Kontrapunkt – ewiggestrig oder unerlässlich? Kontinuitäten und Wandlungen einer historischen Disziplin, 18. Jahreskongress der GMTH
Hochschule für Künste Bremen
5.-7.10.2018
Tagungsprogramm
Hubertus Dreyer, Pascal Horn, Enrique Carlsson
»Kontrapunkt – ewiggestrig oder unerlässlich?« – das Thema des 18. Jahreskongresses der GMTH, der vom 4. bis 7. Oktober an der Hochschule für Künste Bremen unter der Leitung von Florian Edler und Andreas Gürsching stattfand, war absichtlich provokant formuliert. Die Panels, Vorträge und Workshops, die sich den »Kontinuitäten und Wandlungen« dieser kompositorischen Disziplin widmeten, deckten ein weites Spektrum musikalischer und methodischer Ansätze ab. Diese Programmvielfalt mochte aus der Nahperspektive des Kongresses manchmal einen etwas diffusen Eindruck erwecken, zeigt im Rückblick aber vor allem, dass zu diesem Thema noch bei weitem nicht alles Sagenswerte gesagt wurde. Oft genug waren es weniger einzelne Vorträge als vielmehr die zwischen verschiedenen Vorträgen aufscheinenden Bezüge, die weiterführende Fragen herausforderten.
Peter Schuberts eröffnende Keynote zu Sektion 1 (Systematisch-methodische Implikationen der Kontrapunktlehre), die aus der Perspektive des Renaissance-Kontrapunkts unterhaltsam einige für den gesamten Kongress wichtige Fragestellungen anriss, wies auf eine durchaus grundlegende Problematik hin, über die weiter nachzudenken man bei etlichen Vorträgen Anlass hatte: Wie grenzt man Polyphonie von Kontrapunkt ab? Während Schubert dazu neigte, die Notenschrift als Grundlage des Kontrapunktes anzusehen, betonten manch andere Vorträge die Bedeutung satztechnischer Regeln, deren Existenz ja zuweilen auch in Musiktraditionen nachgewiesen werden kann, die keine Notenschrift kennen. Demgegenüber wirkte die Keynote von Dörte Schmidt (Sektion 2: Historische, gesellschaftliche und ästhetische Kontexte) über Adornos Verhältnis zum Kontrapunkt, die an Adornos Vorlesung über »Schönbergs Kontrapunkt« bei den Darmstädter Ferienkursen 1956 anknüpfte, beinahe als Fremdkörper – und als Anregung, den hier wie sonst keineswegs von Widersprüchen freien Urteilen dieses immer noch wichtigen Musikphilosophen und ihrer Wechselwirkung mit den satztechnischen Diskussionen unter einigen Hauptvertretern der seriellen Schule nachzugehen. In seiner Keynote zu Sektion 3 (Interdependenzen zwischen Satzlehre und zeitgenössischer Kompositionspraxis) beschäftigte sich Cornelius Schwehr am zweiten Kongressvormittag anhand von Ausschnitten aus Werken von Nicolaus A. Huber, Mathias Spahlinger und ihm selbst mit Aspekten zeitgenössischer Tempopolyphonie. Besonders die Betrachtung der sich überlagernden Temposchichten in Spahlingers Ensemblestück fugitive beauté warf die Frage auf, inwiefern sich Satztechnik hier schlicht aus der Notwendigkeit ergibt, kompositorische Strukturen hörbar zu machen.
Musik seit dem zweiten Weltkrieg wurde in einer ganzen Reihe von Vorträgen erörtert. Mit Emmanuel Ghent stellte Philippe Kocher einen weiteren, wenig bekannten Komponisten polytempischer Musik vor; Martin Grabow widmete sich einigen Formen des Kontrapunkts in Ligetis Hamburgischen Konzert, wobei vor allem die mikrotonale Verfremdung gar nicht so traditionsferner Strukturen im Choral des zweiten Satzes detailliert dargestellt wurde. Mit Konstantin Iliev behandelte Patrick Becker einen bulgarischen Komponisten, für den Kontrapunkt nicht zuletzt ein Denkmittel war, um sich in den frühen 50er Jahren von der bis dahin vorherrschenden Orientierung an landeseigener Volksmusik zu befreien. Martin Hecker sprach über Stockhausens Gesang der Jünglinge, Petra Zidaric Györek über die aberwitzige polyphone Komplexität von Klaus Hubers Die Seele muss vom Reittier steigen, Hristina Susak über Sofia Gubaidulinas Offertorium, Andreas Dorfner über Bernd Alois Zimmermanns Soldaten; Karin Wetzel behandelte Polywerke seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Werke, die sich sowohl einzeln als auch zusammen aufführen lassen. Eher als Kuriosum von Interesse waren die Komponisten Heinrich Simbriger und Othmar Steinbauer, deren eigenartige Verbindung von Zwölftontechnik und Tonalität Dominik Šedivý schilderte.
