Fortbildung »Relative Solmisation in Schule – Musikschule – Hochschule«
im Rahmen der Reihe »Musiktheorie unterrichten: Schule – Musikschule – Hochschule«
Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden
3.–5.11.2017
Programm
Jens Hamer
Wenn ein hochschulisches Zentrum für Musiktheorie ein Verfahren in den Mittelpunkt einer Tagung stellt, das gemeinhin als Propädeutik gilt, als Hilfsmittel für den »Anfänger der Singkunst« (so von Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste 1771 beschrieben), dann muss in der deutschen Musikausbildung einiges im Argen liegen, sollte man meinen. In der Tat gibt es Klagen von KollegInnen an den Hochschulen über eine aus ihrer Sicht mangelhafte musiktheoretische Vorbildung etlicher Studienanfänger, die an Musik-, aber auch allgemeinbildende Schulen adressiert sind. In gleichem Maß lassen sich diese Klagen von dort tätigen Lehrkräften leicht an diejenigen weiterreichen, die noch weiter am Anfang der ›Ausbildungskette‹ stehen: Vom in der Studienvorbereitung unterrichtenden Theorielehrer beispielsweise an die Instrumental- oder Gesangslehrkräfte und von diesen wieder an die KollegInnen der Elementaren Musikpädagogik, von der Gymnasiallehrkraft an die GrundschulpädagogInnen und von jenen gleich noch weiter in die Kindergärten und Kitas. Wenn aber doch die Musiklehrenden grundsätzlich von den Hochschulen ausgebildet werden, wer hat dann eigentlich den ›Schwarzen Peter‹?
In Dresden wurden unter der aufmerksamen und kompetenten Leitung von Dr. Juliane Brandes freilich keine Schuldigen gesucht, sondern in der Praxis bewährte Modelle vorgestellt, zugleich aber auch Verbesserungsmöglichkeiten für die Zukunft erörtert. Dass sich das Thema »Relative Solmisation« überhaupt über das ganze Wochenende als äußerst tragfähig erwies und erfreulicherweise neben der Hauptzielgruppe der Dresdner Musikpädagogik- und Schulmusikstudierenden auch ein gemischtes auswärtiges Publikum – darunter tatsächlich einige MusiktheoretikerInnen – anlockte, war wohl dem äußerst vielfältige Perspektiven versprechenden Programm geschuldet. Dieses Versprechen konnte durchaus eingelöst werden; so wurde im Laufe der Fortbildung deutlich, dass es ›die‹ relative Solmisation nicht gibt, sondern eine Vielzahl von Umgangsformen, die auf einem gemeinsamen Grundgedanken basieren. Auf der anderen Seite ließ sich erahnen, welche positiven Effekte zu konstatieren wären, wenn es durch solmisationsgestützte Methoden gemeinsame Nenner in Schule, Musikschule und Hochschule gäbe, wenn ein regerer Austausch zwischen den entsprechenden Institutionen stattfände und man sich, wie es Prof. Dr. Wolfgang Lessing in der abschließenden Diskussion am Sonntagmittag formulierte, mehr um die »Scharnierstellen« derselben bemühte.
Schon der erste Workshop am Freitag vermittelte eindrücklich, dass mit relativer Solmisation zuallererst die musikalische Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit geschult werden soll. Dazu sieht das Unterrichtskonzept der aus Ungarn stammenden, in Velbert ansässigen Instrumentalpädagogin Aniko Baberkoff-Montag, das sie mit drei jungen Streichinstrumentschülern, aber auch unter Einbeziehung des Publikums demonstrierte, konsequent die Reihenfolge Hören – Singen – Spielen vor. Das Instrument wird somit zur Abstraktion vom ›natürlichen‹ Instrument, der Stimme bzw. dem Körper. Welche differenzierte Hörfähigkeit schon im noch nicht weit fortgeschrittenen Stadium zu erreichen ist, zeigten etwa von einer Schülerin erfolgreich bewältigte zweistimmige Solmisationsübungen. Dass innerhalb einer gewöhnlich zeitlich eng begrenzten instrumentalen Einzelstunde Solmisation keinen vergleichsweise großen Raum einnehmen kann und daher, wie von Baberkoff-Montag praktiziert, eine Kombination mit Gruppenunterricht notwendig erscheint, um vergleichbar gute Ergebnisse zu erzielen, wurde dem Beobachter evident.
