»Musiktheorie & Künstlerische Forschung«: 23. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie
Hochschule für Musik Freiburg (in Kooperation mit der HfM Saar)
22.–24.9.2023
Tagungswebseite (via archive.org)
Tobias Drewelius, Stefan Fuchs, Johanna Koerrenz, Anne Melzer, Alena Müller
Zum zweiten Mal nach 2007 fand der Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie in diesem Jahr an der Hochschule für Musik in Freiburg statt. Ebenfalls zum zweiten Mal wurde der Kongress in Kooperation zweier Hochschulen ausgerichtet – so zeichnete auch die Hochschule für Musik Saar (Saarbrücken) für den Kongress mit dem Thema »Musiktheorie und Künstlerische Forschung« verantwortlich.
Vorab wurde erstmals eine Autumn School durchgeführt, an der zehn ausgewählte Studierende unter der Leitung von Arabella Pare (Karlsruhe) und Benjamin Sprick (Hamburg) teilnahmen und sich intensiv mit dem Thema artistic research beschäftigten. Bereits am Donnerstag fanden außerdem einige Arbeitsgruppen-Treffen statt, sodass sich die perfekt vorbereiteten Räumlichkeiten der Freiburger Musikhochschule nach und nach füllten und über das gesamte Wochenende des 22.–24. September ca. 270 angemeldete Teilnehmende fassten.
Das offizielle Kongressprogramm begann am Freitagmorgen im gut besetzten Wolfgang-Hoffmann-Saal mit einer Begrüßung durch den Rektor der Hochschule, Ludwig Holtmeier, der als Gründungsmitglied der GMTH den Kongress sichtlich erfreut in seinem Haus eröffnete. Weitere Grußworte steuerten der Präsident der Gesellschaft, Florian Edler (Bremen), sowie der Leiter des Organisationsteams, Hans Aerts (Freiburg), bei.
Mit einem Nocturne von Frédéric Chopin leitete Hardy Rittner (Freiburg) die erste Keynote ein. Der Pianist, der – auf der Basis detaillierter Quellenforschung – ausgehend vom Musizieren auf dem Klavier musikalische Analyse betreibt, legte anhand einiger Beispiele dar, wie Musiktheorie für ihn zum »Tool für das praktische Musizieren« wird, und zeigte, wie durch artistic research fundierte Interpretationen der Werke entstehen.
Die zweite Keynote teilten sich Peter Dejans (Gent) und Ludwig Holtmeier (Freiburg). Während Dejans mit seiner Expertise aus der Arbeit als Direktor am Orpheus Instituut Gent ein Panorama auf Aspekte des Kongressthemas aufspannte, konzentrierten sich Holtmeiers Ausführungen auf die Frage nach der künstlerischen Forschung im Kontext der Bildungsgänge an einer Musikhochschule.
Zum Abschluss des Vormittags wurden die Gewinner*innen des 13. Aufsatzwettbewerbs der GMTH prämiert. Aus 18 Einsendungen wählte die Jury neben Elías Hostalrich Llopis (1. Preis) vier Nachwuchswissenschaftler*innen aus, deren Aufsätze nun zur Veröffentlichung der ZGMTH empfohlen wurden.
In vielen Vorträgen, von denen hier nur exemplarisch berichtet werden kann, wurde das Kongressthema kritisch beleuchtet. So ging Kilian Sprau (Berlin) der Frage nach, inwiefern künstlerische Forschung aus fachlich musiktheoretischer Sicht überhaupt möglich ist. Ausgehend von der konstruktivistisch geprägten Systemtheorie Niklas Luhmanns sei künstlerische Forschung zwar abzulehnen, jedoch sei ein zirkelförmig verlaufender Forschungsprozess mit unentwegtem Wechsel zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Perspektive denkbar. Bert Mooiman (Den Haag) dagegen definierte die Partiturlektüre und die im Zuge der Werk-Erarbeitung zu fällenden künstlerischen Entscheidungen bereits als eine Form der künstlerischen Forschung. Wie auf diese Weise die Analyse die spätere Interpretation eines Werkes beeinflussen kann, stellte er am Beispiel einer funktionalen Analyse Hans Kellers zu Wolfgang Amadé Mozarts Klaviersonate KV 310 dar.