Auch sonst fanden sich erfreulich viele Vorträge, die sich weit vom Repertoire entfernten, das man üblicherweise mit Kontrapunkt assoziiert – vielleicht sogar noch weiter als Neue Musik insofern, als die Tradition der europäischen Kunstmusik verlassen wurde. Sehr witzig Elizabeth Hepachs Vortrag über »Counterpoint in German Popular Music of the 1950's and 1960's«, der die durchaus bedenkenswerte Überlegung entfaltete, dass gewisse satztechnische Eigenheiten auf Einflüsse von Traditionen (hier: Jazzmusik) hinweisen, die in einem bestimmten Genre (hier: Deutscher Schlager) nicht offensichtlich sind. Kontrapunkt im Jazz wurde von Philipp Teriete und Victor Alcántara thematisiert, Astor Piazzollas Fugen besprach Reiner Krämer. Elena Chernova stellte die eigenartige Polyphonie der russischen Liturgie im 17. Jahrhundert vor. Vielleicht findet sich einmal eine Gelegenheit, diesen ›Außenblick‹ auf Kontrapunktik zu erweitern und nicht mit europäischer Kunstmusik in Beziehung stehende Polyphonie (zum Beispiel in Georgien, in Afrika, in Japan) oder die gar nicht so selten anzutreffenden polyphonen Strukturen in der Popmusik einzubeziehen – auch und gerade, weil sich daraus Fragen an eine mittlerweile GMTH-weit etablierte, im Allgemeinen ausgezeichnet funktionierende analytische Methodik ergeben, die dennoch zuweilen zum Selbstläufer zu werden droht. Insofern kann die intensive Beschäftigung mit Neuer Musik ebenso wie mit außerhalb der zentraleuropäischen Tradition stehender Musik (alles in allem 20% der Vorträge!) auch als Ausdruck einer Suche nach neuen Herausforderungen für die musikalische Analysetechnik verstanden werden.
Unter den Vorträgen, die sich mit der Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befassten, bestach vor allem Sigrun Heinzelmanns Analyse von kontrapunktischen Verfahren im langsamen Satz des G-Dur-Klavierkonzerts von Ravel – Tonalitätsverschleierung durch Verschiebung der Stimmführungsebenen, auch in der Präsentation sehr schön veranschaulicht. Eine ähnliche Technik, doch mit weniger sinnfälligem künstlerischen Resultat, fand Miklós Veszprémi in Furtwänglers Symphonischem Konzert. Michael Koch legte dar, wie Skrjabin sich allmählich von tradierten satztechnischen Modellen löste zugunsten einer flächigen Harmonik, in der kontrapunktisch beinahe alles geht. Franz Schmidts Chaconne cis-Moll war Gegenstand eines Referates von Peter Tiefengraber, mit Richard Strauss beschäftigten sich Jonas Leopold und Hans-Ulrich Fuß. Hingegen spielte romantische und klassische Musik eine auffällig geringe Rolle. Anhand von Dokumenten aus Bruckners Zeit in St. Florian wies Matthias Giesen nach, wie Bruckner zielstrebig bezifferte Bassthemen anderer Werke zur Entwicklung von Strategien polyphoner Orgelimprovisation nutzte. Ariane Jeßulat untersuchte, anknüpfend an eine Aufsatzskizze Rudolf Stephans und ein Fragment von Moritz Hauptmann, metrische Eigenheiten – »die Gleichzeitigkeit von Arsis und Thesis« – in Mendelssohns Kontrapunkt. Der Musik Schumanns widmeten sich Uwe Kremp und Laurence Willis; Helena Schuh ging der Frage nach, inwieweit relativ ›nackt‹ auftretende Satzmodelle im Eröffnungssatz von Beethovens 4. Klavierkonzert zum oft beschriebenen improvisatorischen Charakter dieses Werkes beitragen. Als Präsentation von Kuriositäten verstand sich Angelika Moths' Beitrag »Kontrapunkt zwischen Genie und Wahnsinn«: Padre Martinis Rätselkanons, kanonische Parforceritte bei Gottfried Heinrich Stölzel, die ironische Amen-Fuge in der 6. Szene von Berlioz' Damnation de Faust die dem Komponisten Gelegenheit bot, all das zu übertreiben, was er an ›Konservatoriumsfugen‹ kritisierte. Und schließlich gab Wendelin Bitzan einen umfassenden Überblick über Verwendung von Fugen im Rahmen von Sonatensätzen.
