»Komponieren für Kinder – Komponieren mit Kindern«: XIV. Mitteldeutsche Tagung Musiktheorie und Hörerziehung

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

28.02.–01.03.2020

Tagungsprogramm

Arne Lüthke


Am Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften der Universität Halle-Wittenberg fand die in den Vorjahren meist in Weimar angesiedelte Mitteldeutsche Tagung in Kooperation mit der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, vertreten durch Jörn Arnecke, und der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy Leipzig, vertreten durch Gesine Schröder, statt (Tagungsleitung: Jens Marggraf).

Gesine Schröder (Leipzig) umriss im Eröffnungsvortrag zunächst die Geschichte des Komponierens für Kinder unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer auf Kinder ausgerichteten Ästhetik des Komponierens. Besprochen wurden Kompositionen von Heinrich Faber und Cyriacus Schneegaß zum Erlernen der Solmisation an protestantischen Lateinschulen sowie Werke jüngeren Datums: u.a. Dieter Schnebels Schulmusik und Johannes Maria Stauds Jugendorchester-Stücke Fugu I + II, deren symmetrische, nicht oktavidentische Reihen und Tonwiederholungen Schröder als gegensätzlich zur Wiener Schule herausstellte. Anna Dalos (Budapest) sprach in ihrem Vortrag »Bartók und die Kinder« über das klavierpädagogische Schaffen Bartóks, insbesondere über den im Rahmen des Klavierunterrichts für Bartóks Sohn entstandenen Mikrokosmos, und hob dabei die Bedeutung der Sammlung vor allem als Klavierschule (neben dem Wert als Kompositionsschule) mit Blick auf die Aspekte Handunabhängigkeit und Konzentrationssteigerung hervor. In einer humorvollen Mischung aus Vortrag und Gesprächskonzert präsentierte Steffen Schleiermacher (Leipzig), der am Leipziger Gewandhaus für die Konzerteihe musica nova verantwortlich zeichnet, Stücke für Kinder (bzw. Stücke mit auf die Kindheitssphäre verweisenden Titeln) von in der DDR wirkenden Komponisten wie Hanns Eisler, Reiner Bredemeyer oder Kurt Schwaen sowie von George Crumb und Helmut Lachenmann und diskutierte an ihnen auch spieltechnische Aspekte wie die Verwendung des Sostenuto-Pedals. Ausführliche aufführungspraktische Erläuterungen zum Musizieren im Klavierinnenraum, zum Fortepiano-Spiel, zu Clustern und Flageoletts folgten an Schleiermachers 12 Klanglandschaften im Klavier. An den einzelnen Stücken dieses Zyklusʼ kann jeweils eine moderne Spieltechnik auf dem Klavier erprobt werden – beim letzten Stück (Auf der Autobahn) mit ironischem Blick auf Minimal Music. Die durch eine krankheitsbedingte Absage entstandene Lücke füllte Elke Reichel (Weimar) spontan und sprach über die gemeinsam mit Lehramtsstudierenden entwickelte Konzeption und Durchführung von Musiktheaterprojekten an Schulen und Musikschulen. Bezüglich der Integration dieser Projekte in den Schulalltag ging Reichel auf das Modell der Community of Practice von Etienne Wenger ein. Jens Marggraf (Halle) referierte über das Spätwerk Leoš Janáčeks und setzte in Auseinandersetzung mit dessen Oper Das schlaue Füchslein modal geprägte Skalen in Beziehung zum kindlichen Topos. Sarvenaz Safari (Leipzig) berichtete von ihrer Arbeit mit Schulklassen im Rahmen des kompositionspädagogischen Programms Klangradar und ließ die Tagungsteilnehmer*innen innerhalb eines Workshops an deren Erfahrungen teilhaben. Einzelne von Teilnehmenden vorgeschlagene bildhafte Wörter wurden zu abstrakteren Klängen und schließlich zur graphischen Notation geführt. Der Verfasser dieses Berichts sprach über Vor- und Nachteile von Musiklehre-Inhalten mit Blick auf die Entfaltung oder auch Einengung von Kreativität beim Improvisieren und Komponieren mit Grundschulklassen. Viele der in Unterrichtsmaterialien angebotenen Inhalte zum Komponieren seien eher Anwendungsaufgaben für eine anderweitig nützliche, praktische Musiklehre. Gewisse Vorgaben scheinen trotzdem sinnvoll, um in Gruppenarbeiten musikalisch ergiebige Klanggeschichten oder Improvisationen entstehen zu lassen. Der Vortrag von Hanna de Boors (Halle) zum Liedkomponieren für Klasse und Kinderchor stand unter Maria Montessoris Motto »Hilf mir, es selbst zu tun« und bezog chorpädagogische Überlegungen und Bedingungen des schulischen Alltags mit ein. Laut de Boors dient gerade das Selberschreiben aufgrund der Möglichkeit, anlassbezogene Texte ‒ beispielsweise mit Bezug zu Halle ‒ zu entwerfen, der Aufrechterhaltung der Singmotivation der Kinder. Im Rahmen der nachmittäglichen Podiumsdiskussion sprachen Britta Giesecke von Bergh (Leipzig), Sarfenaz Safari, Gesine Schröder und Jens Marggraf zum Thema »Hochkultur für Kinder – auch wenn sie nicht so lange stillsitzen«, wobei zunächst ausgelotet werden musste, was Hochkultur denn eigentlich sei. Unter reger Beteiligung des Publikums wurde über die pädagogische Vorbereitung von Schüler*innen auf Konzert- und Opernbesuche, über Freiwilligkeit und sanften Zwang bei solchen Unternehmungen sowie über unterschiedliche Vermittlungsschwierigkeiten von Darbietungsmusik debattiert, bei welcher man entweder stillsitzt oder sich als Schüler aktiv beteiligen kann.