Musik aus sechs Jahrhunderten wurde in den fünf Zeitfenstern der parallel laufenden Vorträge bedacht, wobei im Bereich der Renaissance ein Spanienschwerpunkt auffiel.
Zur Musik(theorie) des 17. und 18. Jahrhunderts gab es in mehreren Sektionen Impulse zu Aspekten der Analyse, Interpretation, Komposition und Lehre. Maurice Florin (Freiburg) zeigte eine Herangehensweise an die Stilkopie einer Partita für Violine nach Johann Sebastian Bach, die auch für Studierende im Nebenfachunterricht umsetzbar wäre. John Paul Ito (Pittsburgh) untersuchte Metrum, Strukturen und Phrasengestaltung in Bachs Cembalo-Konzerten, während Siavash Sabetrohani (Chicago, Berlin) anhand von schriftlichen Quellen, Musikdrucken, Manuskripten und der Ikonographie das »historisch informierte Umblättern« der jeweiligen Entstehungszeit von zu spielenden Stücken darstellte. Derek Remeš (Luzern) empfahl in seinem Beitrag, sich beim Unterricht im barocken Kontrapunkt – v.a. aus didaktischen Gründen – nicht an den komplexen und ausgedehnten Fugen J. S. Bachs zu orientieren, sondern vielmehr an kürzeren Orgelversett-Fugen. Er stellte die von ihm vorgenommene statistische Auswertung von 160 süddeutschen Orgelversetten vor. Sie ermögliche es, klare Aussagen zur Häufigkeit von bestimmten satztechnischen Phänomenen in Fugenexpositionen zu treffen und pauschale Beschreibungen zu umgehen. Einen Einblick in die Fundamentalbass-Didaktik – eine süddeutsche Variante der Partimento-Tradition – gewährte Frederik Kranemann (Freiburg) in seiner Vorstellung des Rottenbucher Orgelbuchs. Iris Domine (Basel) bemühte sich in ihrem Vortrag um eine Aufwertung des in Deutschland weitgehend unbekannten französischen Theoretikers Pierre-Joseph Roussier, der zwar immer noch im Schatten Jean-Philippe Rameaus und Georg Andreas Sorges stehe, aber durchaus eigene Ansätze zum zeitgenössischen Diskurs beigetragen habe.
Eine weitere Sektion widmete sich der Alten Musik. Elías Hostalrich Llopis (Basel) untersuchte kompositorische Strategien und den formalen Aufbau in der altspanischen Gattung Ensalada am Beispiel El Fuego von Mateo Flecha dem Älteren, wobei er einen Fokus auf den Zusammenhang der Strukturen von Text und kompositorischer Umsetzung legte. Beim Workshop »Iberischer Kontrapunkt« mit David Mesquita (Basel) hatte das Publikum die Möglichkeit, unter seiner Anleitung die Techniken des improvisierten Kontrapunkts, wie sie aus den iberischen Quellen überliefert sind, singend zu erfahren. Ya’qub Yonas Nathem El-Khaled (Graz) überzeugte die Zuhörerschaft mittels Videoaufnahmen von kläglich scheiternden Lautenisten, dass »unlautenistische Passagen« in Neusidlers Lautenmusik auch im 16. Jahrhundert nicht gemeistert werden konnten, da diese physiologisch nicht zu bewerkstelligen seien. Er folgerte daraus, dass es sich bei den betreffenden Passagen in gedruckten Lautenbüchern um einen ideellen Tonsatz handeln müsse.