Der Samstagmorgen stand im Zeichen des Gymnasialunterrichts. Dr. Valerie Schnitzer (ehemals Ralf Schnitzer), Entwicklerin eines »Singklassen«-Konzepts an einem Gymnasium in Eppelheim, verstand es, die zu einer Schulklasse transformierten Tagungsteilnehmer von Anfang an in ihren Bann zu ziehen. Nachdem sie anhand von Hörbeispielen eindrucksvoll gezeigt hatte, zu welchen chorischen Singleistungen ›durchschnittliche‹ Gymnasialschüler in der Lage und willens sein können, wenn sie – auch abseits der Anbiederung an eine mitunter beschränkte außerschulische musikalische Erlebniswelt – gezielt gefördert und gefordert werden, vermittelte sie den Teilnehmenden ihre schlüssig strukturierte Vorgehensweise von den basalen Erfahrungen einer ersten Unterrichtsstunde bis hin zum Ausblick auf die singende Erschließung komplexerer musiktheoretischer Sachverhalte. Das sinnliche Erlebnis des Solmisierens bildete hier immer wieder den Ausgangspunkt für Verstehensprozesse – nie stand eine theoretische Erklärung vor der Praxis. Eklatant ist, dass Schnitzers Konzept, obwohl in offensichtlichem Widerspruch zu den vorgegebenen schulischen Lehrplänen stehend, wesentliche in jenen Plänen gesteckten Ziele (und eben Wichtiges darüber hinaus) spielend zu erreichen scheint, während manche ›gängigen‹ Musikunterrichtskonzepte zum Teil krachend scheitern. Das von Schnitzer zitierte Ergebnis einer baden-württembergischen Umfrage, wonach etwa 90% der befragten ehemaligen Schülerinnen und Schüler angaben, im von ihnen besuchten schulischen Musikunterricht »nichts« gemacht zu haben, untermauerte ihr Plädoyer für einen lerntheoretisch durchdachten, schülerzentrierten und mit dem (Mutter-) Sprachlernen vergleichbaren musikalisch ›alphabetisierenden‹ Musikunterricht nach gemeinsamen Grundkonzepten an Schulen und Musikschulen, das Schnitzer in einem separaten Vortrag am Sonntag hielt.
Den Reigen der Präsentationen der Dresdner Hochschule eröffnete Prof. Birgit Ibelshäuser mit ihrem Beitrag zur Musikpraxis in der Grundschule. Dabei lag der Fokus weniger auf einer stringenten solmisationsbasierten Methodik als vielmehr darauf, das Solmisieren flexibel in die Erarbeitung von Liedern einfließen zu lassen oder zuvor geübte Silbenfolgen (z.B. die ›Kuckucksterz‹ so–mi) in Musikstücken wiederzuentdecken. Ibelshäuser ermutigte die Teilnehmenden, auch bei noch wenig eigener Solmisationserfahrung nicht vor einem solchen ergänzenden Einsatz im Unterricht zurückzuschrecken.
