Populäre Musik und ihre Theorien: Begegnungen – Perspektivwechsel – Transfers

17. Jahreskongress der GMTH, gemeinsam mit der 27. Arbeitstagung der Gesellschaft für Popularmusikforschung (GfPM)

17.–19.11.2017

Universität für Musik und darstellende Kunst Graz

Programm

Lea Blumberg und Philipp Zocha

Der 17. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie unterschied sich in mehrfacher Hinsicht von den vorangegangenen. Zum ersten Mal wurde der Kongress gemeinsam mit der Gesellschaft für Popularmusikforschung e.V. ausgerichtet und fand zu dem Thema »Populäre Musik und ihre Theorien – Begegnungen, Perspektivwechsel, Transfers« vom 17. bis 19. November 2017 in Graz statt. Somit war es auch der erste Jahreskongress, der an einen Veranstaltungsort zurückkehrte. André Doehring (GfPM) und Christian Utz (GMTH) als Kongressleiter sowie alle Mitwirkenden haben für einen reibungslosen und sehr angenehmen Kongressablauf gesorgt.

Die Vielfältigkeit der theoretischen Zugänge fand bereits im Titel Ausdruck und stimmte die Kongressbesucher von Beginn an auf einen regen Austausch zwischen den Gesellschaften ein. Als besondere Herausforderung auf musiktheoretischer Seite erwies sich die Anwendung historischer Zugänge und Analysemethoden auf populäre Musikstile – Stile, die bisher in der deutschsprachigen musiktheoretischen Diskussion eine eher untergeordnete Rolle spielten.

Die 75 Kongressbeiträge waren dabei in fünf Sektionen untergliedert, die jeweils mit einer Keynote eröffnet wurden. Sektion 1 fasste Beiträge zusammen, die sich mit der Analyse populärer Musik beschäftigten, in Sektion 2 wurden Improvisation und Theorie gegenübergestellt und zusammengebracht. Sektion 3 nahm speziell afroamerikanische Musik in den Blick, während Sektion 4 weiter gefasst war und den Transfer zwischen populärer Musik und sogenannter Kunstmusik thematisierte. Neben zwei größeren Panels und einigen Buchvorstellungen fanden in der fünften Sektion auch freie Beiträge ihren Platz.

Ganz im Sinn des Kongress-Mottos wurden in der ersten Sektion (Analyzing Popular Music) vielfältige analytische Zugänge vorgestellt, die neben klassischen Analysekategorien auch sprach- oder sozialwissenschaftliche Annäherungen einschlossen. Eine nicht minder breite Palette zeigte dabei die Auswahl der untersuchten Musikstile, wobei sich eine erfreuliche Anzahl an Beiträgen der aktuell gegenwärtigen Musikproduktion widmete. Trotz dieser aufschlussreichen Vielfalt an analytischen Perspektiven zeichneten sich jedoch auch gemeinsame Tendenzen ab. So wurden beispielsweise unter dem Begriff stratification verschiedene musikalische Strukturen und deren Koordination untereinander insbesondere in Pop- und Rocksongs vielfältig diskutiert. Zentrale Impulse hierzu gab neben Nicole Biamonte (Montreal), die mit ihrer Keynote die Vortragsreihe eröffnete, der Beitrag von John Covach, der in seine Überlegungen zur Analyse von Texturen in Rockmusik ebenfalls unterschiedliche Formen der hörenden Rezeption der Musik einbezog und daraus resultierende Unterschiede in analytischen Positionen beleuchtete.

Einen stilistisch sehr weiten Bogen spannte Sektion 2, thematisierte sie mit dem Thema Improvisation doch eine seit der Renaissance bis hin zu vielen Genres populärer Musik zentrale Musizierform. Keynote-Speaker Martin Pfleiderer stellte verschiedene Zugangsweisen zur Erforschung improvisatorischer Vorgänge vor. Er nahm dabei besonders performative Aspekte in den Fokus, die vor allem beim Improvisieren in einer Gruppe ausschlaggebend für das Ergebnis sind, gleichzeitig aber auch die Untersuchung dieser Praktiken erschweren. Thematisiert wurde darüber hinaus auch in weiteren Beiträgen die Kombination aus spontanen Prozessen und erkennbaren Mustern in der Improvisation. Klaus Frieler stellte eine Untersuchungsmethode vor, Patterns verschiedener Längen in Charlie Parkers Soli zu finden und zu kategorisieren. Das Phänomen von Mustern in der Improvisation ist auch in älteren Stilen präsent und zeigte sich in Vorträgen zur algorithmischen Generierung von Kanons sowie in Derek Remes Vortrag über Henry Challan, der anhand seiner Partimenti typische Stimmführungsmuster des französich-romantischen Stils lehrte.

