Über Eignungsprüfungen in Musiktheorie und Gehörbildung

Stellungnahme des Vorstands der GMTH zur MULEM-EX-Studie

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Im Mai 2024 wurde der Bericht zur Studie »MULEM-EX« (MUsikLEhrkräfteMangel – eine EXplorative Studie), die von der AG Schulmusik der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen (RKM) initiiert worden war, veröffentlicht. Zielsetzung dieser Studie war, Gründe für den Rückgang der Studierendenzahlen in den Studiengängen für das Lehramt Musik ausfindig zu machen und Lösungsansätze zur Bekämpfung des Mangels an Musiklehrkräften in Deutschland aufzuzeigen. Befragt wurden dazu in 71 »Mikrostudien« Schüler/innen, Studierende und Berufstätige insbesondere nach Gründen, die aus der jeweiligen Sicht dieser Personen gegen die Aufnahme eines Lehramtsstudiums Musik sprechen.

Der Ernst des Problems eines gravierenden Mangels an Musiklehrkräften erfordert aus unserer Sicht eine konstruktive Debatte aller mit musikalischer Bildung befassten Akteurinnen und Akteure. Grundsätzlich entsteht bei der Lektüre des Berichts allerdings der Eindruck, dass die »Handlungsoptionen«, die aus den Teilstudien abgeleitet werden, weniger aus den Ergebnissen der einzelnen Befragungen, als vor allem aus deren Interpretation heraus begründet werden. Die Begründung dieser Interpretation kommt aber in der Darstellung, insbesondere mit Blick auf die Tragweite der daraus abgeleiteten politischen Forderungen, zu kurz.

Eine Empfehlung der Studie zielt darauf ab, auf Prüfungsteile in den Fächern Musiktheorie und Gehörbildung in Eignungsprüfungen für Lehramtsstudiengänge zu verzichten, da diese Fächer, so der Bericht, »ein hohes Abschreckungspotenzial für Studieninteressierte« besäßen und »zudem nur begrenzt in der Lage« seien, »die musikalische Eignung zu bestimmen« (S. 20). Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser letzteren Behauptung folgt unten bei Punkt b. An dieser Stelle sei zunächst auf einige negative Auswirkungen hingewiesen, die eine Abschaffung dieser Prüfungsteile hätte:

  1. Niveaurückgang bzw. Niveaugefälle im Musikstudium: Eignungsprüfungen stellen sicher, dass die Studierenden über die nötigen Kompetenzen verfügen, die es ihnen ermöglichen, das anvisierte Studium gewinnbringend zu absolvieren und sich erfolgreich zu qualifizieren. Entfallen die Prüfungsteile für Musiktheorie und Gehörbildung, so ist davon auszugehen, dass vielen Studierenden Grundkenntnisse und -fähigkeiten in diesen Bereichen fehlen. In der relativ kurzen, üblicherweise vier Semester umfassenden Phase der musiktheoretischen Grundlagenausbildung im Rahmen eines Bachelorstudiums ist es kaum möglich, gleichzeitig Basiskompetenzen zu erwerben und Kurse zu belegen, die diese Kompetenzen bereits voraussetzen. Zudem handelt es sich bei Musiktheorie und Gehörbildung nicht um ›Lernfächer‹, die notfalls auch komprimiert vermittelt werden können: Kompetenzen in diesen Bereichen, die Synergien mit anderen Disziplinen ermöglichen, können (nicht anders als bei Gesang, Instrumentalspiel usw.) nur über einen längeren Zeitraum erworben werden. Entsprechend ließe sich ein niedrigeres Eingangsniveau nicht einmal durch eine höhere Stundenzahl in Musiktheorie und Gehörbildung während des Studiums auffangen. Das Niveau der Lehrveranstaltungen müsste demzufolge angepasst, d. h. gesenkt werden. So liefe das Musik-›Studium‹ Gefahr, im Bereich Musiktheorie kaum über den Bereich einer Allgemeinen Musiklehre hinauszukommen und nicht mehr ein Niveau zu erreichen, auf dem die Potenziale der Musiktheorie und deren Synergieeffekte mit anderen Studienfächern zum Tragen kommen können. Studierende mit einer Affinität zu diesen Disziplinen müssten sich mit einem weniger attraktiven Lehrangebot abfinden, welches sie unterfordert.