In zwei Sektionen zur Neuen und zeitgenössischen Musik wurden verschiedene Perspektiven auf Analyse und Vermittlung geworfen. Mario Cosimo Schmidt (Halle, Hannover, Nürnberg) untersuchte, inwiefern ästhetische Studien von Boulez oder Stockhausen über das Schaffen des einzelnen Komponisten hinausweisen können. Martin Hecker (Essen, Hannover, Bremen, Leipzig) ging der Frage nach, auf welche Weise Montage, Wahl und Anordnung der Klänge sowie Auswahl und Behandlung des Textes eines Experimentalstücks von Pierre Henry die musique concrète prägten. Mit der Vermittlung zeitgenössischer Musik über Podcasts beschäftigte sich Anne Melzer (Mainz), die neben einigen grundsätzlichen Überlegungen ein Studierendenprojekt an der HfM Mainz vorstellte. Aus einem Forschungsvorhaben berichtete Fojan Gharibnejad (Leipzig). Sie diskutierte, inwiefern ein Zitat ein Fremdkörper ist oder bleibt und mit seinem neuen und alten Kontext interagiert. Evan David Martschenko (Cincinnati) untersuchte mit George Rochbergs Fassung von ars combinatoria drei nach 1970 entstandene Werke auf tonale und nicht-tonale figurae, deren Interaktion und Verschmelzung hin, wobei er gleichzeitig die Abgrenzung zu Polystilistik und Collage aufzeigte. Natasha López (Madrid) versuchte sich am Beispiel von Helmut Lachenmanns temA aus ihrer eigenen künstlerischen Perspektive als Sängerin an einer linguistisch-psychologischen Analyse der Wirkung von nicht-tonaler Musik auf Rezipierende.
Gleich mehrere Sektionen beschäftigten sich mit didaktischen Themen, von der vorhochschulischen Ausbildung an Musikschulen (interaktiv gestaltet durch die AG Musikunterricht) bis hin zu innovativen Unterrichtskonzepten aus der Hochschulpraxis. Vorgestellt wurden unter anderem eine im Sinne des Deeper Learning auf Projektarbeit basierende Unterrichtsgestaltung von Detmolder Hochschuldozierenden, die Vorteile und Möglichkeiten eines Gehörbildungsunterrichts an E-Pianos im »Klavierlabor« (Manuel Durão, Trossingen, Mannheim) und die Entwicklung eines Akkordteppichs, auf dem Harmoniefolgen im buchstäblichen Sinne abgeschritten werden können (Konrad Georgi, Freiburg).
Dass die neuen Medien für das Fach Musiktheorie mittlerweile eine zentrale Rolle spielen, zeigten die beiden Sektionen zu Digitalisierung und Methodik. Im Fokus der ersten Sektion stand dabei die (Hochschul-)Pädagogik: Wolfgang Drescher (Freiburg) stellte das Lassus Tricinium Project vor – eine Art interaktive Edition der 50 dreistimmigen deutschen Psalmvertonungen von Orlando di Lasso. Eindrucksvoll demonstrierte Drescher, wie nicht nur das Werkkorpus nach spezifischen satztechnischen Phänomenen durchsucht werden kann, sondern auch, wie sich mit nur ein paar wenigen Mausklicks Aufgaben für entsprechende Stilübungen erzeugen lassen. Sarah Platte (Freiburg), Tanja Spatz (Stuttgart), Moritz Heffter (Basel, Freiburg) und Markus Rombach (Freiburg) präsentierten die webbasierte KoALa-App, die es Unterrichtsteilnehmer*innen ermöglicht, auf niederschwellig-intuitive Weise Annotationen auf der Zeitleiste eines Hörbeispiels zu setzen. Die Anwendungsbereiche der App gebe es ebenso im pädagogischen Kontext wie etwa beim Format eines Live-Konzerts, dessen Verlauf das Publikum aktiv mitbestimmen könne. Pierre Basso (Karlsruhe) legte (unter anderem am Beispiel ChatGPT) den aktuellen Stand der Entwicklung von KI-Modellen für Zwecke der Musiktheorie dar, und zwar sowohl zur Erzeugung von Musik als auch zum didaktischen Einsatz. Martin Rohrmeier (Lausanne) entwickelte aus den Beziehungen verschiedener Tonfeldstrukturen im Tonnetz einen Ansatz zu einer formalisierten Tonfeldtheorie, den er anschaulich an hierarchischen Baumdiagramm-Analysen von stilistisch sehr diverser Musik darstellte. Egor Polyakov (Leipzig) schließlich stellte mit Audiospylt eine Auswahl an Python-basierten Tools zur kreativen Genese und Analyse von Audiodateien unter den Gesichtspunkten Rhythmus, Melodie und Spektrum vor; der Impuls zur Entwicklung dieser Werkzeuge war die Inkompatibilität der Software Audiosculpt mit modernen 64-bit-Rechnersystemen.
