Chernova, Elena / Katharina Thalmann / Benjamin Vogels (2015), »›Gegliederte Zeit‹ – XV. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) an der Universität der Künste Berlin und der Hochschule für Musik ›Hanns Eisler‹, 1.–4. Oktober 2015«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 12/2, 261–264. https://doi.org/10.31751/828
eingereicht / submitted: 30/11/2015
angenommen / accepted: 05/12/2015
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 30/07/2016
zuletzt geändert / last updated: 01/05/2018

»Gegliederte Zeit« – XV. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) an der Universität der Künste Berlin und der Hochschule für Musik ›Hanns Eisler‹, 1.–4. Oktober 2015

Elena Chernova, Katharina Thalmann, Benjamin Vogels

Der Kongress der GMTH fand im Jahr 2015 vom 1. bis 4. Oktober in Berlin statt. Dem historischen Datum, dem 25. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands, entsprach die Kooperation der beiden künstlerischen Hochschulen der Stadt, der Universität der Künste (UdK) und der Hochschule für Musik ›Hanns Eisler‹ (HfM), die den Kongress, der erstmals seit der Gründung der Gesellschaft im Jahre 2000 in Berlin stattfand, gemeinsam ausrichteten. In Vorbereitung des Kongresses wurden im Rahmen eines anonymen Bewertungsverfahrens 99 eingereichte Abstracts bewertet. Das endgültige Programm umfasste neben 71 Einzelbeiträgen u.a. drei Keynote-Vorträge, zwei Workshops und vier Buchpräsentationen. An zwei Abenden fanden neben dem wissenschaftlichen Programm zwei Konzerte mit Alter und Neuer Musik statt. Die GMTH begrüßte Musiktheoretiker und -wissenschaftler vieler deutscher Hochschulen und Universitäten sowie zahlreiche internationale Gäste aus 15 Ländern.

Das Thema des Kongresses war dem Paradigma der Zeit gewidmet, einem Begriff, der, wenn im wissenschaftlichen Kontext verwendet, abstrakter und zugleich präziser Formulierungen sowie scharf umrissener Kategorien bedarf. Die Musik als eine der Erscheinungsformen dieses Paradigmas bietet zahlreiche Möglichkeiten, seine charakteristischen Aspekte zu diskutieren. So wurde im Rahmen verschiedener historischen Stationen gewidmeter Sessions die Idee einer Art analytischer Zeitreise thematisiert. Hier hielt gewissermaßen die Zeit an, so dass geschichtlich übergreifende Prozesse und Kategorien divergenter Herkunft (Theorien, Modelle, Techniken, Tonalität, Kontrapunkt, Orchesterkonzepte, harmonische Systeme etc.) reflektiert werden konnten. Gleichzeitig konvergierten unterschiedliche historische, zeitliche und geografische Räume: italienisches und deutsches Barock, zeitgenössische Musik, Wiener Klassik, Mittelalter und Renaissance, moderne und alte außereuropäische Musik, deutsche Musik des 19. Jahrhunderts, russische Komponisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts etc. Diese Konvergenzen verdeutlichten somit einen anderen wichtigen Aspekt von Zeit in der musikalischen Kunst und Wissenschaft, nämlich den der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, ein Thema, das mehrfach – im Rahmen einer gleichnamigen übergeordneten Sektion und in zahlreichen Vorträgen – thematisiert wurde. Diese Idee – ein Kennzeichen der Moderne, so Ernst Bloch – wurde im hervorragenden Design des Kongresslogos, im Symbol der Zeit – dem Chronometer – visualisiert.

Während des Kongresses fanden drei Arbeitsgruppensitzungen statt. Bereits vor der offiziellen Eröffnung wurde nach fünfjähriger Pause der Arbeitskreis »Musiktheorie und neue Medien« wieder zum Leben erweckt. Unter der Leitung von Ulrich Kaiser wurden im Laufe von zwei Sitzungen multimediale Projekte präsentiert, es kamen Urheberrechtsfragen, die Detmold Music Tools (ein Online-Angebot für Musiktheorie und Gehörbildung) sowie die Nutzung digitaler Medien zur Sprache. Die Arbeitsgruppe bestimmte außerdem Konrad Georgi zum neuen Vorsitzenden. Während des Treffens der AG »Internationales« wurden zwei Richtungen angedeutet, welche die Arbeit dieser Gruppe in Zukunft inhaltlich bestimmen werden: Zum einen werden Informationen über den Status der Musiktheorie in verschiedenen Ländern gesammelt, die evtl. auf der GMTH-Website zusammengetragen werden. Zum anderen wird im Rahmen der AG zukünftig eine engere Zusammenarbeit zwischen Musiktheorie und Ethnomusikologie angestrebt. Das Treffen der AG »Situation der Lehrbeauftragten« war den Ergebnissen einer vor dem Kongress durchgeführten Umfrage gewidmet.