Sodann zeigten Sabine Helmbold und Jo(chen) Aldinger aus der Jazzabteilung, auf welche Weise sie mittels der relativen Solmisation die Klangvorstellung ihrer Studierenden zu schulen versuchen, damit diese in Improvisationen in der Lage sind, die Töne ihrer MusizierpartnerInnen einordnen und angemessen darauf reagieren zu können. Faszinierend war, wie versiert Helmbold selbst als Sängerin auf Solmisationssilben über einer von Aldinger am Klavier gespielten II–V–I-Kadenz auch unter Verwendung etlicher Alterationstöne improvisieren konnte und wie gut beide tatsächlich aufeinander hörten oder – im Fall eines dagegengehaltenen Negativbeispiels, das gleichwohl auch seinen Reiz hatte – bewusst aneinander vorbei improvisierten. Das auch in diesem Beitrag geforderte singende Auditorium bewies spätestens hier seine Flexibilität hinsichtlich der Silbenzuordnung zu tiefalterierten Tönen; während Baberkoff-Montag dem System nach Zoltán Kodály (tiefalterierte ›Gasttöne‹ mit Endvokal -a bzw. -o, falls die Grundsilbe schon auf -a endet) gefolgt war, von anderen Referenten aber auch schon eine einheitliche Variante (Endung auf -u) angedeutet worden war, bevorzugten die Jazzer (aus stimmstilistischen Gründen?) die Endung -e (bzw. -a bei tiefalteriertem »re«) für erniedrigte Töne. Zudem sorgte die jazzspezifische Akkord-Skalen-Denkweise dafür, dass Helmbold bei jedem Akkord in eine andere Skala wechselte, das »do« also immer dem jeweiligen Akkordgrundton statt dem gleichbleibenden Grundton der Tonart zugeordnet war – sicherlich einleuchtend, wenn die Solmisationssilben als klangliche Stellvertreter der im Akkordsymbol zu notierenden Zusatztöne (eine b9 über G als V. Stufe in C-Dur ist dann eben ein »ra« als Alteration von »re« und kein »le« als Alteration von »la«) verstanden und als solche repräsentiert werden sollen.
Im Anschluss stellten Mitglieder der Musiktheorie-Fachgruppen Dresden und Hannover das Resultat eines hochschulübergreifenden Gedanken- und Erfahrungsaustauschs vor, zu dem Juliane Brandes eingeladen hatte. Ihr Gruppenbeitrag erkundete das Potenzial der Verknüpfung der relativen Solmisation mit großteils auf die italienische Partimentotradition zurückgehenden generalbassorientierten Ansätzen, deren Rezeption nicht nur in der deutschsprachigen Musiktheorie in jüngerer Zeit enorm an Bedeutung gewonnen hat. Die Ergebnisse dieses überregionalen fachlichen Austausches wurden in einer gestaffelten Präsentation vorgetragen und von den jeweiligen ReferentInnen entsprechend präzisiert. Nach einer kurzen allgemeinen Einführung in die Oktavregel- und Partimentotradition durch Judith Winter und Johannes Korndörfer demonstrierten Tanja Spatz und Marcus Aydintan am Beispiel eines Bachchorals, wie durch Solmisationssilben typische Modulationswege verdeutlicht werden können. Lukas-Fabian Moser nahm sodann ein Problemfeld in den Blick, das am Abend von einigen Teilnehmern des gemeinsamen Essens heiß weiterdiskutiert wurde: Den Umgang mit Moll. Zwei Wege sind hier grundsätzlich möglich; zum einen die wohl allgemein üblichere Solmisation der ersten Tonleiterstufe in Moll mit »la«, die das gemeinsame Material der Paralleltonarten in den Vordergrund stellt, zum anderen die Orientierung der Solmisationssilben an der Nummerierung der Tonleiterstufen, so dass Moll als Varianttonart von Dur mit demselben Grundton »do« in Erscheinung tritt. Anhand gut ausgewählter Musikbeispiele, denen Juliane Brandes anschließend noch einige weitere folgen ließ, zeigte Moser auf, dass beide Wege durchaus gleichberechtigt nebeneinander bestehen können; die Faktur der Musik sei entscheidend für die Wahl des jeweils geeigneteren Systems. Für die Solmisation von Bassstimmen gelte etwa: Bei Oktavregelbässen läge aufgrund ihrer Tonleiterstufenorientierung eine Molltonika »do« nahe, während manche zwischen Dur und Moll unentschiedenen Sequenzmodelle sinnvoller mit Molltonika »la« zu solmisieren seien. Dieser grundsätzlich klugen Differenzierung vermochten sich jedoch nicht alle Teilnehmenden anzuschließen. Während die Vertreter des »la«-Lagers die historische Rechtmäßigkeit ihrer bevorzugten Sichtweise ins Feld führten, konnten die Anhänger des »do«-Systems darauf verweisen, dass nur auf diesem Weg eine Übereinstimmung mit den gewöhnlich verwendeten Handzeichen (beginnend mit der Faust als Symbol für die Stärke des »do« als Grundton) zu erzielen sei – ein nicht ganz unwesentlicher Punkt, der aus Sicht des Rezensenten am Tagungswochenende ein wenig zu kurz kam.
