»Verweigerung«
II. Basler Forum für Musikästhetik 2016
10.–11.11.2016
Universität Basel, Musikwissenschaftliches Seminar
Tagungsprogramm
Andreas Baumgartner
Rund um den Petersplatz und damit auch unmittelbar vor dem Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel, in dessen Räumlichkeiten am 10. und 11. November 2016 das »II. Basler Forum für Musikästhetik« tagte, tobte die Basler Herbstmesse: Kleine Büdchen mit gebrannten Mandeln, Magenbrot und traditionellem ›Beggeschmutz‹ reihten sich an Raclette-,Wurst- und Glühweinstände; neben Keramikgeschirr, Wollmützen, Büchern und Saftpressen wurden willigen Passanten mehr oder weniger nützliche oder aber unterschiedlich schöne Dinge zum Kauf feilgeboten. – Und so begann die Auseinandersetzung mit dem diesjährigen Forums-Thema »Verweigerung« für interessierte BesucherInnen mit Hilfe einer Art ›lebensweltlicher Veranschaulichung‹ bereits vor dem offiziellen Beginn der Veranstaltung.
All denjenigen, die den (süßen) Verlockungen widerstanden und sich der (eher herberen) geistigen Kost widmeten, bot sich ein interdisziplinärer Austausch über die ästhetische Kategorie der Verweigerung, zu dem die Organisatoren Gunnar Hindrichs (Philosophisches Seminar, Universität Basel), Johannes Menke (Schola Cantorum Basiliensis) und Matthias Schmidt (Musikwissenschaftliches Seminar, Universität Basel) eingeladen hatten. Dabei wurden insgesamt acht Input-Referate aus den Bereichen Musikwissenschaft, -theorie, -philosophie, -pädagogik und -praxis zur Diskussion gestellt.
Auch wenn Volker Helbing (Hannover) als Einziger im Titel seines Referats »Angebot? Verweigerung? Zu den Streichquartetten Lachenmanns« explizit auf den Stuttgarter Komponisten verwies, bezogen sich viele Redner in ihren Beiträgen auf den Begründer der musique concrète instrumentale und dessen Ästhetik. Dies ist durchaus naheliegend, beschreibt doch Helmut Lachenmann »Schönheit als ›Verweigerung von Gewohnheit‹«. Lachenmann zufolge verwechselten dabei höchstens »Spießer« oder das »Provinzfeuilleton« Gewohnheit mit Genuss. Auch wenn er diese Aussage als »Hilfsdefinition« bezeichnet, bringt die Formel einen wesentlichen Aspekt seiner Ästhetik auf den Punkt. Im Zentrum von Helbings Präsentation stand mit »Reigen seliger Geister« (1989) Lachenmanns Zweites Streichquartett, das er einer formalen Analyse unterzog: Helbing erkannte dabei eine traditionelle Formgestaltung, die sich zwar von der Sonatenform unterscheide, aber Bezugspunkte zu dieser bilde (er nutzte für die Beschreibung der Form denn auch Begriffe wie ›Exposition‹, ›Durchführung‹ und ›Reprise‹). Lachenmann setze klangdramaturgisch traditionelle Mittel ein, die eine klare Formgestaltung zur Folge hätten und somit den hörenden Nachvollzug erleichterten. Während Lachenmann auf klanglicher Ebene mit traditionellen Hörgewohnheiten breche, sei die Fasslichkeit der Form ein Angebot an die Hörerin bzw. den Hörer.
