimar) erkundete stilübergreifende Einflüsse in den Werken von Pauline Viardot und beschrieb letztere als »Vermittlerin von Kulturen«. Die Musik von Carola Bauckholt und deren Komponieren im Spannungsfeld zwischen ästhetischem Lernen und künstlerischem Forschen beleuchtete Jürgen Oberschmidt (Heidelberg). Er thematisierte zudem die Problematik des Wissenstransfers in selbstbezüglichen Systemen, wobei er auf seine Erfahrungen an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg zurückgriff.
Filmmusik, Oper und Hörspiel
In der Sektion über Filmmusik, Oper und Hörspiel stellte Susanne Hardt (Dresden) den Einfluss in den Mittelpunkt, den Rezeptionsgewohnheiten auf die konkrete Wirkung von Filmmusik haben können. Elke Reichel (Weimar) präsentierte Beobachtungen zu Kompositionstechniken im Film unter dem schönen Titel »Gute Musik zum bösen Spiel«. Im Bereich Oper analysierte Yumeng Wu (Berlin) vergleichend und vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund zwei Inszenierungen (Dresden 1986 und 2015) von Friedrich Goldmanns Opernphantasie R. Hot bzw. Die Hitze. Anna Hausmann (Zürich) präsentierte eine Analyse von Arien aus Telemanns Oper Miriways. Sie unterteilte diese in affektive und argumentative Arien und verglich sie aus musiktheoretischer Perspektive. Schließlich beschäftigte sich Johannes Kretschmer (Leipzig/Halle) mit musikalischem Expressionismus im Hörspiel. Sein Beispiel war eine 1930 entstandene Musik zu Alfred Döblins Geschichte vom Franz Biberkopf, komponiert von dem Schönberg-Schüler Walter Goehr.
Weitere freie Beiträge
In der Sektion freier Beiträge waren auch einige Vorträge über musiktheoretische Standardbereiche zu hören, jedoch aus neuartigem Blickwinkel. Über die Rolle von Sextakkorden im Kantionalsatz und deren theoriegeschichtliches Umfeld sprach Simon Fuhrmann (Saarbrücken) anhand der Becker-Psalmen von Heinrich Schütz. Inwiefern die Subdominante in Rameaus Theorie ein Problem darstellte, diskutierte Alexander Jakobidze-Gitman (Witten/Herdecke), indem er die Geschichte von Rameaus Argumentation über Rekurse auf die Obertonreihe, auf die für die spekulative Musiktheorie fundamentale geometrische Progression bis hin zu den Konsequenzen von Septakkordketten nachvollzog. Seren Stevenson (Zürich) befasste sich mit Gottfried Heinrich Stölzels Canon polymorphus, der Kombinationen in unterschiedlichen zeitlichen und intervallischen Abständen sowie in variierender Stimmenzahl ermöglicht. Der Referent zeigte auf, wie sich Stölzels Verfahren auf chromatische Melodien übertragen lässt; abgerundet wurde sein Vortrag durch einen den Ansatz veranschaulichenden, im Plenum komponierten Kanon. Philipp Zocha (Mainz/Freiburg) beleuchtete die Lehrtradition der Prager Orgelschule vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, wo man »[d]enkende Organisten statt mechanische[r] Ziffernspieler« ausbildete. Matthew Boyle (Corvallis, Oregon) thematisierte, wie Beethoven im Finale seiner 9. Sinfonie eine eigentlich für Rossini typische, Beifall sichernde Schlussgestaltung mit einer sogenannten ›Bettelcadenz‹ benutzt, die zudem laut und schrill als (wie man damals sagte) ›türkische Musik‹ orchestriert ist. David Florian Müller (Stuttgart) beschäftigte sich mit den Anverwandlungen von Personalstilen durch Theodor Kirchner in dessen Ideale betiteltem Zyklus von fünf Klavierstücken op. 33. Claudia Patanè (Rom) analysierte Tempo und Performance im ersten Satz von Tschaikowskys Symphonie pathétique.
Zum Rahmenprogramm des Kongresses gehörte ein weiteres Konzert am Abend des zweiten Kongresstages. Dozierende der Universität Cottbus-Senftenberg sangen und spielten, passend zu dem am östlichen Rand des deutschen Sprachraums gelegenen Austragungsort, unter anderem Musik von Chopin sowie von den sorbischen Komponisten Korla Awgust Kocor und Detlef Kobjela: Kocors ursprünglich für Violoncello und Klavier komponierte, hier aber für Violine und Klavier arrangiert zu hörende Cantilena Nr. 3 sowie Kobjelas (stark nach Janáček klingendes) Streichquartett SACRO. Zum Kongressschwerpunkt ›Fin de siècle‹ passend, enthielt das Programm außerdem Eichendorff-Lieder von Ludwig Thuille, mit Wagners Wesendonck-Lied »Im Treibhaus« deren um 1900 bereits nicht mehr ganz zeitgenössisches Modell und Alexander Skrjabins sehr schwierige 5. Klaviersonate.
Zu den Autor*innen
TUNA DAĞDELEN studierte Wirtschaft, Kulturwissenschaften und Komposition in Istanbul, Ankara und Leipzig. Außerdem nahm er an verschiedenen Kursen und Meisterkursen für Chorleitung teil. Seit 2023 studiert er Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig und arbeitet als Musiklehrer an verschiedenen Musikschulen sowie als Hilfskraft im Erasmusbüro der HMT Leipzig.
CHRISTIAN GROß, geboren 1995 in Mülheim an der Ruhr, studierte Kirchenmusik, Orgel/Improvisation, Musiktheorie und Chorleitung in Leipzig, Freiburg und Trossingen. Er erhielt Preise und Auszeichnungen bei Orgelwettbewerben in Schlägl (A), St Albans (GB), Angers (F), Schwäbisch Gmünd, Köln und Kaliningrad (RUS) sowie beim künstlerischen Wettbewerb der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH). Er ist ehemaliger Stipendiat der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk sowie aktuell der Promotionsförderung der Studienstiftung des deutschen Volkes. Christian Groß war als musikalischer Assistent an der neuen Propsteikirche in Leipzig, als künstlerischer Leiter der Universitätsmusik Bochum und als Regionalkantor der Diözese Rottenburg-Stuttgart tätig. Nach Lehraufträgen in Berlin und Rottenburg unterrichtet er derzeit Musiktheorie und liturgisches Orgelspiel/Improvisation in Freiburg und Leipzig. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der deutschen Musiktheorie um 1970.
JOHANNA KULKE studierte in Luzern Violine, Klavier, Komposition und Dirigieren. Als Konzertmeisterin spielte sie mit dem Festivalorchester des Stellenbosch International Music Festival sowie mit den Operettenorchestern Sursee und Burgäschi in der Schweiz. Dazu tritt sie regelmäßig als Solistin und Kammermusikerin auf.
Neben ihrem zweiten Master in Musiktheorie dirigiert sie einen Chor und unterrichtet Violine, Klavier und Komposition. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich aktuell mit den Violinsonaten und Sinfonien der Komponistin Emilie Mayer.
ALENA MÜLLER wuchs in Zürich auf und absolvierte nach der Matura das Pre-College an der Musikschule Konservatorium Zürich. 2019 nahm sie ihr Bachelorstudium mit Hauptfach Musiktheorie an der Zürcher Hochschule der Künste auf und schloss dieses 2022 mit Auszeichnung ab. Dort studiert sie zurzeit im konsekutiven Masterstudiengang Musiktheorie bei Johannes Schild und Burkhard Kinzler. Neben dem Studium arbeitet sie als Ballettkorrepetitorin.