  2. Steigende Studienabbruchquoten: Da im Rahmen eines Studiums die Anforderungen nicht beliebig heruntergesetzt werden können, ist damit zu rechnen, dass auch im Falle einer Niveausenkung Studierende nach einigen (kostenintensiven) Studiensemestern feststellen, dass die Voraussetzungen, über die sie verfügen, für einen erfolgreichen und entsprechend motivierenden Studienverlauf nicht ausreichen.

  3. Negative Konsequenzen für vorhochschulische Breitenbildung und Studienvorbereitende Ausbildung (SVA): Da Unterrichtsanteile in Musiktheorie und Gehörbildung an Schulen und Musikschulen unterrepräsentiert sind, würde ohne die äußere Veranlassung, sich auf eine Prüfung vorzubereiten, bei vielen angehenden Musikstudierenden die Motivation wegfallen, sich intensiver mit dieser Materie zu befassen. Aus der Perspektive dieser Jugendlichen und ihren Eltern erscheint es wenig sinnvoll, im Vorfeld eines Studiums Zeit, Mühe und Geld zu investieren in etwas, das im Studium selbst vermeintlich noch in ausreichender Breite angeboten wird. Das Zerrbild, dass Musik eine rein praktische und weniger mit Reflexion verbundene Angelegenheit sei, würde dabei verstärkt bzw. verfestigt. Die ohnehin nur an wenigen Musikschulen etablierten regelmäßigen Unterrichtsangebote in Musiktheorie und Gehörbildung liefen Gefahr, vollends weggespart zu werden. Auch an allgemeinbildenden Schulen mit all ihren Potenzialen der Begabtenförderung würde das Signal ausgesendet, die Aktualität und Relevanz der Bereiche Musiktheorie und Gehörbildung sei fraglich. Ein Verzicht auf Prüfungsteile in diesen Bereichen bedeutete somit für die musikalische Breitenbildung einen Rückschritt. Gewiss lässt sich den Ursachen des Problems des Musiklehrkräftemangels in Deutschland nicht durch einen Verzicht auf Eignungsprüfungen in Musiktheorie und Gehörbildung beikommen. Nicht allein im Fach Musik, sondern generell leiden das Lehramtsstudium und der Lehrerberuf an einem Rückgang an Attraktivität, etwa wegen der abnehmenden Wertschätzung, die Lehrerinnen und Lehrern in der öffentlichen Meinung entgegengebracht wird, und den zunehmenden Belastungen, denen sie zugleich ausgesetzt sind.

Weiterhin möchten wir an dieser Stelle für eine kritische Reflexion bestimmter Bilder von Musiktheorie plädieren, die sich in der MULEM-EX-Studie bemerkbar machen, indem daraus Begründungen von Forderungen abgeleitet werden. Die GMTH fördert seit jeher eine Weitung der Perspektiven und eine gesellschaftliche Öffnung des Fachgebiets Musiktheorie, hinterfragt bestehende Lehr- und Lernstrukturen und wendet sich gegen ein verengendes Image des Faches. Veränderungsprozesse, die in der deutschsprachigen Musiktheorie seitdem stattfinden, finden in der MULEM-EX-Studie hingegen keine Berücksichtigung, geschweige denn Würdigung. Vielmehr werden darin die folgenden Stereotype verstärkt:

  1. die Annahme, Inhalte der Eignungsprüfungen und auch des Lehramtsstudiums insgesamt würden nicht zum schulischen Berufsalltag passen (S. 17).