Tobias Janz (Kiel) referierte über »Bachs Kantate ›Widerstehe doch der Sünde‹«, die das Thema der Verweigerung in ihrem Libretto verhandelt. Im heutigen Kunstdiskurs spiele das Thema der ästhetischen Verweigerung keine gewichtige Rolle mehr, und zu Zeiten Johann Sebastian Bachs hätte sich die Debatte noch nicht zu ihrer modernen Form ausgebildet. Janz verwies zunächst auf die vielschichten Bezüge zwischen Georg Christian Lehms Libretto und dem theologischen Diskurs der damaligen Zeit, um dann auf die Verankerung von Bachs Musik im zeitgenössischen Denken zu sprechen zu kommen. So kreisten die von Bach vertonten Kantatenlibretti um wenige, leicht verständliche religiöse Dogmen, die den Dualismus – und damit eine klare Trennung – zwischen Gut und Böse herausstellten. In dieser zur allgemeinen Weltanschauung gewordenen Sichtweise versprächen alleine der Glaube und die Andacht Rettung. Die geistliche Musik solle in dieser Anschauung die Andacht befördern, unterliege gleichzeitig aber immer auch der Gefahr, den Menschen zur Sünde zu verführen. In Bezug auf die von ihm analysierte Kantate beschrieb Janz mögliche Kompositionsstrategien Bachs, durch die der Komponist jenes Ideal andächtiger Musik erreichen wollte: musikalische Illustrierung des Textes oder symbolische Anordnung der unterschiedlichen Satzformen von freier zu strenger Kontrapunktik sowie von vielstimmigem zu schlichtem Klang. Ein weiterer Interpretationsansatz ging davon aus, dass Musik, Bach zufolge, unabhängig von Sinnlichkeit und Rationalität eine »höhere Wahrheit« transportieren und eine subjektive Andacht befördern solle. Sie trete dabei in Verweigerungshaltung zum Bösen. Wo bei Bach in solcher Musik noch Gott gegenwärtig sei, trete im modernen Kunstdiskurs die »ästhetische Wahrheit« in den Vordergrund. Auch bei Hermann Broch (»Das Böse im Wertesystem der Kunst«, 1933) gebe es diesen Dualismus in der Musik, der sich aber vom religiösen zum ethischen gewandelt habe: So spalte sich bei Broch die Musikkultur in die Musik als Kunst und in Musikkitsch, in wahr und falsch. Das Böse sei in diesem System nicht mehr der Teufel, sondern das ästhetisch Minderwertige, der Kitsch. Der Künstler müsse sich bei Broch dem Kitsch verweigern. Dass die ästhetische Verweigerung zu einer historischen Idee geworden sei, lasse sich auch auf Wolfgang Hildesheimers Idee vom »fernen Bach« beziehen: Die Musik Bachs sei uns fern, weil diese mit ihrer dualistischen Aufteilung des göttlich Guten und teuflisch Bösen einen geschlossenen Wertzusammenhang bewirke, der heute in dieser Form nicht mehr gelte. Doch auch wenn die Unterscheidung zwischen gut und böse, wahr und falsch nicht mehr so eindeutig möglich sei und sich der Dualismus im Laufe der Zeit gewandelt (und zu Teilen auch abgeschwächt) habe, sei dieser nach wie vor präsent: Denn immer noch seien Kunst und deren Rezeption ohne Wertung kaum denkbar.
Ausgehend von einem alten Vorurteil, dass neue Musik hermetisch, schwer verständlich und unzugänglich sei, lenkte Cosima Linke (Freiburg) mit ihrem Referat »Verweigerung? Warum neue Musik ästhetische Lust erzeugt« das Forumsthema in eine andere Richtung. Sie plädierte dafür, dass die Rezeption neuer Musik nicht Verweigerung zur Folge haben müsse, sondern dass neuer Musik auch mit Lust begegnet werden solle. So hinterfragte sie in ihrem Referat eine einseitige ›negativitätsästhetische Perspektive‹, die weder in der Lage sei, die ästhetische Erfahrung zu spezifizieren, noch deutlich mache, warum eine ästhetische Erfahrung Lust erzeuge. In Anschluss an Theodor W. Adornos Konstellationsbegriff sowie an Ruth Sondereggers Spielästhetik lasse sich der ästhetische Zusammenhang als eine Konstellation materieller, formaler und sinnhafter Aspekte des ästhetischen Gegenstandes begreifen. Der ästhetische Zusammenhang gehe weder in einem rein hermeneutischen Sinnzusammenhang noch in einem rein musikalisch-immanenten Strukturzusammenhang auf. Linke referierte Adornos Theorie der ästhetischen Erfahrung, in der es um das Verhältnis einzelner Bestandteile zum Ganzen gehe; die (bei neuer Musik) brüchige Einheit zwischen dem Ganzen und seinen Bestandteilen werde während der ästhetischen Erfahrung aktualisiert, indem eine aktiv-passive Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Objekt stattfinde. Dabei sei entscheidend, dass die Erfahrung weder auf ihre sinnlichen noch auf ihre geistigen Momente reduziert würde und dass durch die Verbindung der einzelnen Momente das Ganze entstehe, das den Sinnzusammenhang ausmache. Diese aktiv-passive Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk sei – auch wenn Adorno ein »konsumistisches Verständnis« des ästhetischen Genusses kritisiere – nicht per se lustfeindlich. Wichtig sei die Bereitschaft, sich unvoreingenommen auf den ästhetischen Gegenstand einzulassen und subjektive Empfindungen und Eindrücke zurückzuhalten. Nach der Diskussion verschiedener Theorien ästhetischen Verstehens von Christoph Menke (Die Souveränität der Kunst, 1991), Georg W. Bertram (»Ästhetik der Offenheit«, 2000), Ruth Sonderegger (Für eine Ästhetik des Spiels, 2000) und Jacques Rancière (Die Aufteilung des Sinnlichen, 2006), beendete Linke ihr Referat mit einem Plädoyer für ästhetische Neugier: Neue Musik fordere ein aktives, aufmerksames und selbstreflexives Hören heraus. Diese Herausforderung könne entweder als Überforderung empfunden werden (und hätte dann eine Verweigerung zur Folge) oder als Bereicherung, die wiederum Lust zur Folge haben könne. Voraussetzung für das Erleben dieser Lust sei jedoch die ästhetische Neugier, die sich mit Adorno auch im Sinne einer »Freiheit zum Objekt« verstehen ließe.