Deutlich häufiger wurde naturgemäß Musik des Barocks und der Renaissance Gegenstand analytischer Auseinandersetzung. Reinhard Bahr schlug ein differenziertes Generalbass-Modell zur Analyse Bachscher Inventionen vor; Daniel Grote fasste in seinem Vortrag prägnant und konzise die satztechnischen Regeln und Strategien in fünf- bis achtstimmigen Sätzen Bachs zusammen. Einem Vorläufer von Bachs Partiten und Sonaten für Violine solo, den Violinsuiten von Jean Paul Westhoff, widmete sich Anne Schinz. Differenzen zwischen der Chromatik der Gesangsstimmen und der Bezeichnung des Generalbasses in Schütz' Cantiones Sacrae ließen Julian Habryka vermuten, dass gewisse Aspekte der musica ficta im Generalbass dieser Zeit überlebten. Ein wenig bedauern mag man es, dass nur Markus Roth sich mit dem enharmonischen Kontrapunkt des Frühbarocks auseinandersetzte. Seine Sherlock Holmes-artige Studie über ein musikalisch vermutlich sinnfreies Beispiel von Angelo Berardi bot Gelegenheit, die kurze Blüte und den Niedergang einer frühen Form der Mikrotonalität nachzuzeichnen. Ein im Rückblick bemerkenswerter Bezug zwischen zwei Vorträgen sehr unterschiedlicher Thematik: Die von Vincentino begründete Praxis der vieltönig-enharmonischen Differenzierung scheint in ihrer manieristischen Verfeinerung vertrauter Modelle gar nicht so weit von Ligetis Technik im Choral des Hamburgischen Konzerts entfernt.
Sowohl Adrian Nagel, der die Reformmessen Vincenzo Ruffos analysierte, als auch Jürgen Stolle, der sich mit den besonderen Bedingungen textreicher Messesätze bei Palestrina auseinandersetzte, behandelten eine Folge des Tridentiner Konzils: den Verlust an komplexer Polyphonie und die Nutzung der danach verbliebenen Gestaltungsmöglichkeiten. Palestrina-Bearbeitungen wurden in einem Panel von Sven Schwannberger, Roberta Vidic und Jan Philipp Sprick erörtert. Dass kein einziger Vortrag älterer Renaissancemusik galt, lässt sich vielleicht mit der Überfülle der Publikationen hierzu in den letzten Jahrzehnten erklären, mag aber trotzdem als Lücke empfunden werden. Immerhin betrachtete Florian Vogt mit Giovanni da Firenze einen Komponisten des frühen Trecentos.
Unter den zahlreichen Beiträgen, die sich dem Kontrapunktunterricht widmeten, blieben zwei Workshops besonders im Gedächtnis. Thomas Daniel stellte mit dem »Tafelsatz« einen faszinierenden alternativen Zugang zum Kantionalsatz des 16. und 17. Jahrhunderts vor. Mit Tafeln sind systematische Aufstellungen von Klangfortschreitungen gemeint, wie sie beispielsweise Johann Crüger (Synopsis musica, 1654) unter dem Titel »tabula naturalis« bzw. »tabula necessitatis« veröffentlichte; Daniel verband den Rekurs auf diesen historischen Ansatz mit klug gestellten Aufgaben, so dass zentrale Satzmodelle gleichsam nebenbei aus den Progressionen des Tafelsatzes hervorgingen. (Die Stimmung der Teilnehmenden lässt vermuten, dass der Tafelsatz demnächst wohl in die Unterrichtspraxis Eingang erhält.) Auch Martin Erhardts Workshop über die Verfertigung einer Fuge ohne Notenpapier regte dazu an, Ähnliches mit einer fortgeschrittenen Gruppe von Studierenden zu versuchen: In anderthalb Stunden tatsächlich (auf der Basis einer skelettierten Fuge aus einer Triosonate von Bach) vocaliter eine ganze Fuge zusammenzubekommen – und nebenher an die wichtigsten Tricks des Fugenkomponierens erinnert zu werden –, vermittelte vielleicht keine grundlegend neuen Erkenntnisse, machte aber jedenfalls Spaß und sollte sich dazu eignen, Studierenden die Angst vor dieser Disziplin zu nehmen.