Ulrich Kaiser (München) wiederum nahm auf amüsante Weise einen Facebook-Shitstorm über sein vermeintliches Missverständnis des deutschen Urheberrechts zum Anlass, einen geschichtlichen Abriss der Entstehung freier Software und OER zu liefern. Wie zeitgemäße, an den schulischen Gegebenheiten ausgerichtete OER und v.a. ein besserer Musikunterricht an Schulen aussehen können, zeigte Kaiser im Panel »Musikpädagogik und Musiktheorie«, indem er insbesondere auf seine im Internet frei zugänglichen OpenBooks sowie auf die anwachsenden musikpädagogischen Materialien auf der Lernplattform Open Music Academy (OMA) verwies. Zuvor hatte Jürgen Oberschmidt (Heidelberg) den aktuellen Fokus auf die Passgenauigkeit im System Schule (»Noppensteinsystem«) kritisiert. Die zunehmende Verkürzung von Bildungsverläufen in Verbindung mit ihrer (vermeintlichen) Effizienzsteigerung führe nur zu einer Simplifizierung des Lehrstoffs, die weder die Lehrenden noch die Unterrichteten zufriedenstelle. Joachim Junker (Kaiserslautern) unterzog einige Abituraufgaben aus verschiedenen Bundesländern einer kritischen Betrachtung. Er gab zu bedenken, dass Musiktheorie den Zugang zur Musik auch erheblich erschweren könne, und stellte im Gegenzug die Frage: »Wie können Neugier und Interesse an der Musik geweckt werden?«
Am Abend des ersten Kongresstages erklangen dann im Konzertsaal nach der feierlichen Preisverleihung vier prämierte Werke des 12. Künstlerischen Wettbewerbes der GMTH. In der Kategorie »Fragmentvollendung im historischen Stil« wurden Fragmente von Leoš Janáček durch Diana Lizura (Damit man nie zurück könnte, 1. Preis), von Franz Schubert durch Unai Ruiz de Gordejuela (Trio in B, 2. Preis) und von Alban Berg durch Christian Schlegel (Adagio drammatico, 3. Preis) vervollständigt. Die Kategorie »Neue Musik« inspirierte Hed Bahack zu einer spektralistischen Bearbeitung von Alexander Skrjabins Klavierstück op. 63 Nr. 1 und Giorgio Musolesi zu der philosophisch-szenischen Komposition efemeride d’un rito (con la porta di bronzo). Beide erhielten einen ersten Preis ex aequo (2. Preis an Dominic Wills für Denkmäler). Im zweiten Konzertteil stellte Ralf Schmid (Freiburg) in einer Lecture-Performance sein künstlerisches Projekt PYANOOK vor: die Verwendung von Datenhandschuhen mit Sensorsteuerung zur Erweiterung seines virtuosen Klavierspiels durch elektronische Live-Effekte.