Gunnar Hindrichs (Basel) thematisierte in seinem Referat »Peripetien der Verweigerung« Lachenmanns These, dass sich die Kunst dem Gewohnten und somit dem ›ästhetischen Apparat‹ verweigern müsse; da das musikalische Material in Beziehung zu diesem Apparat stünde, müsse sich neue Musik auch mit diesem auseinandersetzen. Dabei gehe es nicht darum, den Apparat hinter sich zu lassen – dieser Illusion sei auch Lachenmann nicht verfallen –, denn die Verweigerung beende nicht dessen Gültigkeit, erschüttere aber die Geltung des Apparats. Der von der Instrumentalmusik bestimmte ästhetische Apparat ließe sich nach Hindrichs im Wesentlichen auf zwei Arten erschüttern: entweder durch die elektronische Musik, die ganz auf den traditionellen Instrumentalklang verzichte, oder aber dadurch, dass die Spielweise von Instrumenten verändert und damit die Konventionen des Instrumentalspiels aufgebrochen würden. Lachenmann schließe mit seiner Formel der Verweigerung von Gewohntem direkt an Herbert Marcuses Theorie vom eindimensionalen Menschen an, in der die proletarischen Umwälzungen als gescheitert angesehen würden und lediglich die »Große Weigerung« bleibe. Lachenmanns Umgang mit dem Material sei – anders als beispielsweise die Emanzipation der Dissonanz – lediglich eine Potenzierung des bereits Entfesselten: Die Verweigerung des Gewohnten biete hier die Möglichkeit, der Verdinglichung des ästhetischen Apparats entgegenzuwirken, erhebe aber keinen Anspruch auf eine Revolution der Musik. Indem sich in Lachenmanns Formel die ästhetische Verweigerung und die Große Weigerung (als Stellvertreterin für die Revolution) verbänden, begründe sich Lachenmanns Ästhetik weder auf Konvention noch auf Revolution. So bewirke die Verweigerung des Gewohnten zwar eine Verstörung, nicht aber die Aufhebung des ästhetischen Apparats.
Der Komponist Dániel Péter Biró (Victoria) kritisierte in seinem Vortrag »Music as Escape, Music as Refusal« die heutige Zeit als ahistorisch, technologisiert, kommerzialisiert und von Ideologien geprägt. Birós Ideal der Musik sucht einen Ausweg, sich dieser Realität zu entziehen. Möglich werde dies dadurch, dass die Musik als abstrakte Form der Kommunikation eine Alternative bilde zur floskelhaften, unreflektierten Kommunikation der heutigen Zeit, in der durch Wiederholung der immer gleichen Slogans vermeintliche ›Wahrheiten‹ entstünden. In ihrer abstrakten Form der Kommunikation, die mehr auszudrücken in der Lage sei als Worte, verweigere sich die Musik der Technologisierung und deren ideologischen Nebeneffekten. So könne durch Musik das ›menschliche Bewusstsein‹ ausgedrückt werden, das als irrationale, andere Realität der technologisierten Welt entgegenstünde. Des Weiteren hätte die neue Musik nach dem Zweiten Weltkrieg alle herkömmlichen musikalischen Strukturen überwunden und somit (mehr oder weniger bewusst) dazu beigetragen, auch gesellschaftliche Strukturen infrage zu stellen. Dabei beschäftigt Biró die ironische Konsequenz, dass sich diese neue Musik mittlerweile kommerzialisiert habe, um auf dem heutigen neoliberalen Markt bestehen zu können. Zusätzlich passe sie sich den ahistorischen Strömungen der Gegenwart an, statt die Anbindung an eine Tradition zu suchen. Denn nach Biró besitze die Musik das Potential, verdrängte kulturelle Aspekte zurückzubringen und daraus jenseits des Mainstreams Neues entstehen zu lassen. In dieser Rückbesinnung verweigere sich die Musik aktuellen Strömungen und biete eine notwendige ästhetische Fluchtmöglichkeit aus der technologisierten, ideologisierten, neoliberalen und ahistorischen Gegenwart an.