Moritz Heffter stellte für die unerfreuliche Situation, sehr große Kurse im Kontrapunkt unterrichten zu müssen, ein webbasiertes Computertool vor, das von den Studierenden angefertigte Außenstimmensätze kommentiert und korrigiert (https://glarean.mh-freiburg.de/hessen/as2/). Auch Ulrich Kaiser präsentierte mit ELMU ein (allerdings nicht kontrapunkt-bezogenes, sondern der Musiktheorie insgesamt geltendes) Web-Projekt – eine Art Wikipedia für Musik, jedoch mit professioneller Redaktion und musikspezifischen Gestaltungsmöglichkeiten. Ali Gorji beschrieb Erfahrungen mit Kanonimprovisationen im Hauptfachunterricht, bei denen sich die Guidonische Hand als wichtiges Hilfsmittel zum haptischen Begreifen der Hexachordlehre erwies. Guido Brink hielt ein Plädoyer für Kontrapunktunterricht an Gymnasien. Nico Schüler erläuterte die Situation des Kontrapunktunterrichts in den USA; Anne-Kathrin Wagler und Christhard Zimpel gingen in ihrem Workshop der Frage nach, wie man Kontrapunkt im elementaren Musikunterricht vermitteln könne.
Andere Vorträge widmeten sich dem Kontrapunktunterricht aus historischer Perspektive: So Yvonne Wasserloos, Jan Meßtorff, Florian Edler, Jan Philipp Sprick und Birger Petersen, die gemeinsam ein Panel zur deutschsprachigen Kontrapunktlehre um 1860 veranstalteten. Spricks Vortrag über die Berliner Kontrapunktlehre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand thematischen Anschluss in Ullrich Scheidelers akribischer Studie zu Bernhard Klein und den Anfängen historisch informierter Musiktheorie im Berlin des frühen 19. Jahrhunderts. Auf einem Kontrapunkt-Kongress durfte natürlich ein Vortrag über Knud Jeppesen nicht fehlen: Thomas Holme leuchtete Hintergründe von Jeppesens Werk im Briefwechsel von Jeppesen mit Povl Hamburger aus. Der Beitrag von Clara Maria Bauer über Schenkers Kontrapunktlehre musste (aus flugtechnischen Gründen) in Abwesenheit vorgetragen werden; Sonja Koković erörtete anschließend Parallelen und Differenzen zwischen den Lehrmethoden von Heinrich Schenker und Franz Schmidt. Einige zunächst recht abstrus erscheinende Aspekte in den Kontrapunktlehren von Hugo Riemann und seines ebenfalls in Leipzig ansässigen Zeitgenossen Stephan Krehl – kontrapunktische Übungen in ungewöhnlichen Proportionen (Septolen etc.) – präsentierte Arne Lüthke, der von dort aus auch die Brücke zu Henry Cowells komplexen polymetrischen Experimenten schlug; der Gedanke an die polytempischen Kompositionen, die Cornelius Schwehr und Philippe Kocher besprachen, drängte sich auf.
Unter Heranziehung in den letzten Jahren aufgefundener Quellen konnte Derek Remeš die durchaus ›mehrdimensionale‹ Unterrichtsmethode Johann Sebastian Bachs in einiger Plausibilität nachzeichnen; es reizt, sie sich in ein pädagogisches Konzept für heute umgesetzt zu denken. Daniel Serrano erinnerte mit seinem Vortrag über eine spanische Kontrapunktlehre des frühen 18. Jahrhunderts daran, dass satztechnische Regelwerke nicht immer den an der zentraleuropäischen Tradition geschulten Erwartungen entsprechen müssen. Historischer Pädagogik, aber nicht auf Kontrapunkt bezogen, galt auch Stephan Zirwes' Referat über Johann Adam Hillers Lehrwerk Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesange, das zugleich als Schule der Gehörbildung verstanden werden kann. Zwei Vorträge befassten sich mit älterer französischer Musiktheorie: Nathan John Martin ging es darum, die Traditionsgebundenheit von Rameaus Lehre aufzuzeigen, Lydia Carlisi betrachtete Zusammenhänge zwischen neapolitanischem und französischem Partimento Anfang des 19. Jahrhunderts. Weder unter pädagogischen noch analytischen Gesichtspunkten, sondern als musikpsychologisches Problem betrachtete Martin Ebeling den Kontrapunkt. Der auf Carl Stumpf und der Gestalttheorie basierende Ansatz, ergänzt durch Verweise auf weiterführende Untersuchungen von Albert Bregman, konnte eine Reihe typischer satztechnischer Regeln des ›klassischen‹ Kontrapunkts plausibel erklären und regte dazu an, polyphone Wirkungen auch in anderen Stilen nach der kognitionspsychologischen Seite hin zu untersuchen. Eine ähnlich grundsätzliche Perspektive suchte Hans Aerts in seinem Vortrag »Wozu noch Harmonielehre?« – ein dankenswertes Plädoyer für eine Umkehrung der Auffassung, die kompositorische Disziplin Kontrapunkt sei allzu ›schwierig‹ und spezialisiert, um für die heutige Unterrichtspraxis geeignet zu sein. Schließlich ist noch Burkhard Meischeins Vortrag über Goethes musiktheoretische Interessen zu erwähnen, der zugleich für eine intensivere Beschäftigung mit dem spekulativen musikphilosophischen Diskurs dieser Zeit warb.
