»Tonsysteme und Stimmungen«: 21. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie

Musik-Akademie Basel/Hochschule für Musik (FHNW)

1.–3.10.2021

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Programmübersicht

Markus Roth und Matthias Schlothfeldt


Zu Herbstbeginn war der Jahreskongress der GMTH – nach 2003 zum zweiten Mal – in Basel zu Gast. Wenige Tage vor Kongressbeginn stand über der geplanten Durchführung der Veranstaltung in Präsenz allerdings immer noch ein großes Fragezeichen. Das Organisationsteam der Musik-Akademie Basel/Hochschule für Musik (FHNW) um Moritz Heffter, Johannes Menke, Florian Vogt und Caspar Johannes Walter entschloss sich erst nach Auswertung einer Blitzumfrage unter den Vorangemeldeten zur Einladung in die Schweiz. Dieses Wagnis wurde ihnen durch schönstes Herbstwetter über die Kongresstage gedankt, das den Tross der Teilnehmenden bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wenn nicht an den Rhein, dann an die Bistrotische auf dem stimmungsvollen Innenhof der Akademie zog, um den zuletzt schmerzlich vermissten persönlichen Austausch mit Kolleg*innen zu pflegen. Trotz der großen Resonanz kam es über das Wochenende nur vereinzelt vor, dass sich Räume aufgrund der vor Ort geltenden Hygienebestimmungen im entscheidenden Moment als etwas zu klein erwiesen. Und die den Kongress eröffnende Keynote von Alexander Rehding (Harvard University) konnte, da der Referent die Reise über den Atlantik nicht antreten konnte, im Großen Saal via Zoom übertragen werden.

Für die Basler Ausbildungsstätte(n) lag das ausgerufene Kongressthema »Tonsysteme und Stimmungen« auf besondere Weise nahe, verfügt die Musikakademie doch inzwischen über eine stattliche Anzahl von vieltönigen Tasteninstrumenten, allen voran über das 2016 fertiggestellte, nach Plänen von Nicola Vicentino (L’antica musica ridotta alla moderna prattica, 1555) realisierte Arciorgano mit 36 Tönen pro Oktave, das während der gesamten Kongresstage im Großen Saal zu bestaunen war. Vor diesem ganz konkreten Hintergrund mag man von Rehdings erster Keynote umfassendere Einsichten in aktuelle Diskurse der »kritischen Organologie« erwartet haben; doch indem er im Rahmen einer detailreichen Fallstudie über Alexander Ellis (»On the Musical Scales of Various Nations«, 1885) eindringlich an die im Grunde einfache, wenngleich ihre Sprengkraft bis heute bewahrende Einsicht erinnerte, dass in erster Linie die Möglichkeiten und Grenzen von Instrumenten (man möchte erweitern: Medien) und auf diese applizierte Stimmungen als ›Filter‹ für theoretisches Denken wirken, lieferte Rehding einen punktgenauen Aufschlag in die Kongressthematik. Hier konnten Johannes Keller und Caspar Johannes Walter in einer gemeinsam mit der Physikerin Andrea Heilrath konzipierten Präsentation unmittelbar anknüpfen. Während Keller das Arciorgano aus aufführungspraktischer Sicht nicht als fixiertes ›System‹, sondern vielmehr als hybrides Kondensat verschiedener Konzepte beschrieb, dessen Potentiale gerade in seiner Unschärfe und vielseitigen Verwendbarkeit liegen, demonstrierte Walter in konzentrierter Form die komplexe Wirklichkeit vieltöniger Stimmungssysteme u. a. anhand eines Ausschnittes aus dem Madrigal Come sian dolorose von Michelangelo Rossi und gab Einblick in einen kleinen Teil der bislang entdeckten und erprobten, mitunter verblüffende klangliche Effekte hervorrufenden ›erweiterten Spieltechniken‹. Kellers und Walters Ausführungen ließen erahnen, welchen Glücksfall das Arciorgano, in Kellers Worten ein »Instrument für Praktiker«, für den Bereich künstlerischer Forschung bedeutet, die in Basel in mehreren assoziierten Clustern betrieben wird. (Man wird Vicentino selbst ohne Übertreibung als Ahnherr künstlerischer Forschung bezeichnen können. Später stellte sich ein Forscherquartett, dem neben Keller noch Anne Smith, Martin Kirnbauer und Luigi Collarile angehören und das sich genanntem Traktat von Vicentino widmet, als »Bibelkreis« vor.)