Am Beispiel der Dance Bands in Großbritannien führte Catherine Tackley in die vielfältigen Formen des kulturellen Austauschs zwischen britischen und afroamerikanischen Musikkulturen ein, wobei sie insbesondere das Phänomen der (Schiffs-)Reisen als Raum für einen multikulturellen Austausch fokussierte. In den sieben weiteren Beiträgen der dritten Sektion wurden hauptsächlich Untersuchungen einzelner Rezeptionsphänomene präsentiert. Darüber hinaus gelang es Nico Schüler, am Beispiel Jacob J. Swayers einen Einblick in die Auseinandersetzung afroamerikanischer Musiker mit dem Selbstverständnis ihrer Kultur sowie deren Wahrnehmung in der ›weißen‹ Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts zu geben.

Sektion 4 thematisierte den Transfer zwischen populärer Musik und ›Kunstmusik‹. Vor allem in der Musiktheorie wurde die Absicht deutlich, dieses Spannungsfeld auch an historischen Musikstilen zu beleuchten. So eröffnete schon Keynote-Speaker Hartmut Fladt mit einer Zusammenstellung von Beispielen aus verschiedensten Jahrhunderten und Gattungen. Auch bei den anderen, überwiegend aus dem musiktheoretischen Bereich stammenden Referent*innen zeigte sich diese Tendenz. Während bei älteren Stilen vor allem Tanzsätze oder populäre Klangfortschreitungsmodelle in den Blick genommen wurden, versuchten andere Referent*innen vergleichbare analytische Zugänge auf Filmmusik oder andere populäre Stile zu übertragen.

Eine facettenreiche Auseinandersetzung mit populären Musikkulturen erwartete auch die zahlreichen Besucher*innen des Konzerts am Samstagabend: Neben der Uraufführung von batsu gēmu für Ensemble, Elektronik und Video von Christof Ressi standen Werke von Matthew Shlomowitz (4 Stücke aus Popular Contexts für Piano und Sampler), Jennifer Walshe (Wash me Whiter than Snow für Violine, Violoncello und DVD) und Bernhard Lang (2 Stücke aus DW16: Songbook I) auf dem Programm. Diese fügten sich als Zeugnisse sehr verschiedener Umgangsformen mit populären (Musik-)Kulturen zu einem kurzweiligen und im besten Sinne unterhaltendem Konzert zusammen und reihten sich damit gewinnbringend in das übrige Kongressprogramm ein. Maßgeblich am Erfolg des Abends war dabei die souveräne Darbietung des anspruchsvollen Repertoires durch Studierende der Kunstuniversität Graz unter der Leitung von Wolfgang Hattinger beteiligt, die einen Einblick in die Kooperation der KUG mit dem Klangforum Wien und dem Ensemble szene instrumental gaben.

Mit zwei weiteren Aufführungen endete der Jahreskongress nach einer abschließenden Podiumsdiskussion, in der insbesondere die Relevanz und Aufgabe von Musiktheorie und populärer Musik in der Lehre besprochen wurde. Dabei verwies der Fokus auf die Vermittlung musiktheoretischer Inhalte in schulischen Lernumgebungen auf die erfreuliche Tendenz, die Kongressergebnisse auch für die musikalische Grundbildung nutzbar zu machen. So wurde neben der Hochschullehre insbesondere auch der Unterricht in den allgemeinbildenden Schulen thematisiert.

In der sich anschließenden Vergabe der Preise für den wissenschaftlichen und künstlerischen Wettbewerb konnten sich Daniel Serrano und Christian Tölle eines zahlreichen Publikums für die Aufführung der von ihnen eingereichten und mit einem 1. Preis bewerteten Kompositionen erfreuen. Einen 1. Preis erhielt außerdem Johannes Raiser für seinen Beitrag zum Aufsatzwettbewerb. In der steigenden Anzahl an Einsendungen sowie dem regen Interesse an der Präsentation der Ergebnisse zeichnet sich dabei ein erfreulicher Trend zur stärkeren Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchses ab. So bildete die Preisverleihung einen gebührenden Abschluss des gesamten Kongresses.

Der im Titel propagierten Vielfalt an Theorien populärer Musik hat der Kongress in der Zusammenschau mehr als Rechnung getragen und zu ebenso vielfältigen Begegnungen zwischen den beiden Forschungsdisziplinen geführt. Vor allem die breit gefächerten Genres der populären Musik und ihre rasante Weiterentwicklung tragen jedoch auch dazu bei, dass der wünschenswerte Transfer an einigen Stellen erschwert wird, und so waren die Verknüpfungen zwischen beiden Bereichen in einigen Beiträgen eher abstrakt als konkret. Die Schnittmenge an gemeinsamen Forschungsgebieten wurde nichtsdestotrotz deutlich. Diese bietet über den Grazer Kongress hinweg interessante Möglichkeiten der Anknüpfung und Vertiefung und lässt für die Zukunft auf weitere Begegnungen mit der Gesellschaft für Popularmusikforschung hoffen.