In ihren Grußworten hoben die beiden Rektoren Martin Rennert (UdK) und Robert Ehrlich (HfM) die Bedeutung der Existenz beider Hochschulen auch im wiedervereinigten Berlin hervor. Damit wurde zugleich ein Anspruch formuliert, dem die beiden Institutionen in den folgenden Kongresstagen in hervorragender Weise gerecht wurden.

In den Keynotes wurde das Thema des Kongresses von drei in ihrer Verschiedenheit sich ergänzenden Vorträgen umrissen. James Hepokoski (New Haven) setzte sich in einem geradezu klassischen ›close reading‹ mit formalen Problemen des Heiligen Dankgesangs aus Beethovens Streichquartett op. 132 auseinander. Marie-Agnes Dittrich (Wien) knüpfte an diese Analyse an und fragte unter dem programmatischen Titel »›Whenever you are, we’re already then‹: Zeitreisen in Musik, Theorie und anderen Bereichen« nach den Folgen der Anwendung zeitgenössischer (und nicht nur musikalischer) Analysekategorien auf ältere Musik (und umgekehrt). Der Philosoph Gunnar Hindrichs (Basel) schließlich formulierte in seinem Vortag »Musikalische Eschatologie« seine Vorstellung davon, wie die Idee des ›Neuen‹ in ein Konzept von Musikgeschichte einfließen könnte.

Die anschließenden Vorträge fanden für den Rest des Tages in der HfM statt. In drei Sektionen wurden Fragestellungen zum Thema ›Gegliederte Zeit‹ abgehandelt. In der Sektion »Musik des Mittelalters und der Renaissance« stellte Eva Maschke (Hamburg) ihre Forschung zur Notation des Rhythmus in Notre-Dame-Handschriften vor und wies auf problematische Aspekte bei der Edierung dieser Musik hin. In der Sektion »Rhythmus, Metrum, Form: Allgemeines« führte Patrick Boenke (Wien) in Peter Petersens Konzept des Komponentenrhythmus ein und skizzierte, ausgehend von Carl Schachters Schenker-inspirierter Forschung, eine Verbindung beider Konzepte. In dieselbe Richtung zielte Martin Küster (Berlin), der in seinem Vortrag den Begriff des »harmonischen Rhythmus« hinterfragte. Anhand unterschiedlicher Traditionen der Musiktheorie wies Küster auf die Konsequenzen des Gebrauchs dieses Begriffs hin. Hans-Ulrich Fuß (Hamburg) schließlich schloss die Sektion mit seinem Vortrag zum »musikalischen Werkganzen« ab und erweiterte damit den thematischen Zusammenhang von der Betrachtung einzelner Passagen auf ganze Kompositionen. Zentral war dabei die Frage, ob eine Komposition lediglich auf dem Papier als Einheit existiert, oder auch im Bewusstsein des Hörers. Flankiert wurden diese Vorträge von der Sektion »Rhythm and Timing in Non-Isochronous Meter« sowie von Buchpräsentationen.

Die Sektion »Zeitgenössische Theorien«, die am folgenden Tag wieder in der UdK stattfand, begann mit Małgorzata Pawłowskas (Kraków) Vortrag »Narrative and Time in Music«. Dieser Beitrag setzte sich mit Narrativität als dem Ergebnis eines zeitlichen Verlaufs im musikalischen Kunstwerk auseinander. Interessant war die Gegenüberstellung von Tom Rojo Pollers (Berlin) Beitrag »Makro- und Mikrozeit« in derselben Sektion mit dem Vortrag »To Listen Anew. Contemporary Composers in the Face of Classical Repertoire« von Ewa Schreiber (Poznań), der darauf in der Sektion »Revolution und Evolution in der Musik« stattfand. Während Poller das Fehlen zeitgenössischer Musik bei der Diskussion musiktheoretischer Fragestellungen beklagte, stand bei Schreiber gerade die Lektüre klassischer Musik durch zeitgenössische Komponisten im Vordergrund. Sie stellte diese an Schriften von Ligeti, Lachenmann und Jonathan Harvey dar, in denen die Komponisten über Hörerfahrungen von Werken zeitgenössischer Kollegen schreiben oder auch Musik von Beethoven oder Mozart analysieren. Dabei zeigte sie auf, welches Potenzial in der sich daraus ergebenden veränderten Hörperspektive bezüglich der Musikwahrnehmung liegt.