Der zweite Kongresstag startete mit zwei Keynotes. Zuerst widmete sich Ariane Jeßulat (Berlin) dem Thema »Forschungsgesten« anhand von drei Beispielen: Roland Barthes Essay Rasch, Jule Flierls stimmtänzerischer Performance Störlaut sowie einem eigenen Projekt in Zusammenarbeit mit Alberto de Campo. Die zweite Keynote begann mit einem interaktiven Segment, in dem die Jazzpianistin und Professorin für Artistic Research Monika Herzig (Bloomington) das Publikum aufforderte, mittels QR-Code ein übergreifendes Meinungsprofil zu erstellen. Sie zeigte auf, wie sie als Angehörige einer Minderheit in der männerdominierten Jazzwelt aus der Perspektive der künstlerischen Forschung Antworten zur Problematik des stereotype threat im Jazz sucht. Zum Abschluss improvisierte Herzig über ein Geburtsdatum aus dem Publikum.
Nach einer kurzen Kaffeepause im Foyer hatte man bis zum Abend wieder die Qual der Wahl zwischen sechs bis sieben Parallelveranstaltungen unterschiedlicher Thematik. So veranstaltete die Forschungsgruppe der Hochschule der Künste Bern ein 90-minütiges Panel zum Thema »Unterrichtsforschung«. Nach einigen einführenden Worten des Projektleiters Claudio Bacciagaluppi stellten die drei Projektmitarbeitenden ihre Forschungsergebnisse vor und machten Vorschläge dazu, wie sich die gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis umsetzen ließen. Nachdem Lydia Carlisi (Bern, Lugano) aufgezeigt hatte, wie das Fach »harmonie et accompagnement pratique« am Pariser Conservatoire unterrichtet wurde, präsentierte Vivian Domenjoz (Bern, Lausanne) – angeregt durch die Notizen des Cherubini-Schülers Aimé Leborne – Methoden, die beim Schreiben eines 16-stimmigen Satzes behilflich sind. Vor der abschließenden Diskussionsrunde widmete sich Gigliola Di Grazia (Bern, Freiburg) der »Méthode pour apprendre le piano à l’aide du guide-mains« von Friedrich Kalkbrenner und demonstrierte die Vorteile eines Handleiters am Flügel.
In erfreulicher Bandbreite wurde das Kongressthema sowohl stilistisch als auch geografisch weit über den Tellerrand hinaus betrachtet: armenischer Jazz, deutsche Schlager, alpine Jodellieder, amerikanischer Barbershop und persische Dastgah-Musik dienten als Ausgangspunkte für musiktheoretische Überlegungen und künstlerische Forschungen. Eine Brücke schlug David Klüglich (Freiburg) über modale Improvisation; mit grundsätzlichen Reflexionen begleiteten eine niederländisch-US-amerikanische Delegation des Journal of Applied Jazz Research und Krystoffer Dreps (Münster) mit Ausführungen zum ›Fokus Musikproduktion‹ die Sektionen. Auch Filmmusik war durch Susanne Hardts (Dresden) Forschung zur »Topologie von Geisterorten« würdig vertreten.
Ein außergewöhnliches Beispiel künstlerischer Umsetzung eines musiktheoretischen Forschungsprojekts boten Anne Hameister (Hamburg), Sangjin Han (Hamburg), Amelie Lopper (Hamburg) und Oliver Mathes (Lüneburg). Ausgehend von Gottfried Webers Aufsatz über den Beginn von Wolfgang Amadé Mozarts Dissonanzen-Quartett zeigten sie sowohl filmisch als auch musizierend im Streichquartett und am Klavier ein Kaleidoskop an möglichen Entwicklungen, die enharmonisch verschiedene Notation implizieren könnte − ohne ein Wort des Kommentars, sodass Bilder und Musik für sich sprachen.