    Bei der Beschäftigung mit Musikstücken in der Schule kommt es für die Lehrperson darauf an, die Struktur der jeweils behandelten Musik, die Art und Weise, wie diese hergestellt ist und sozusagen ›funktioniert‹, zu verstehen. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, so ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass im schulischen Musikunterricht unzutreffende oder nicht hinreichende Einschätzungen zu Musikstücken vermittelt werden und zentrale Aspekte womöglich unberücksichtigt bleiben, weil sie den jeweiligen Lehrenden nicht einmal bewusst sind. Fähigkeiten im Bereich der Satzlehre sind zudem eine essenzielle Voraussetzung u. a. für das Arrangieren, wozu eine Lehrkraft in der Lage sein sollte, wenn es etwa erforderlich ist, bestimmte Stücke an vorhandene Besetzungen anzupassen. Kompetenzen im Arrangieren und Komponieren können zugleich den Schülerinnen und Schülern vermittelt und entsprechende Neigungen durch die Schule gefördert werden. Fähigkeiten im musikalischen Hören benötigt jede Musiklehrkraft, um zu einer differenzierten Beschäftigung mit Musikstücken anzuleiten, wann immer deren Erarbeitung im schulischen Unterricht über das Hören erfolgt; weiterhin besteht ein enger Konnex zwischen Gehörbildung und Gesang.

    In einer Zeit des musikalischen Pluralismus wirkt sich zudem erschwerend auf die Vermittlung aus, dass im Grunde jede Musik-Art über ihre eigene Theorie verfügt: Nur eingeschränkt lässt sich von einer gemeinsamen Theorie für diverse Sparten, historische Stile und unterschiedliche Kulturen reden. Um diesen jeweiligen Musik-Arten gerecht zu werden, ist es erforderlich, sich in deren jeweilige Denk- und Bedeutungsstrukturen zu vertiefen. Musiktheoretische Reflexion trägt wesentlich dazu bei, dass eine Verständigung über strukturelle und semantische Aspekte unterschiedlicher Musik-Arten gelingen kann.

  2. die Annahme, Kompetenzen in Musiktheorie sagten wenig aus über die musikalische Eignung (S. 20).

    Diese Annahme bedient das Vorurteil der Praxisferne, das von der Antinomie ›Theorie versus Praxis‹ ausgeht. Dabei verhält es sich mit der Musikausübung nicht anders als mit anderen Künsten und Fertigkeiten, dass nämlich Theorie und Praxis aufeinander angewiesen sind und eine Einheit bilden. Kompetenzen in Musiktheorie (z. B. wenn sie durch musikalisch-kreative Aufgaben wie etwa das Fortsetzen oder Harmonisieren gegebener Melodien nachgewiesen werden) sind durchaus ein Gradmesser für musikalische Begabung und Kreativität, welche für alle künstlerischen Fächer des Musikstudiums von Relevanz sind. Eignungsprüfungen in Musiktheorie und Gehörbildung sichern demnach nicht nur das Eingangsniveau für die theoretischen Fächer, sondern weisen darüber hinausgehend Kompetenzen nach, die für die übrigen Studienfächer notwendig sind. Das gilt insbesondere für das schulpraktische Klavierspiel, welches in besonderem Ausmaß von Kompetenzen in Musiktheorie und Gehörbildung abhängig ist.

Als förderlich in der Diskussion betrachten wir Initiativen zugunsten eines Ausbaus von Informations- und Kursangeboten für Studieninteressierte, wie z. B. leicht auffindbare Musterklausuren, Studieninformationstage mit Probetests, Online-Selbsttests und Tutorials. Auch eine erhöhte Vielfalt bei stilgebundenen Aufgabentypen in Musiktheorie- und Gehörbildungsklausuren sollte in Betracht gezogen werden. Außerdem betrachten wir das Zusammenspiel zwischen Musikhochschulen und Schulbehörden hinsichtlich der Gestaltung von Musiklehrplänen und Abiturprüfungen in manchen Bundesländern als optimierungsbedürftig und blicken einem entsprechenden Dialog offen entgegen.

Der Vorstand der Gesellschaft für Musiktheorie
Februar 2025