Zuvor hatte Ulrich Kaiser (München) in seinem Beitrag zur Sonatenhauptsatzform in der gleichen Sektion formale Gemeinsamkeiten zwischen Suitensätzen von Händel und Bach und Sonatenhauptsätzen von Haydn und Mozart herausgearbeitet. Aufgrund der Gliederung der jeweiligen Formverläufe in bausteinähnliche Module erwies sich die Methode auch als geeignet für eine mögliche Form von Theorieunterricht. Reinhard Bahr (Hamburg) verglich anschließend in derselben Sektion Bachs Fuge g-Moll BWV 861 mit Wagners (fugiertem) Vorspiel zum dritten Akt der Meistersinger von Nürnberg. Anlass zu dieser genauen und detailreichen Analyse gab eine überlieferte Äußerung von Cosima Wagner. Neben strukturellen Bezügen nannte Bahr auch Zusammenhänge nationaler und politischer Natur. Abschließend setzte sich Ariane Jeßulat (Berlin) mit dem Begriff des »Urchorals« auseinander. Dabei untersuchte sie insbesondere Johannes Brahms’ Instrumentalmusik auf zeitlose, formelhafte »Submotive«. Gleichzeitig mit diesen Vorträgen fand eine Sektion zur Wiener Klassik, die am Abend fortgesetzt wurde, statt, sowie eine als Round Table gestaltete Thematische Sektion unter dem Titel »Carl Dahlhaus’ Was heißt ›Geschichte der Musiktheorie‹? nach 30 Jahren«. In vier Vorträgen und einer ausführlichen Plenumsdiskussion wurde dort der im Sektionstitel zitierte, von Dahlhaus im Jahre 1985 veröffentlichte Aufsatz in den Blick genommen, der als Schlüsseltext in der (Selbst-)Beschreibung der Disziplin Musiktheorie gilt. Zur Sprache kamen rezeptionsgeschichtliche Aspekte mit Bezug auf den deutschsprachigen und den US-amerikanischen Raum (Jan Philipp Sprick, Rostock; Nathan Martin, Ann Arbor) sowie methodologische Beobachtungen zum Verhältnis von Fachhistorie und -systematik (Jan Philipp Sprick). Besonderes Augenmerk galt auch der Verortung der von Dahlhaus eingenommenen Position in ihrem historischen Umfeld wie innerhalb des gegenwärtigen Fachdiskurses (Thomas Christensen, Chicago; Frank Heidlberger, Denton).

Inwiefern sich die Situation der Korrespondenz zwischen west- und osteuropäischer Musiktheorie nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs geändert hat, zeigten die Beiträge zur russischen Musik. Bereits am Vormittag des dritten Kongresstages hatte Konstantin Zenkin (Moskau; Sektion »Zeitgenössische Theorien«) in seinem Vortrag »Time as Material and Idea« über Ideen des russischen Musikphilosophen Aleksej Losev berichtet. Am Abend demonstrierte Hans Peter Reutter (Düsseldorf) die Verwendung des ›Satzmodells‹ »Alla napolitana« bei Strawinsky in der Sektion »Musik des 20. Jahrhunderts (II)«. Die Thematische Sektion zum 100. Todesjahr Sergej Taneevs und seines Schülers Aleksandr Skrjabin präsentierte vier Beiträge zu verschiedenen Seiten der beiden kompositorischen Œuvres: zu Harmonik und Rhythmus bei Skrjabin, zur Kontrapunktlehre Taneevs und zu Orchester- bzw. symphonischen Konzepten beider Komponisten. Zeitgleich fanden die Sektionen »Musik des 19. Jahrhunderts (I)« und »Musik des 20. Jahrhunderts (I)« statt, die am Abend zusammen mit den Sektionen »Barockmusik«, »Wiener Klassik (II)« und »Zeitgenössische Kompositionstechnik« bzw. am Morgen des folgenden Tages fortgesetzt wurden.