Denkanstöße zu Anton Reicha lieferten zwei Vorträge in der Sektion »Reicha und Louis/Thuille«. Mittels Mitschriften von César Franck, der in Paris Reichas Kontrapunktunterricht besucht hatte, verschaffte Nathalie Meidhof (Bern, Freiburg) einen Einblick in dessen Unterrichtsinhalte. Aron Salzmann (Trossingen) präsentierte in seinem Vortrag Reichas 36 Fugen als kompositorische »Problemlösungen«. Schließlich ging Aljoscha Ristow (Maastricht) in seiner Präsentation der Frage nach, ob sich die Klassifizierung alterierter Akkorde nach Louis/Thuille, welche auf einem skalenbasierten Akkordverständnis beruht, durch die relative Solmisation adäquat ausdrücken lässt.
Die Sektion »Instrumentation und Interpretation« umfasste einen Mix verschiedener Forschungsmethoden. So strebte Martin Skamletz (Bern) in seinem Vortrag nach einer Aufwertung des Rufes von Ignaz von Seyfried – Erstherausgeber von »Beethovens Studien« und aufgrund seiner Eingriffe in die Edition als »Unperson der Musiktheorie« verschrien. Ehsan Mohagheghi Fard (Leipzig, Weimar) hingegen spürte anhand der von Gustav Mahler vorgenommenen Retuschen an Robert Schumanns Frühlingssymphonie der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts verändernden Ästhetik und Aufführungspraxis nach. Die beiden übrigen Referenten stützten ihre Forschungen auf Aufnahmen aus dem 20. Jahrhundert: So verglich Thomas Wozonig (Graz), der seinen Vortragsinhalt kurzfristig geändert hatte, anhand einer detaillierten graphischen Tempo-Analyse verschiedene Interpretationen des zweiten Satzes aus Jean Sibelius’ 1. Sinfonie. Auch Julian Caskel (Essen) verglich in seinem Vortrag Einspielungen miteinander, wobei er interessante Tendenzen zur Tempogestaltung einzelner Stücke im historischen Überblick aufzeigte. Außerdem gewährte er Einblicke in die präzise Analyse von Vibrato und Portamento bei Streichinstrumenten, wobei er nachwies, dass sich hinsichtlich dieser beiden Gestaltungsmittel keine eindeutigen Trends in der Aufführungspraxis der letzten 100 Jahre abzeichnen.
Welche Früchte musiktheoretisches Handwerk tragen kann, demonstrierte Erik Aren Schroeder (Salzburg). Er präsentierte Ausschnitte aus seiner im November 2022 uraufgeführten Opera buffa La Locandiera. Obgleich an der Stilistik des späten 18. Jahrhunderts orientiert, handle es sich um ein zeitgenössisches Kunstwerk, so Schroeder, da er es in seiner persönlichen musikalischen Sprache verfasst habe. Weniger um eine persönliche Sprache als um den Versuch, der Sprache eines anderen Komponisten gerecht zu werden, ging es in Arne Lüthkes (Leipzig) Vervollständigungen einiger Männerchorsätze von Franz Schubert. Von diesen war jeweils lediglich der Tenor II erhalten geblieben, und neben der Frage nach typischen harmonischen und satztechnischen Topoi musste noch über Drei- oder Vierstimmigkeit entschieden werden.
Mehrere Beiträge konzentrierten sich auf die anglo-amerikanische Musiktheorie. Die New Formenlehre war unter anderem vertreten durch einen Vortrag von Laurence Sinclair Willis (Graz), der William Caplins hybrids Clemens Kühns Mischungen gegenüberstellte. Ferner gab es verschiedene Präsentationen – darunter ein Lecture-Recital von José L. Besada (Madrid) und Moreno Andreatta (Paris, Straßburg) –, welche die Neo-Riemannian Theory in den Mittelpunkt stellten.
