Andreas Bernnat, Grundlagen der Formbildung bei Claude Debussy. Ein analytisches Modell für die Klavierwerke von ›Pour le piano‹ bis zu den ›Etudes‹, Tutzing: Schneider 2003
Hans Aerts
Beim Nachdenken über die Musik Debussys tun sich bald Widersprüche auf: Abschnitte, die in ihrer Aufeinanderfolge als logische Fortsetzung erscheinen, weisen bei näherer Betrachtung eine sehr unterschiedliche Struktur auf; formale Glieder lassen sich mit gleichermaßen plausiblen Argumenten einander entgegengesetzten Formfunktionen zuordnen; Stücke, die zunächst als lose Aneinanderreihung vieler kurzer Abschnitte erscheinen, wirken am Ende dennoch wie ein Ganzes. Andreas Bernnat nimmt solche paradoxen Beobachtungen zum Ausgangspunkt und fragt, wie sie in der musikalischen Struktur begründet sind.[1] Sein Fazit: Es ist eine Grundidee von Debussys Musiksprache (bei Bernnat exemplifiziert durch die Klavierzyklen der mittleren und späten Schaffensphase), musikalische Strukturen so zu organisieren, dass eine eindeutige Auffassung der kompositorischen Sachverhalte unmöglich ist. Nicht schlichte Mehrdeutigkeit sei jedoch das Ziel, sondern »funktionelle Umdeutbarkeit«.[2] Eine musikalische Struktur bei Debussy erlaube nämlich in der Regel zwei verschiedene Deutungen: eine »dominierende«, die die Struktur im Moment ihres Erklingens sinnvoll auf das Vorangegangene beziehen lässt, und eine »angedeutete«, die eine Verknüpfung mit dem Nachfolgenden ermöglicht.[3] Im musikalischen Verlauf fänden also immer wieder »Verlagerungen« statt, bei denen eine zunächst nur »angedeutete« Auffassungsmöglichkeit im weiteren Fortgang zur »dominierenden« wird. Eine solche »Verlagerung« mache im Rückblick die »Umdeutung« vorheriger Strukturen notwendig.[4] Dieser Prozess vermittle in Debussys Musik zwischen Gegensätzen und löse Widersprüche auf.[5]
Um das Spiel mit Mehrdeutigkeiten analytisch greifbar zu machen, definiert Bernnat grundsätzliche Möglichkeiten, musikalische Form zu gestalten: »Strukturtypen« (auch »Struktur-Idealtypen«)[6], deren Funktion darin besteht, einen Grundton zu artikulieren, und »Verlaufstypen«[7], die eine Abfolge von Abschnitten zu einem Ganzen zusammenfügen. Eine bestimmte Deutung einer musikalischen Struktur kann somit auf nachvollziehbare Weise durch den Nachweis begründet werden, wesentliche Merkmale eines dieser Typen seien in der betreffenden Struktur vorhanden. Außerdem wird die spezifische Mehrdeutigkeit oder »Heterogenität« einer Struktur dadurch erfassbar, dass gezeigt werden kann, welche Typen sich in ihr »überlagern«.[8]
Bei den Strukturtypen unterscheidet Bernnat zwischen »Linienstruktur«, »Klangstruktur« und »Satzstruktur«.[9] Letztere bildet ihm zufolge das Wesensmerkmal harmonisch-tonaler Musik, die auf dem »Bezugsmodell« des mehrstimmigen Satzes basiert und mittels harmonischer Fortschreitungen einen »tonikalen Grundton« artikuliert. Das »Bezugsmodell« für die Tiefenstruktur der Satzmelodie ist dabei der »Zug«; »Modell« für den Zusammenklang ist der Dreiklang.[10] Eine »Klangstruktur« hingegen orientiert sich am »Modell« des Obertonspektrums, tendiert zu Ausbreitung statt Fortschreitung und prägt einen »harmonischen Grundton« aus. Sämtliche Töne werden in einer solchen Struktur in einen Gesamtklang eingebunden, weshalb Tonfolgen hier keine Bewegung und Sprünge keine Distanz ausdrücken.[11] Für eine »Linienstruktur« sind Bewegung und Distanz konstitutiv: Hier durchmessen melodische Schritte und Sprünge den Tonraum mit dem Ziel, einen »melodischen Grundton« zu artikulieren. Formale Geschlossenheit gewinnt eine Linienstruktur am ehesten, wenn sie nach dem »Modell« eines Bogens gestaltet ist, dessen Anfangston durch seine Wiederkehr am Ende als Grundton bestimmt wird.[12]
Bei den Verlaufstypen unterscheidet Bernnat zwischen »Bogen-Typus« und »Entwicklungs-Typus« (sowie einigen Subtypen dieser Kategorien).[13] Beim »Bogen-Typus« rundet sich ein formaler Verlauf dadurch, dass eine Folge von Abschnitten exponiert und anschließend (mit Ausnahme des letzten Abschnittes) in umgekehrter Reihenfolge rekapituliert wird (z.B. ABA, ABCBA). Ein Verlauf, der dem »Entwicklungs-Typus« angehört, weist auf sein Ende hin, sobald ein Abschnitt als »Modell« für die weitere Entwicklung erscheint und endet in dem Moment, wo dieses Modell infolge der Entwicklung seine Modellfunktion verliert (z.B. AB1-AB2, ABACA).[14]