Überdies waren »Zeitgestaltung und Interpretation« Thema einer weiteren Sektion am Morgen des letzten Konferenztages. Christian Utz (Graz) präsentierte seinen Beitrag »Komponierte, interpretierte und wahrgenommene Zeit«, der unter dem Stichwort ›performative Analyse‹ am Beispiel von Bachs »Goldberg-Variationen« ein Modell der Integration von (Struktur-)Analyse und Interpretationsforschung zur Diskussion stellte. In der zeitgleichen Sektion »Musik des 19. Jahrhunderts (II)« stellte Urs Liska (Freiburg) seine Forschung zur Form in Schumanns Carnaval vor. Almut Gatz (Düsseldorf/Berlin) beschloss die Sektion »Musik des 20. und 21. Jahrhunderts« mit Gedanken zur Zeitartikulation in der Komposition Lovesong von Chaya Czernowin.

Die beiden Konzerte am Abend des ersten und zweiten Tages machten das Kongressthema auf vielfältige Weise sinnlich wahrnehmbar: Am Donnerstag waren die Cembalistin Mitzi Meyerson und ihre Kolleginnen Lora Korneeva und Natalie Pfeiffer als Berliner Cembaloensemble zu erleben. Im Joseph-Joachim-Konzertsaal der UdK interpretierten sie Werke von Antoine Forqueray und Jean-Philippe Rameau, bisweilen in Originalbesetzung, aber auch in eigenen Arrangements für drei Cembali. Die farbigen und einfallsreichen Interpretationen legten offen, dass gerade beim Cembalo die präzise Zeitgliederung sowie Fragen des Timings und der Artikulation von zentraler Bedeutung sind. So wurde das musiktheoretische Kongressthema am ersten Abend um die Facette der praktischen Interpretation erweitert – die Gliederung von Zeit wurde zu einem geschickten Spiel mit der Zeit. Der Bezug zur Musiktheorie war zudem mit der Person Jean-Philippe Rameau unmittelbar gegeben.

Am Freitagabend folgte als Kontrast ein Konzert des ensemble mosaik Berlin im Krönungskutschensaal der HfM. Das Ensemble präsentierte ein dramaturgisch reizvolles Konzertprogramm, das sich das Thema der gegliederten Zeit in dreifacher Hinsicht zunutze machte: Die Stücke wurden – von Gérard Griseys Vortex Temporum bis hin zu Anton Weberns Vier Stücken op. 7 – immer kürzer, die Besetzung immer kleiner, die Zeit(wahrnehmung) somit immer knapper, gedrängter, dichter. Die Stücke selbst wurden dabei immer ›älter‹.

Am Samstagabend, vor der jährlichen GMTH-Mitgliederversammlung, wurden die Preise für die Wettbewerbe der GMTH verliehen. Im künstlerischen Wettbewerb wurden Michael Koch und Julian Habryka je mit einem zweiten Preis, Christian Tölle mit einem dritten Preis ausgezeichnet; von der Preiswürdigkeit der prämierten Werke konnte sich das Publikum angesichts der inspiriert musizierten Aufführungen durch Berliner Studierendenensembles selbst überzeugen. Beim wissenschaftlichen Aufsatzwettbewerb ging ein zweiter Preis erneut an Michael Koch, ein dritter Preis an Roberta Vidic.

Im Zentrum der den Kongress abschließenden Podiumsdiskussion stand eines der wichtigsten Ereignisse der modernen Zeit: die »Öffnung des Eisernen Vorhangs«. Hermann Danuser und Mathias Hansen (Berlin), die zusammen mit Ariane Jeßulat, Anna Dalos (Budapest), Sanja Kiš Žuvela (Zagreb) und Marcus Zagorski (Bratislava) diskutierten, deuteten das markanteste Paradox der europäischen Musikgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an: Solange der Vorhang ›Löcher‹ hatte, habe gegenseitiges Interesse von Künstlern und Wissenschaftlern von beiden Seiten bestanden, das nach der Öffnung kontinuierlich gesunken sei. Erst in den letzten Jahren sei eine gewisse Wiederbelebung der Beziehungen zu beobachten, wie die Teilnehmer der Diskussion aus Bratislava, Zagreb, Budapest und Berlin konstatierten. Nicht zuletzt wegen der Austragungsorte dieses 15. GMTH-Jahreskongresses und des Bezugs zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung spannte dieser Schlusspunkt einen stimmigen Bogen über das ganze Wochenende.

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