Auf dem diesjährigen Kongress hatte man auch die Möglichkeit, an einer Reihe von Workshops teilzunehmen, etwa einer Einführung in die Notationssoftware Dorico mit Markus Hartmann (Hamburg) oder in das Open-Access-Publizieren (insbesondere bei musiconn.publish) mit Christian Kämpf (Dresden). Martin Rohrmeier (Lausanne) und Christoph Finkensiep (Amsterdam) gaben einen Einblick, welche Möglichkeiten sich für die digitale Korpusforschung durch den Einsatz algorithmischer Modelle bieten, die mit Methoden aus Wahrscheinlichkeitstheorie und Bayesscher Statistik arbeiten. Aufgrund des großen Erfolgs im Vorjahr wurde wieder eine Veranstaltung speziell für Studierende im Bereich Professional Development angeboten. Dieses Jahr stand das Verfassen von Abstracts und Proposals für Konferenzen im Zentrum. In einer lockeren Atmosphäre tauschten sich die Teilnehmenden untereinander aus und bekamen wertvolle Tipps von Sigrun Heinzelmann (Salzburg) und Wendelin Bitzan (Düsseldorf), die den Workshop gestalteten.
Nach einem Apéro erwartete die Kongressbesucher*innen am Ende des Tages ein weiteres Highlight. Das genaue Programm von »Kunst & Komposition zwischen Forschung und Fälschung« war im Vorfeld geheim gehalten worden, lediglich die Gäste waren bekannt: Johannes Menke (Basel), Johannes Schöllhorn (Freiburg) und Wolfgang Beltracchi (Meggen) nahmen auf bequemen Sofas Platz, während Philipp Teriete (Freiburg) als Moderator durch den Abend führte. Und dieser wurde seinem Motto gerecht: Das Publikum war angehalten, bei zwei live gesungenen Motetten im Stil der Renaissance Original von Stilkopie zu unterscheiden; am Pianoforte erklang Winfried Michels seinerzeit aufsehenerregende Fälschung einer Klaviersonate von Joseph Haydn. Dazwischen erläuterte Johannes Menke eingehend die Bedeutung des Komponierens in historischen Stilen für die Didaktik der Musiktheorie, und Johannes Schöllhorn präsentierte unter anderem seine Orchestrierung von Pierre Boulez’ Douze Notations sowie die Hommage an den Komponisten in seinem Werk La Treizième, einer Montage von jeweils einzeln herausgegriffenen Takten der Notations. Verbunden wurden alle musikalischen Beiträge durch ein angeregtes Gespräch über die Bedeutung des künstlerischen Schaffens und Kopierens, wobei insbesondere der charismatische Kunstfälscher Beltracchi durch seine pragmatische, unorthodoxe Sichtweise und einige unterhaltsame Episoden aus seiner ungewöhnlichen Biografie das Thema erfrischend auflockerte.
Abgerundet wurde der 23. Jahreskongress der GMTH mit einem Podiumsgespräch: Benjamin Lang (Rostock), Arabella Pare (Karlsruhe), Kilian Sprau (Berlin) und Christian Utz (Graz) machten im Gespräch (Moderation: Cosima Linke, Saarbrücken) deutlich, dass es noch an einer klaren Definition von künstlerischer Forschung fehle. Sprau verwies auf die Wichtigkeit eindeutiger Kriterien. Der reinen »Stilkopie« sprach er den künstlerischen Rang weitgehend ab. Darin folgte ihm Utz zwar, vertrat aber die Ansicht, dass Forschungsergebnisse nicht nötigenfalls in sprachlicher Form, sondern auch nonverbal »im Medium« vermittelt werden könnten. Daran schloss sich eine recht kontroverse – wenn auch kurze – Diskussion mit dem Plenum an, in deren Verlauf ein Teilnehmer darauf pochte, dass Forschung zu versprachlichen sei, und außerdem die zunehmende Bedeutung der künstlichen Intelligenz zur Sprache brachte. Ludwig Holtmeier (Freiburg) betonte, der Fokus müsse auf den institutionellen Rahmen (Musikhochschulen, Professuren etc.) gelegt werden. Die Vergleichbarkeit der Doktorentitel und -ränge sei wichtig, der aktuelle Wildwuchs in diesem Bereich ein Experiment.
