Music Theory Courses in Europe: Transnational Workshop for Students. Tallinn Training Week

Eesti Muusika- ja Teatriakadeemia

29.3.– 2.4.2022

Workshop-Programm


Fojan Gharibnejad und Gesine Schröder


HarMA+ ist ein von der EU gefördertes Erasmus-Projekt mit dem offiziellen Titel »European landscape of teaching practices and pedagogical innovation in HMEI’s – Music theory fields« (siehe https://erasmus-plus.ec.europa.eu/projects/eplus-project-details#project/2020-1-BE01-KA203-074897). Kooperationspartnerinnen des Projekts sind die Estnische Musik- und Theaterakademie (Eesti Muusika- ja Teatriakadeemia) in Tallinn, die Musikakademien in Danzig (Akademia Muzyczna im. Stanisława Moniuszki w Gdańsku) und Budapest (Liszt Ferenc Zeneművészeti Egyetem), die Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig sowie das Brüsseler Königliche Konservatorium (Conservatoire royal de Bruxelles), dessen Vertreter das Projekt und die mit ihm verbundene immens aufwändige Büroarbeit koordinieren. An dem im Rahmen des Projekts an der Tallinner Akademie durchgeführten Workshop beteiligten sich ungefähr 15 Dozent*innen und 20 Studierende der fünf involvierten Institutionen; für die Vorbereitung des Workshops am direkt vorausgehenden Tag waren außerdem zwei Administratorinnen aus Budapest und Leipzig angereist. Dem Workshop war zum Ziel gesetzt worden, dass Studierende die Chance erhalten sollten, über ihnen bereits bekannte Arten der musiktheoretischen Lehre hinaus an anderen europäischen Orten praktizierte Methoden kennenzulernen und diese miteinander zu vergleichen. Konzediert wurde indes bereits im Vorfeld des Workshops und explizit in der abschließenden Auswertung, dass die vorgeführten Lehrmethoden für die Länder, aus denen die Lehrenden kamen, oder sogar für den Unterricht an den Institutionen, an denen sie lehren, nur begrenzt repräsentativ seien. Immerhin lässt sich vermuten, dass gewisse Zugänge typisch für bestimmte Sprachlandschaften sind. So dürfte es an Hochschulen im deutschsprachigen Bereich zum guten Ton gehören, im Unterricht eher keine Lehrbücher zu verwenden, anders als beispielsweise in Polen, Estland oder Ungarn. Das Label des Projekts fasst ›harmony‹ und ›musical analysis‹ abgekürzt zusammen. Dass die Projektleitung auch das Gebiet Solfège, Solfeggio, Gehörbildung, Hörerziehung, oder wie es jeweils heißt, unter das Dach Musiktheorie geschoben hatte, wenngleich der Anteil von Theorie meist verschwindend gering ist, dürfte seinen Grund darin haben, dass Hörübungen, Satzlehre und Analyse oft von ein- und derselben Person unterrichtet werden.