Wilfried Hiller (München) erzählte in einem ausführlichen Gespräch, bei dem man schnell die Zeit vergaß, mit Gesine Schröder und Jens Marggraf u.a. von seinen kompositorischen Anfängen in der Kindheit, von der durch Missbrauch geprägten Internatszeit im Benediktinerkloster, dem Kennenlernen von Michael Ende während seines Aufenthalts an der Villa Massimo in Rom sowie einer daran anknüpfenden langjährigen fruchtbaren Zusammenarbeit. Hillers vielfach gespieltes Stück Norbert Nackendick oder Das nackte Nashorn (Text: Michael Ende) wurde am Samstagabend eindrucksvoll durch Studierende des Hallenser Musikinstituts (12 Solisten, 10 Instrumentalisten) unter Leitung von Jens Marggraf im pfiffig umgebauten Foyer zur Aufführung gebracht (Regie: Hugo Wieg). Es bleibt zu hoffen, dass die angedachte Wiederaufführung in pandemiefreier Zeit nachgeholt werden kann.

Anhand der originalen Handschriften zu Johann Sebastian Bachs Clavier-Büchlein vor Wilhelm Friedemann Bach diskutierte Martin Erhardt (Halle) die Zusammenarbeit von Johann Sebastian, Friedemann sowie möglichen weiteren Autoren, verbunden mit Demonstrationen am Cembalo. Aristides Strongylis (Leipzig) berichtete vom Beethoven-Experiment des MDR »Vom Klassenzimmer ins Sinfoniekonzert«, bei dem er gemeinsam mit einer Klasse des Gymnasiums Bischofswerda (Sachsen) eine Komposition für das MDR-Sinfonieorchester entwickelte. Strongylis ging insbesondere auf die Herausforderung ein, in wenigen Stunden eine Komposition auf improvisatorischer Grundlage zu entwickeln und zu notieren. Dabei musste er unfreiwillig Entscheidungen der Schüler lenken, um zu einem fertigen Stück zu gelangen, was beim Publikum jedoch Unterstützung fand. Einen beeindruckenden Abschluss bildete die Vorstellung der Komponistenklasse Halle durch Karoline Schulz und Susanne Zeh-Voß, die die Entwicklung von Kreativität und das Komponieren mit Kindern als Teil einer ganzheitlichen Bildung verstehen. Nach Ausführungen zu den Anfängen der durch Hans-Jürgen Wenzel 1976 gegründeten Kinderkomponistenklasse folgte die Beschreibung der heutigen Arbeit: der regelmäßige Unterricht am Konservatorium Halle und die stark nachgefragten altersgemischten Ferienkurse einschließlich tägliches Komponieren, Experimentieren, gemeinsames Musikhören, Instrumentenvorstellung, Chorsingen, Wandern, Tischtennis spielen etc.

Dem Tagungsleiter Jens Marggraf gebührt ebenso wie den Studierenden Dank für die technische Unterstützung und die hervorragende kulinarische Betreuung.

(Mitarbeit: Elke Reichel)