Man darf gespannt sein, inwiefern die künstlerische Forschung die Musiktheorie in den nächsten Jahren verändern wird. Denn dass sich die »Musiktheorie im Wandel« befindet, verspricht schon das Motto des 24. Jahreskongresses, der im Oktober 2024 in Cottbus stattfinden wird.
Zu den Autorinnen und Autoren
TOBIAS DREWELIUS studierte Musiktheorie, Orchesterdirigieren und Komposition in Düsseldorf, Karlsruhe, Basel und Mannheim, u.a. bei Johannes Menke, Cosima Osthoff und Manfred Trojahn. Zwischenzeitlich engagierte er sich für ein Jahr in Guayaquil (Ecuador) als Pädagoge und Organisator für Musiker ohne Grenzen. Er arbeitet als Lehrbeaufragter für Musiktheorie und Dirigieren Zeitgenössischer Musik an der Hochschule für Musik Karlsruhe und hatte Vertretungsprofessuren an der Schola Cantorum Basiliensis und der Hochschule für Musik Trossingen inne. Als Pianist war er mit seinem Ensemble für Zeitgenössische Musik Trio Y Finalist und Stipendiat des Deutschen Musikwettbewerbs, als Dirigent gewann er den Internationalen Erich-Bergel-Dirigierwettbewerb und leitet zurzeit das Sinfonieorchester des KIT, Karlsruhe.
STEFAN FUCHS studierte in München Musiktheorie und Gehörbildung sowie Schulmusik und Klavier. Seit dem Studienjahr 2019/20 arbeitet er als Lehrbeauftragter für Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater in München. Er war außerdem drei Jahre lang als Lehrbeauftragter für Musiktheorie und Gehörbildung an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover sowie ein Semester in gleicher Funktion an der Ludwig-Maximilians-Universität in München tätig. Seit Oktober 2022 unterrichtet er diese Fächer als Senior Lecturer an der Universität Mozarteum in Salzburg, wo er bereits seit 2021 einen Lehrauftrag hatte.
JOHANNA KOERRENZ (*1995 in Coburg) studierte Schulmusik und Musiktheorie bei Prof. Jörn Arnecke an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar. Seit 2023 unterrichtet sie dort als Lehrkraft für besondere Aufgaben Harmonielehre und Gehörbildung sowie im Lehrauftrag an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden. Ihre musiktheoretischen Schwerpunkte liegen in den Bereichen Vermittlung, Digitalität, Popularmusik sowie in der transkulturellen Musiktheorie. Johanna Koerrenz komponiert vor allem für Chor und ist als Glasmusikerin mit dem Verrophon in Oper und Kammermusik aktiv.
ANNE MELZER studierte in Saarbrücken Musiktheorie bei Cosima Linke und Manfred Dings sowie Lehramt für Musik (mit dem Hauptfach Gesang) und Ev. Theologie. Nach einem Lehrauftrag, den sie im Studienjahr 2021/22 an der Hochschule für Musik in Mainz innehatte, ist sie dort nun seit Oktober 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin und arbeitet an einer Promotion zum musikalischen Werk Theo Brandmüllers. 2021–2023 war sie darüber hinaus Lehrkraft für Tonsatz und Gehörbildung am Peter-Cornelius-Konservatorium (Mainz).
ALENA MÜLLER wuchs in Zürich auf und absolvierte nach der Matura das Pre-College an der Musikschule Konservatorium Zürich. 2019 nahm sie ihr Bachelorstudium mit Hauptfach Musiktheorie an der Zürcher Hochschule der Künste auf und schloss dieses 2022 mit Auszeichnung ab. Dort studiert sie zurzeit im konsekutiven Masterstudiengang in Musiktheorie bei Johannes Schild und Burkhard Kinzler. Neben dem Studium arbeitet sie als Ballettkorrepetitorin.