Dem Lehren von Musik-Hören war der erste Workshop-Tag gewidmet. Geboten wurden Unterrichtsdemonstrationen einer Dozentin aus Danzig (Agata Krawczyk) und dreier Dozenten aus Tallinn (René Eespere, Hans-Gunther Lock und Riho Maimets). Lock führte in ein nicht kanonisiertes Gebiet ein: mikrotonales Solfège mit einer Skala von 22 äquidistanten Stufen pro Oktave (der sogenannten 22-EDO). Nach Intervallsingübungen, unterstützt von einem entsprechend gestimmten Keyboard, dienten eigens von Lock erfundene Minikompositionen sowie Ausschnitte aus Stücken des akusmatischen finnischen Komponisten Juhani Nuorvala (* 1961) der Gewöhnung an die Stimmung. Sie weckten Assoziationen an Josef Matthias Hauers Zwölftonspiele. Mit wenigen Notenwerten kommen sie aus: gewöhnlich Vierteln, Halben und übergebundenen Zusammensetzungen dieser Werte. Es ist eine Musik ohne Pausen, die Taktart – in Nuorvalas Stück ein 5/4-Takt – wechselt nicht, sie wird gewonnen aus der Textdeklamation. Satztechnisch handelt es sich entweder um Bicinien-artige halb-polyphone Texturen eng beieinander liegender Stimmen oder um eher homophone Passagen mit gemeinsamen Atemzeichen für sämtliche Stimmen nach je zwei Takten, bevorzugt mit geistlichem Text, gesungen von Männerstimmen, passend zur Homosphäre eines Landes, dessen bedeutendster lebender Komponist Arvo Pärt ist. Die Hörstunden von Eespere, Krawczyk und Maimets beinhalteten Standardprogramme ihrer Lehranstalten, alle drei kamen ohne Literaturbeispiele aus. Gelegentlich wurden eigens vom Lehrenden erfundene instruktive Kurzkompositionen diktiert, eingespielt von Bratsche, Klarinette oder Flöte: eine Musik ohne rhythmische Herausforderungen, die so gemacht ist, dass sich klangfarbliche Differenzen und Geräuschhaftes ebenso vernachlässigen lassen wie Abweichungen von einer zwölftönig äquidistanten Stimmung, die eine Klarinette kaum vermeiden kann. Maimets bot mit Gegenständen wie ›Intervalle‹, ›Dreiklänge‹, ›Septakkorde‹ oder ›Akkordfolgen‹ einen Streifzug durch die Unterrichtsinhalte für niedrigere Semester, wie sie in Tallinn im Einzel- und Gruppenunterricht mit bis zu sieben Teilnehmenden vermittelt werden. Er thematisierte auch die eigene Methodik, darunter seine Akkordbezeichnungen, wobei Unterschiede zwischen jenen Namen diskutiert wurden, die den anwesenden Budapester und Brüsseler Studierenden bekannt waren, und solchen, die Maimets – als aus Kanada remigrierter Exileste – aus einem eher britischen (mit sowjetischen Anteilen wie der Chiffre K6/4 für den kadenzierenden Quartsextakkord gemischten) Theoriekontext mitbrachte, beispielsweise ablesbar an dem hochgestellten durchgestrichenen Kreis für verminderte Intervalle, kombiniert mit stets in Großbuchstaben geschriebenen römischen Zahlen für die Stufen. Maimets legte auch offen, wie er sich – unter den ausgesprochen günstigen institutionellen Bedingungen der Tallinner Musikakademie – auf unterschiedliche Niveaus der Studierenden einstellt. Krawczyk und Eespere zeigten Methoden zum Hören und Singen atonaler Melodien. Während Krawczyk dies anhand eines in Danzig gebräuchlichen Gehörbildungslehrbuchs1 der Musiktheoriepädagogin und Dirigentin Alina Kowalska-Pińczak (* 1948) und vier anderer Autor*innen demonstrierte, das auf in atonale (oder aus tonalen Fetzen konglomerierte) Musik hineinzuprojizierenden Stufencharakteren der Solmisation basiert, wirkte der Unterricht von Eespere als Zeitmaschine. Letzterer lehrt seit 1979 an der estnischen Musikakademie, und seine Methode ging offenbar aus einem direkt vorausgehenden Moskauer Studium hervor. Grundlage seines Unterrichts ist noch heute sein 1994 zuerst erschienenes Solfège-Lehrbuch.2 Deutlich wurde, wie nah Musikmachen und Sport einander sind. In zunehmendem Tempo waren Intervall- und Klangfolgen zu bestimmen. Sämtliche Teilnehmenden wurden aufgerufen. Und weil Eespere so nett ist, protestierte auch niemand gegen den Drill. Gerne geriet man für ihn ins Schwitzen oder außer Atem. Auch waren zwei die Stunde beschließende, eigens von ihm komponierte ›atonale‹ instruktive Diktate wahrhaft klangschön!