Am Rande sei erwähnt, dass es in Bremen – zum Glück! – nirgends zu jenen ernsthaften Zeitüberschreitungsproblemen kam, die früher doch recht typisch für die Jahreskongresse waren. Zuweilen hätte man sich einen etwas großzügigeren Einsatz von Handouts gewünscht (und in manchen Handouts mehr als nur Notenbeispiele); doch insgesamt hat sich ein Vortragsstandard auf hohem Niveau etabliert, auch technische Pannen blieben unauffällig.
Wie üblich ergänzte ein reichhaltiges Rahmenprogramm die Vorträge. Juliane Brandes, Thomas Daniel, Birger Petersen und Michael Spors stellten ihre aktuellen Veröffentlichungen vor. Bei der Verleihung der GMTH-Preise war zunächst die trotz attraktiver Thematik enttäuschend geringe Beteiligung am künstlerischen Wettbewerb festzustellen; Eva Kuhn erhielt für ihre Komposition 5:4 – Ultimate Frisbee für zwei Violinen, Flügel und Elektronik einen 2. Preis. Die prämierten Aufsätze des wissenschaftlichen Wettbewerbs – die Preisträger hießen Roberta Vidic und Tobias Werner – werden demnächst in der ZGMTH nachzulesen sein. Als ein Höhepunkt des Kongresses wurde von vielen das Konzert des Ensemble Weser Renaissance Bremen empfunden, das für sein Programm »Alles Kanon? Verschlungene Wege in der ›Musica Nova‹ des 16. und 20. Jahrhunderts« in der Kirche Unser Lieben Frauen um Roberto Fabbriciani (Querflöte, Kontrabassflöte) und Joachim Striepens (Kontrabassklarinette) erweitert wurde. Der Abend erwies sich als eine sehr glückliche Gegenüberstellung von Renaissancekompositionen (Josquin, de la Rue, Willaert, de Rore, Palestrina, Lasso) und Neuer Musik: Luigi Nonos A Pierre. Dell'azzurro silenzio, inquietum und Salvatore Sciarrinos Hermes für Flöte solo. Letzteres, ein naturgemäß einstimmiges Stück, entfaltete in den akustischen Gegebenheiten der Kirche (ein Raum mit langer Nachhallzeit ist für das Werk vorgeschrieben) eine reizvolle ›Schattenpolyphonie‹. Zu den Reizen des Konzertes gehörte auch der gar nicht auf Glättung gerichtete Umgang des Vokalensembles mit Akzidentien: Hier wurde Kontrapunkt auf einmal wieder zu einem echten Erlebnis – ein Aspekt, der wohl bei allen, die Leidenschaft für das Thema mitbringen, eine Rolle spielen dürfte, der in etlichen Vorträgen aber etwas in den Hintergrund zu treten drohte.
Die abschließende, von Immanuel Ott geleitete Podiumsdiskussion mit Thomas Daniel, Robert Lang, Silke Leopold, Johannes Menke und Eva Verena Schmid, an der sich gegen Ende hin das Publikum intensiv beteiligte, führte viele lose Enden zusammen und diente nicht zuletzt einer Verschärfung des Bewusstseins für die offenen Fragen, seien es die praktischen Schwierigkeiten der Kontrapunktpädagogik oder die Definition des Gegenstandsbereichs (wunderbar prägnant Ulrich Kaisers Formulierung: »Kontrapunkt ›Sample gegen Sample‹«). Sehr wahrscheinlich wäre ohne diese Diskussion der Gesamteindruck des Kongresses wesentlich unbefriedigender ausgefallen.
Auf der Mitgliederversammlung der GMTH wurde Immanuel Ott einhellig als Präsident der Gesellschaft bestätigt. Nachzutragen noch, dass die Organisation des Kongresses fast geräuschlos und reibungsfrei vonstatten ging – was lässt sich Besseres sagen? – und dass auch diese Zusammenkunft wie bereits so viele GMTH-Jahreskongresse zuvor von schönem Herbstwetter gesegnet war. Es wäre ungerecht, gar nichts anderes mehr zu erwarten.