Die Keynotes des zweiten Kongresstages waren der Makam-Theorie bzw. -pädagogik (Michalis Cholevas) und der kompositorischen Ästhetik der »Rational Intonation« (Catherine Lamb) gewidmet. Der Makam-Kenner Cholevas präsentierte sich als origineller Pädagoge und beeindruckte als Yayli Tambur-Spieler das vernehmbar Mehr verlangende Publikum. Die Tenney-Schülerin Lamb, die 2020 mit dem Ernst von Siemens-Kompositionspreis ausgezeichnet wurde, umriss in ihrer bildmächtigen Lecture »on purity/impurity« ihre Vision eines multidimensionalen harmonischen Raums, in dem Töne bzw. Interaktionen zwischen Tönen ihr Eigenleben entfalten können (»so that one does not overpower the other«), ohne durch »historisches Gewicht« belastet zu sein (»the interaction of tone without historical weight pulling it in one direction«). Eine Neufassung von Lambs Komposition Curva Triangulus hatte das fabelhafte Ensemble Proton Bern am Vorabend des Kongresses uraufgeführt, kombiniert mit einer äußerst gelungenen Interpretation von Tenneys Harmonium #1. Auch für dessen von Intervallproportionen geprägte Harmonik mag Lambs Ausspruch gelten: »expressivity lies in the clear and plain unfolding of the harmonic colorations«.

Gemessen an der bunten Vielfalt (und mitunter am thematischen Wildwuchs) vergangener Kongresse bot das von den Organisatoren zusammengestellte und dem Spektrum »Systematisieren – Lehren – Aufführen – Wahrnehmen – Veranschaulichen« zugeordnete Tableau der individuellen Kongressbeiträge eine bemerkenswerte und wohltuende Fokussierung sowohl auf die Musik des 16. und 17. als auch des 20. und 21. Jahrhunderts: Nicht nur der Name Vicentino, sondern ebenso die sich mit Komponisten wie Hába, Partch, Tenney, Johnston, Stahnke und Haas verbindenden mikrotonalen Konzepte waren in Basel in aller Munde. Umso schwerer mag den Teilnehmenden vor diesem Hintergrund die Entscheidung für das eine und gegen das andere inhaltlich eng verwandte, aber gleichzeitig stattfindende Referat gefallen sein; und zuweilen wurde im Kleinen Saal dargelegt, was kurz zuvor schräg gegenüber im Klaus Linder-Saal bereits ausführlich erläutert worden war. (Mit der Herausforderung einer wünschenswerten, möglichst straffen thematischen Bündelung und Verschränkung werden sich auch künftige Organisator*innen immer wieder befassen müssen.) Als Kristallisationspunkte innerhalb des Kongressprogramms erwiesen sich insbesondere die Teilaspekte Solmisation und Intonation. Mit den Beiträgen von Jörn Arnecke, Hans-Peter Reutter u. a. avancierte die Digitalisierung musiktheoretischer Lehre zum Nebenthema des Kongresses, das auch in AGs behandelt wurde. Das kann insofern nicht verwundern, als das Thema aktuell an fast allen Institutionen relevant ist, so dass auch der Wunsch nach Vernetzung der Aktivitäten laut wurde.

