Editorial
Die Anzahl der eingegangenen Beiträge, die Breite des Themenspektrums sowie zahlreiche inhaltliche Berührungspunkte ermöglichen, das vorliegende Varia-Heft der ZGMTH als Doppelausgabe zu veröffentlichen.
Zunächst lenkt Hubert Moßburger den Focus auf die »Harmonik als Faktor der Aufführungspraxis« und widmet sich damit einem Desiderat der Geschichte der Interpretationsgeschichte, sind es doch gemeinhin andere musikalische Parameter wie Tempo, Dynamik und Artikulation, denen bei diesem Thema die Aufmerksamkeit gilt. Moßburgers Rundgang durch zahlreiche Vortragslehren des 18. und 19. Jahrhunderts fördert nicht nur interessante Kriterien für die Interpretation harmonischer Phänomene im Wandel der Zeiten hervor, sondern spürt auch den Ursachen dafür nach, warum die Harmonik ihre ursprünglich tragende Rolle bei aufführungspraktischen Fragen im klassisch-romantischen Zeitalter zunehmend einbüßte.
In der Rubrik ›Musiktheorie der Gegenwart‹ knüpft Ulrich Kaiser an die in seinem letzten Beitrag für die ZGMTH (»Was ist ein musikalisches Modell?«[1]) geäußerten Überlegungen zum Modellbegriff in der Musiktheorie an. Kaisers Vorhaben ist es »vor dem Hintergrund zahlreicher Analysen und unter Berücksichtigung zeitgenössischer Quellen belastbare Überleitungsmodelle zu definieren, die wiederum Grundlage für einen umfassenden Theorieaufbau zum Thema ›Überleitung‹ bilden können.« Der Beitrag gibt zugleich den Startschuss für ein öffentlich zugängliches Datenbankprojekt, durch das bis dato noch nicht untersuchte Überleitungen der Forschung zugänglich gemacht werden sollen.
In ein dialogisches Verhältnis treten die Beiträge von Markus Neuwirth und Stefan Rohringer. Mit einem Schwerpunkt auf dem Schaffen Joseph Haydns untersucht zunächst Markus Neuwirth die Bedeutung des mediantischen Reprisenübergangs, der eine gegenüber der üblichen Vorbereitung durch die V. Stufe zwar nachrangige, angesichts der Häufigkeit aber nichts desto trotz relevante Option in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts darstellt. Vor dem Hintergrund der einschlägigen Literatur diskutiert Neuwirth zunächst die Frage, ob das Verfahren als Konvention oder Normabweichung zu deuten ist, um sich dann mit »spezifischen Funktionen« zu befassen, die dem mediantischen Reprisenübergang im Satzganzen erwachsen können. Eine umfassende Aufstellung von Belegfällen ermöglicht auch hier weitere Forschungsvorhaben.
An Neuwirths Überlegung, dass sich »die Auffassung, die Mediante III# fungiere als ›alternative Dominante‹ […] auf der Basis traditioneller Begründungsmuster als problematisch erweist«, schließt unmittelbar der Beitrag von Stefan Rohringer an. Rohringer schlägt am Beispiel des Kopfsatzes aus Schuberts großem B-Dur-Klaviertrio D 898 vor, in der analogen Gestaltung von Nahkontexten eine Strategie zu erkennen, durch die eine Substitution bisheriger durch neue, gleichwohl identifizierbare Funktionen gelingt und so die ›Anschlussfähigkeit eines neuen Programms‹ (Niklas Luhmann) innerhalb des funktionalen Systems ›Tonalität‹ gewährleistet wird.
Im zweiten Beitrag Rubrik ›Musiktheorie der Gegenwart‹ diskutiert Karl Traugott Goldbach »Modelle der Grundtonbestimmung«. Goldbach erkennt in den Versuchen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Akkordbildungen der erweiterten Tonalität zu Grundtonbestimmungen zu gelangen, die Absicht die Entwicklungen der Moderne »unter Einschluss traditioneller Verfahren» zu erklären. Gleichwohl zeigen nicht zuletzt die bis in die jüngste Zeit insbesondere in Teilen der systematischen Musikwissenschaft betriebenen Versuche nichts weniger als den Widerstreit zwischen einer an anthropologischen Grundkonstanten ausgerichteten Forschung und der Vorstellung, musikalische Auffassungen seien durch und durch geschichtlich bestimmt.
Die verbleibenden beiden Artikel widmen sich der Musik des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Grundsätzliche Reflexionen zur Theorie der Autorenschaft verleihen den Ausführungen von Andreas Zeißig zusätzliches Gewicht. Ausgangspunkt sind die Notations für Klavier von Pierre Boulez, von denen der Komponist einige in eine labyrinthische Textur für großes Orchester überführt hat. Mit Blick auf Umfang und Komplexität der deutlich erweiterten Orchesterfassungen erprobt Andreas Zeißig den Begriff der ›Wucherung‹, mit dem Boulez kompositorisches Schaffen in Analogie zu Wachstumsphänomenen der Natur setzt. Mit Robert Rabenalts Beitrag über Ennio Morricones Filmmusik zu Sostiene Pereira erscheint erstmals eine Untersuchung zur Filmmusik in der ZGMTH. Rabenalt beleuchtet die enge Korrespondenz zwischen der Musik und der filmischen Narration. Sein besonderes Interesse gilt dabei den Lösungsansätzen Morricones für das generelle ›Formproblem in der Filmmusik‹ und dem spezifischen Verhältnis zwischen der ›internen‹ und ›externen‹ auditiven Darstellungsebene.
In der Rubrik ›Rezensionen‹ geht es einmal mehr um Mozart. Michael Polth würdigt Wolfgang Grandjeans Studie über »Mozart als Theoretiker der Harmonielehre«. Dabei scheut Polth nicht, auf die tiefgreifende Aporie hinzuweisen, in die »gegenwärtig jeder hineingerät, der – wie Grandjean – sowohl als Musikwissenschaftler als auch als Musiktheoretiker tätig ist.«
Das Verhältnis von Musiktheorie und (historischer) Musikwissenschaft zieht sich als roter Faden auch durch die drei Berichte, welche die Ausgabe abrunden: Verena Weidner informiert über die International Orpheus Academy for Music & Theory 2008, die »Music Theoretical Dimensions of 18th Century Opera with a focus on Mozart’s Don Giovanni« zum Thema hatte. Sinem Derya Kılıç berichtet über das internationale musikwissenschaftliche Symposium im Rahmen der BrucknerTage 2008, das sich dem Thema »Johannes Brahms und Anton Bruckner im Spiegel der Musiktheorie« annahm. Und Alexander Stankovski schildert seine Eindrücke vom letztjährigen Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie, der unter dem Motto »Musiktheorie als interdisziplinäres Fach« an der Kunstuniversität Graz erstmals in Österreich stattfand.
Stefan Rohringer
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