Die Unterrichtsstunden der folgenden Tage waren den Bereichen tonale Harmonie und musikalische Analyse gewidmet. Während Kerri Kotta von der estnischen Musikakademie ein Schenkersche Analytik fortschreibendes eigenes Konzept der Hierarchisierung von harmonischen Regionen vorstellte und dafür vor allem den ersten Satz aus Beethovens Klaviertrio op. 1 Nr. 1 als Exemplum heranzog, machte Salvatore Gioveni vom Brüsseler Konservatorium mit einer Unterrichtsstunde, die den übermäßigen Sextakkord thematisierte, einen Streifzug durch die Geschichte des Akkords und seiner Varianten, um daraufhin zu statuieren, dass keine andere als die von ihm erfundene Chiffre A6 für den Akkord passend sei, auch wenn der hochalterierte Ton im Bass liege, denn die Chiffre gebe – unabhängig von der Erscheinungsform – das Hörerlebnis wieder, jedenfalls sein eigenes. Überlegungen anderer Musiktheoretiker*innen fechten Gioveni nicht an, er wischt sie souverän beiseite und gestattet während seiner Stunde keine Fragen. Fruchtbarer waren die dem Gebiet ›musikalische Analyse‹ gewidmeten Unterrichtsstunden der folgenden zwei Tage. Analysestrategien bei Sonatenformen Domenico Scarlattis stellte Máté Balogh aus Budapest vor (aufgrund einer Corona-Reisebeschränkung online). Unterschiede zwischen einer Lehrbuchversion der Sonatenform und Sonatenformen bei Scarlatti zeigte Balogh anhand zahlreicher Beispiele auf Mikro- und Makroebenen auf. Bei Clustern, die in Scarlattis Sonaten immer wieder vorkommen, handle es sich, wie das Baloghs Stunde folgende Gespräch ergab, um auskomponierte Accacciaturen und Mordente, wie sie in der italienischen Cembalo-Musik um 1700 üblich und beispielsweise in Francesco Gasparinis 1708 in Venedig erschienenem Lehrwerk L´Armonico Pratico al cimbalo beschrieben sind. Baloghs gut strukturierte und an das Online-Format angepasste Stunde führte abermals vor Augen, wie wichtig die Einstellung der Lehrkräfte auf dieses Format ist. Edwin Clapuyt aus Brüssel leitete zur Analyse einer dreistimmigen Sinfonia von J. S. Bach an. Nach einem Überblick über Inhalte und Methoden eines typischen Brüsseler Musikanalyseseminars für Bachelor-Studierende im ersten Jahr folgte, nachvollziehbar gestaltet, die Erstellung einer Tabelle der musikalischen Ereignisse in Bachs f-Moll-Sinfonia mit den Studierenden, und Clapuyts Verzicht auf Fachtermini und auf historisch informiertes Vokabular ermöglichte den Teilnehmer*innen, sich auf diesem eher unbekannten Terrain in kürzester Zeit zu orientieren, so dass eine basale Verständigung gelang. Kotta sprach über die Dramaturgie klassischer Sonatenformen, wobei er die Teilnehmer*innen des Workshops abermals der Verfertigung seiner Gedanken beim Reden folgen ließ, und Aare Tool, ebenfalls von der estnischen Musikakademie, überraschte in seiner methodisch reichen, auch Manuskripte und Orchesterprobenvideos einbeziehenden Stunde mit Entdeckungen zu intertextuellen Beziehungen zwischen Carl Maria von Webers Freischütz-Ouvertüre und Giuseppe Verdis 28 Jahre später uraufgeführter Ouvertüre zu Luisa Miller. Britta Giesecke von Bergh von der Leipziger Hochschule ist zusammen mit Robert Christoph Bauer, ebenfalls aus Leipzig, aktiv in das HarMA-Projekt involviert. Sie sprach in Tallinn über Möglichkeiten, Themen aus Jean Sibelius' Symphonien syntaktisch mithilfe für Musik der Klassik in deutschsprachigen Gebieten verbreiteter Termini wie ›Satz‹ oder ›kontrastierender Mittelteil‹ zu bestimmen, wobei sich die begrenzte Reichweite der Termini als für Sibelius' Stilistik aufschlussreich erwiesen.