Nachdem sich also an der Frage »Wie hast du's mit Moll?« schon die Geister geschieden hatten, diskutierte Andreas Puhani, Professor für Gehörbildung an der Münchner Musikhochschule, in seinem den Samstag beschließenden Vortrag noch die Frage, ob die relative oder doch eher die absolute Solmisation zu bevorzugen sei. Und indem er mit der Antwort, beide Wege gleichermaßen gelten zu lassen, nicht zauderte, hielt er es vergleichbar zu seinen KollegInnen aus Dresden und Hannover anlässlich der vorherigen Fragestellung. Puhanis überzeugendes Plädoyer für methodische Vielschichtigkeit (nicht nur) im Gehörbildungsunterricht lieferte zugleich lebendige Einblicke in seine Unterrichtspraxis, der man gerne noch ausführlicher gefolgt wäre.
Der Sonntagvormittag fasste das an den Tagen zuvor Gehörte gewissermaßen zusammen. Nach Schnitzers oben erwähntem Vortrag stellte Michael Hiemke aus seiner Perspektive als Studienrat in Bayern, aber auch als ehemaliger Studierender der Musiktheorie (u.a. in Dresden) vor, wie seiner Ansicht nach durch Solmisation musikalisches Erlebnis und theoretische Reflexion miteinander verknüpft und die Solmisation auf einer historisch informierten Ebene verwendet werden könne. Dabei kamen so verschiedene Themen wie Merkmöglichkeiten für den Quintenzirkel (Zuordnung von Solmisationssilben zum jeweils letzten # oder b in Dur bzw. Moll), die Solmisation von Kirchentonarten mithilfe der auf Guido von Arezzo zurückgehenden Zuordnung zu den Hexachorden (in einem allerdings etwas eigenwilligen persönlichen Zugang durch Hiemke) und die Einordnung von harmonischen Ausweichungen und Modulationen zur Sprache.
Der von Juliane Brandes moderierte ›Round Table‹ mit Lessing, Puhani und Schnitzer machte zu guter Letzt noch einmal deutlich, dass auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Ansätzen solmisationsgestützter Unterricht aus vergleichbaren Motiven stattfindet: Die Erlebnisqualität soll an erster Stelle stehen und auch dann gegeben sein, wenn damit Erkenntnisprozesse in Gang gesetzt werden; der daraus resultierende Verstehensbegriff muss daher immer eine sinnliche Komponente enthalten. Dennoch müsste noch viel getan werden, um die unbestreitbaren Vorzüge von Solmisation einbeziehenden Methoden in größerem Umfang verfügbar zu machen und wichtige Schritte in Richtung einer besseren Vernetzung von Institutionen zu gehen, die für die musikalische Ausbildung verantwortlich sind. Die Dresdner Tagung hat in jedem Fall dazu beigetragen, verschiedene Akteure ins Gespräch zu bringen und die Kenntnisse darüber, was die oder der Andere im Unterrichtsalltag macht und was offensichtlich erfolgversprechend ist, zu vergrößern. Man würde sich wünschen, diesen Austausch auf eine deutlich breitere Basis gestellt zu sehen.