Den Musikpädagogen Matthias Handschick (Saarbrücken) interessierte in seinem Referat nicht die Vermeidung von (scheinbar) gewohntem Material oder (vermeintlich) überkommenen Ausdrucksformen, sondern die Verweigerung von SchülerInnen gegenüber jeglicher Form der neuen Musik. Dabei beschrieb Handschick die Vermittlung an Schulen als schwierig, da sich nicht bloß Jugendliche, sondern (in der Folge) auch viele LehrerInnen den Herausforderungen neuer Musik und deren Rezeption nicht stellten. Handschick plädierte dafür, die jugendliche Verweigerung positiv als pädagogische Herausforderung zu verstehen und diese für einen produktiven Umgang zu nutzen. Dabei gehe es nicht nur darum, den SchülerInnen neue Musik zuzumuten, sondern eben auch: zuzutrauen. Die persönliche Verweigerung als spezifische ästhetische Haltung könnte dabei eine Zugangsmöglichkeit für die Beschäftigung mit anderen Formen von Musik sein. Daneben gab Handschick zu bedenken, dass die Schwierigkeiten im Umgang mit neuer Musik nicht nur ästhetisch zu begründen seien: So seien auch soziale, politische, anthropologische und finanzielle Ursachen zu beachten, die den Kontakt zu neuer Musik erschwerten und dazu führen würden, dass kaum Berührungspunkte zu dieser ›aristokratischen‹ Kunst entstünden, was wiederum eine verweigernde Haltung begünstige.
Wurden zunächst Verweigerung durch Komponisten und Rezipienten verhandelt, lenkte Michel Roth (Basel) mit seinem Referat »Verweigerung als Partizipationsform. Eine produktionsästhetische Betrachtung« den Fokus auf die InterpretInnen. Ausgehend von der Diskussion um ›Kunstverweigerungskunst‹ stellte Roth praktische Beispiele vor, in denen Ausführende sich auf unterschiedliche Art und Weise dem ursprünglichen Spielplan entzogen und somit eine Art ›Musikverweigerungsmusik‹ schufen. Als Beispiel nannte Roth das Kümmerling Trio Nr. 1 (1979) seines Namensvetters und Fluxuskünstlers Dieter Roth: Gespielt werde das Trio auf leerer werdenden Kümmerlingflaschen; einen erheblichen Anteil an der Performance – die auf Schallplatte festgehalten und veröffentlicht wurde – entfalle allerdings auf die Diskussion über die richtige Art der Aufführung, also über die Frage, wie Roths Konzept konkret umzusetzen sei. Geprägt werde das Trio folglich durch die unterschiedlichen Vorgehensweisen einzelner Spieler: Emmett Williams verweigere sich, indem er vom vorgestellten Plan abweiche; Roth passe sich den Ausführungen Williamsʼ an, dafür beharre Hansjörg Mayer als Dritter im Bunde auf dem ursprünglichen Konzept und werde dabei zunehmend isoliert. Durch die doppelte Verweigerung (zunächst durch Williams, dann durch Mayer) entstünde eine Situation der Uneinigkeit, die produktiv zu nutzen sei. So verwendet denn auch Michel Roth das Konzept der InterpretInnen-Verweigerung in seiner Komposition Räuber-Fragmente (2011) für Sprecher, improvisierendes Soloinstrument, Gitarre, Saxophon und Kontrabass: Während der Sprecher versuche, eine Geschichte zu erzählen, werde dieser durch die MusikerInnen gestört. Der/die improvisierende SolistIn wiederum dürfe kein eigenes musikalisches Material verwenden, sondern müsse sich immer in Beziehung zu den anderen Spielern setzen und deren Material übernehmen. Sobald diese aber das Gefühl hätten, dass die Musik sinnhaft und dadurch auch konventionell werde, seien sie angehalten, ihren Gestus zu ändern. So entstehe ein Spiel zwischen Spontanität, Inszenierung, Absprache, Konvention und Verweigerung.