›HMEI‹ im Projekttitel kürzt ›higher music education institutions‹ ab. Die Verlautbarung auf dem Flyer und die online-Kurzinfo zum Projekt dürften von Gioveni als Antragsteller bei Erasmus-plus verfasst worden sein: Das Projekt diene der Untersuchung und Weiterentwicklung von europäischen Praxen im Bereich musiktheoretischer Lehre. Die EuroMAC sei indes für an Universitäten beschäftigte Musikolog*innen reserviert, für Leute mit einem PhD, den Lehrer*innen an HMEIs selten hätten. Und: »Musicologists do not practice music.« Dass Dozent*innen an Ausbildungsstätten für professionelle Musiker*innen der Zugang zur EuroMAC verwehrt sei, kann die Berichterstatterin g.s. (aufgrund ihrer Mitorganisation der EuroMACs 2014 in Leuven und 2017 in Strasbourg) nicht bestätigen, auch haben nicht wenige deutsche oder österreichische professionelle Musikausbildungsanstalten Universitätsrang und ihre Theorielehrer*innen nicht selten Doktortitel. Wer aktiv an einer EuroMAC teilnehmen möchte, dessen eingereichtes Abstract muss – ohne Ansehen eines akademischen Titels – von einer Jury akzeptiert werden. Und selbst wenn Musikolog*innen Musik nicht praktizieren sollten, wären ihre Analysen deshalb Makulatur? Der Kern von Giovenis krauser Diskreditierung dürfte sein, dass bei EuroMACs pädagogische Fragen zur Gehörbildung und zum Unterricht in Écriture, in toto pädagogische Fragen, Nebensache sind. Ihrem Namen gemäß steht die musikalische Analyse im Zentrum. Die zwei Tage, die der Tallinner Workshop der Analyse widmete, thematisierten Analyse-Pädagogik immerhin nebenbei.

Gegengewichte zu dem Faktum, dass sich die Projektleitung in diesem Punkt unbelehrbar zeigte, und zu ihrer Neigung zu überbordender Bürokratie waren zwei Exkursionen im Beiprogramm der Tallinner Workshop-Woche. Sie sorgten für wunderbare Erinnerungen. Ein Nachmittag in Tartu, dem früheren Dorpat, endete mit einem Konzert in der Aula jener Universität, an der Arthur von Oettingen einst lehrte. Anlass des Konzerts war das Wiederfinden des Programms, das Franz Liszt am selben Ort vor 180 Jahren absolviert hatte. Gespielt wurden jetzt – von einer Pianistin und sechs Pianisten der Tallinner Musikakademie – akrobatische und herzergreifende Stücke von Liszt, darunter immerhin eines, das in dem wieder aufgetauchten Programm enthalten war, seine Transkription von Franz Schuberts »Ständchen (Serenade)«. Anschließend ein Empfang zwischen Repliken überlebensgroßer schneeweißer antiker Skulpturen. Am Tag vor dem Rückflug dann eine Exkursion zum Arvo-Pärt-Zentrum: mitten im Wald ein Elysium aus lauter Pentagonen mit abgerundeten Ecken, im Inneren aber eine orthodoxe Kapelle, die aussieht wie der Backofen auf dem Weg zu Frau Holle. Zu danken haben alle Beteiligten der hervorragenden Organisation des Tallinner Workshops durch ein Team vor Ort, namentlich Kerri Kotta und besonders der Akademie-Administratorin für auswärtige Treffen, Kai Kiiv.


  1. Anczykowska-Wysocka, Wiesława / Dagmara Dopierała / Alina Kowalska-Pińczak / Romuald Szyszko / Teresa Świerszcz,; red. naukowa Alina Kowalska-Pińczak (2011), Przestrzenie wyobraźni muzycznej : od tonalności po atonalność : kształcenie słuchu : metoda, świadomość, notacja. Zbiór 1, Dyktanda tonalne (Räume der musikalischen Phantasie: von der Tonalität zur Atonalität. Gehörbildung: Methode, Bewusstsein, Notation. Heft 1, Tonale Diktate), Gdańsk: Akademia Muzyczna im. Stanisława Moniuszki.  

  2. René Eespere (1994), Prima vista? tonaalsusest atonaalsuseni : solfedzeerimisharjutused professionaalseks muusikuks pürgijale muusikalise kuulmise arendamiseks (From tonality to atonality. Advanced learner's exercises of solfeggio for developing one’s ear for music), Tallinn: Eesti Eres. https://www.ester.ee/record=b1067032*est (Abruf 4.4.2022).