Zu einem der Höhepunkte des gesamten Kongresses gehörte aus der persönlichen Sicht der Berichterstatter die Lecture »SOLMISATION – MODUS – KLANG« von Anne Smith, die sie am späten Samstagvormittag mit dem Vokalensemble Domus Artis vor dem versammelten und aufmerksam lauschenden Plenum durchführte. Auch in Kenntnis ihres Buches The Performance of 16th-Century Music: Learning from the Theorists (Oxford University Press 2011) war es beeindruckend zu erleben, wie Smith aus elementaren Übungen zur klanglichen Unterscheidung der Solmisationssilben (vgl. Martin Agricola, »von Unterscheid der Stimmen«, in: Musica Choralis Deudsch, 1533) in größter Ruhe und Konzentration zu Lehrbeispielen von Adam Gumpelzhaimer (Compendium musicae, 1. Aufl. 1591) fortschritt, um an ihnen die spezifische melodisch-harmonische Färbung verschiedener Modi zu veranschaulichen. Ihre Lecture fand in der Präsentation einer diminuierten, von Johannes Keller am Arciorgano subtil begleiteten Fassung von Adrian Willaerts Motette Mirabile mysterium ihren beeindruckenden Abschluss und Höhepunkt. (Man wird den Ansatz, den Smith hier demonstrierte, als Gehörbildungsunterricht im besten Sinne verstehen können.) Den beteiligten Sänger*innen wurde auch im Abendkonzert großer und berechtigter Applaus zuteil, ebenso wie Studierenden der Basler Jazz-Abteilung für die Präsentation von Eigenkompositionen, die sich dem Arciorgano aus ganz anderer, oft überraschender Perspektive näherten.

Preisträger*innen im diesjährigen Aufsatzwettbewerb waren Anna Hausmann (1. Preis für »Das natürliche Vorbild der Harmonielehre: Naturwissenschaftliche Modelle in Rameaus Musiktheorie«), Roman Lüttin (2. Preis für »Wie komponiert man im Modus? Verfahren der Modusdarstellung in Gioseffo Zarlinos Musici Quinque Vocum Moduli«) und Amir Abbas Ahmadi (3. Preis für »Anwendung computergestützter Programme zur Berechnung von Stimmungssystemen am Beispiel des iranischen Dotarspielers Mohamad-Hoseyen Yegane«). Im Kompositionswettbewerb, in dem eine Komposition für Vokalensemble jenseits konventioneller Tonsysteme und Stimmungen verlangt war, wurden Hanna Beul für »...wundersame, gewaltige...« und Christian Groß für »klirrt der Wind« ausgezeichnet, wobei letztere Komposition das Arciorgano mit einbezieht. (Nachträgliche Aufnahmen der prämierten Stücke können hoffentlich über die GMTH-Website publiziert werden.)

So kamen in Basel im Verlauf eines dichten und instruktiven Kongresses Alte und Neue Musik auf inspirierende Weise zusammen. Klar wurde indes auch, dass die Praxis spekulativer Vieltönigkeit und ebenso die immer stärkere Ausdifferenzierung mikrotonaler und spektraler Ansätze in der aktuellen Kompositionspraxis immer noch im Rang einer musica reservata stehen. An dieser Erkenntnis arbeitete sich auch die abschließende, von Johannes Menke moderierte Podiumsdiskussion mit Laure Spaltenstein, Carter Williams, Martin Kirnbauer, Ariane Jeßulat und Roman Brotbeck ab. Letzterer beschrieb die Geschichte der Mikrotonalität zwar als eine Geschichte der »abgebrochenen Projekte«, forderte aber das Ende der Dominanz rigider Systeme ein; Jeßulat beschwor die Potentiale künftiger diverser Praxen im ›in between‹ zwischen systematischem (›theoretisierendem‹) Denken und praktischem (›künstlerischem‹) Tun. Zugleich wurde in der Runde die Sehnsucht nach ›Reinheit‹ als fragwürdig problematisiert, die wohl aus mancher just intonation-Partitur ebenso spricht wie aus neuen Intonationsversuchen älterer Werke. In jedem Fall aber dürfte der Kongress den Teilnehmenden so exemplarisch wie eindringlich vor Augen geführt haben, wie bedeutsam die Auseinandersetzung mit Stimmungen und Tonsystemen aktuell ist und in Zukunft sein wird.