Beendet wurde das Forum durch Matthias Vogel (Gießen), der in seinem Referat »Verweigerung und Nachvollzug« zunächst eine Theorie zum Musikverstehen (›Nachvollzugstheorie‹) vorstellte, um dann die Verweigerung in ästhetischen Kontexten zu beleuchten und schließlich herauszustellen, welche Herausforderungen die Verweigerung für Nachvollzugstheorien darstellen könnte. Beim Musikhören gehe es darum, die Musik zu verstehen (oder eben nicht zu verstehen), auch wenn das Verstehen von Musik nicht im Erfassen ihrer Bedeutung liege; diese sei weder eindeutig noch könne die selbe Bedeutung auf unterschiedliche Weise artikuliert werden. Vielmehr gehe es beim Verstehen von Musik um das Erfassen eines Sinns. In einem weiteren Schritt bemerkte Vogel, dass Verweigerung auftreten könne, indem (1) Hörerwartungen nicht eingelöst würden, (2) indem ein Musikstück sich in Teilen oder als Ganzes dem Hörverständnis entzöge oder (3) indem es den Gestus der Verweigerung selbst darstelle. Diese Formen der Verweigerung könnten auf zwei unterschiedlichen Ebenen beobachtet werden: Entweder sei das Musikstück oder der/die KomponistIn das Subjekt der Verweigerung, sodass die Verweigerung im zweiten Fall durch den/die KomponistInnen beabsichtigt, im ersten Fall aufgrund der Unverständlichkeit (der ›Aussage‹) des Stückes unbeabsichtigt sei. Wenn sich ein Stück nun der Erfüllung von Erwartungen verweigere, entstünde daraus kein Problem für die Nachvollzugstheorie, da für die Erschließung des Sinns ein neues Modell erfunden werden könne. Zwei allgemeine Beispiele für Fälle, in denen sich Musikstücke dem Nachvollzug entzögen, seien aleatorische Werke sowie komplexe Stücke, die in ihrer Dichte und in der Anzahl an Informationen die kognitiven Fähigkeiten des Menschen übersteigen würden. Doch auch diese Fälle stellten kein Problem für die Nachvollzugstheorie dar, weil sie in ihrer Komplexität lediglich einen der beiden Pole darstellen würden, zwischen denen sich der Nachvollzug bewege. Den Gegenpol bilde der Ohrwurm, der die Fähigkeit des Nachvollzugs aufgrund seiner Eingängigkeit beleidige. Auch wenn die Musik den Gestus der Verweigerung in sich trage, entstünde eine Form des Nachvollzugs. Der/die HörerIn sei in der Lage, das in der Musik angelegte Prinzip der Verweigerung zu erkennen, dennoch sei eine gewisse Form des Nachvollzugs möglich, da Musik als zwangsläufig vermittelnde Kunst und Handlungsträgerin nicht nicht kommunizieren könne.
Während des zweitägigen »Basler Forums für Musikästhetik« wurden – wie im Tagungsbericht aufzuzeigen versucht wurde – unterschiedliche Aspekte des Themas »Verweigerung« diskutiert, Perspektiven eröffnet und, das ist womöglich das Entscheidende, Fragen stehen gelassen. Mal war das Subjekt der Verweigerung ein Musikstück, mal KomponistIn, RezipientIn oder InterpretIn. Allgemein festhalten lässt sich: Verweigerung kann durch künstlerisch-ästhetische Aspekte begründet werden oder sich als spezifische Rezeptionsform bzw. allgemeine Haltung zeigen. Sie ist eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung, etwas nicht zu tun. Gleichzeitig impliziert dieses verneinende Prinzip im Umkehrschluss immer auch eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung für etwas Anderes. – Doch glücklicherweise gibt es nicht immer nur das Verweigerte und das stattdessen Gewollte, also eine spezifische Form des ›Entweder-oder‹, sondern auch die zeitliche Folge eines ›Zuerst-und-dann‹. Denn je nach Laune, konnte der Forumsbesucher nach der Diskussion über verschiedene Formen der Verweigerung seine Prinzipien fallen lassen und auf dem Petersplatz in das Getümmel des Rummels tauchen.