Die Zweckmäßigkeit seiner zum Teil recht abstrakten Bestimmungen demonstriert Bernnat in zahlreichen Analysen, in denen er etwa die »Überlagerung« und anschließende »Verlagerung« und »Umdeutung« von Grundtönen (z.B. zwei harmonischen Grundtönen oder einem tonikalen und einem melodischen Grundton)[15] oder von Formfunktionen eines Abschnittes innerhalb eines Verlaufstypus’ (z.B. der Funktionen »Zentrum« und »Episode«) nachweist.[16] Wie diese Analysen zeigen, sind funktionelle Deutungen, die von einem absoluten, ›zeitlosen‹ Standpunkt aus getroffen werden und auf ein eindeutige Bestimmungen abzielen (z.B. ›dieser Abschnitt repräsentiert eine Klangstruktur‹, ›das Stück schließt dort, was folgt ist Coda‹), in Debussys Musik prinzipiell Widersprüchen ausgesetzt. Eindeutigkeit besitzt eine Struktur in der Regel nur von einer ganz bestimmten Position im formalen Verlauf aus betrachtet; von einer anderen Stelle aus gesehen ergibt sich eine neue Deutung, die andere Aspekte des Tonsatzes in der Vordergrund rückt. Zusätzliche Plausibilität verleiht Bernnat der zentralen These seiner Untersuchung dadurch, dass er eine Reihe allgemein anerkannter Stilmerkmale von Debussys Musik (darunter bevorzugte Akkordtypen und Skalen, ›geschichteter‹ Tonsatz, metrische Ambivalenzen) auf überzeugende Weise aus dem Streben nach »funktioneller Umdeutbarkeit« abzuleiten vermag.[17] Die drei »Strukturtypen« erweisen sich zudem als wertvolles Instrument, um das Verhältnis von Debussys Musik zur harmonischen Tonalität in positiver Weise zu bestimmen: Bildet dort der kontrapunktisch geführte mehrstimmige Satz das durchgängige Modell, auf das alle Strukturen bezogen werden können, bildet er hier eine von drei gleichwertigen Möglichkeiten, musikalische Form zu artikulieren.[18] Ein wesentlicher Unterschied zwischen Debussy und Ravel liegt laut Bernnat denn auch darin, dass bei letzterem die Auflösung eines durchgehenden Gerüstsatzes nicht in vergleichbarem Maße erkennbar sei.[19]
Die größte Stärke von Bernnats Analysemodell liegt jedoch darin, den Blick auf die Abstimmung zwischen musikalischen Details und auf deren Bedeutung für die Großform zu lenken. So kann eine Zuordnung zu einem der »Verlaufstypen« unter Umständen nur gelingen, wenn zunächst die Hierarchie der »Verlaufsebenen« in einem Stück festgehalten wird (Einleitung, Coda und Parenthesen sind der Hauptebene untergeordnet). Dies setzt eine Gewichtung von Zäsuren voraus, diese wiederum eine Bestimmung von Grundtönen, also auch der jeweils repräsentierten »Strukturtypen«, mithin eine Antwort etwa auf die Frage, ob ein sukzessives Intervall Bewegung darstellt oder einen Klang vergegenwärtigt. Stets drängt Bernnat auf die Suche nach Gegenindizien für eine bestimmte Deutung. Schließen sich diese mit anderen Aspekten des Tonsatzes zu einer entgegengesetzten Deutung zusammen, weist dies auf eine »Überlagerung« hin. Außerdem verlangt er, dass jeweils nur eine Deutung (also eine Zuordnung zu einer Kategorie, die andere Kategorien ausschließt) vorgenommen wird; die Annahme von »Mischtypen« lehnt er prinzipiell ab.[20] Gerade weil eine Entscheidung gefällt werden muss, treten jene Aspekte, die dieser Entscheidung widersprechen, desto klarer zum Vorschein[21]; die im Tonsatz verankerten Ambivalenzen werden erkennbar.
Bernnat bemüht sich sehr um Präzision und Nachvollziehbarkeit.[22] Einige seltsame Brüche enthält der Text allerdings durch die Art, wie der Autor sich immer wieder mit möglichen Einwänden und Missverständnissen auseinandersetzt und zudem seiner Sorge Ausdruck verleiht, er habe sein Projekt früher beenden müssen, als es der Sache eigentlich angemessen wäre. Dabei ist es zweifellos ein Verdienst des Buches, zu vielen weiteren Fragen (historische Differenzierung und Kontextualisierung, Bedeutung des Konzeptes der ›Umdeutbarkeit‹ für die Musik anderer Komponisten, Prinzipien der Auswahl aufeinanderfolgender Strukturtypen und Grundtöne) Anlass zu geben. Bernnats Arbeit stellt ein wertvolles analytisches Instrumentarium zur Verfügung, das von der ästhetischen Wahrnehmung ausgehend zu einem tieferen Verständnis zu führen vermag.
Anmerkungen
Das Buch entstand als Dissertation, betreut von Helga de la Motte-Haber und eingereicht an der Technischen Universität Berlin. | |
Bernnat 2003, 179 passim. | |
Ebd., 55–61. | |
Ebd., 55–61. | |
Ebd., 181f. | |
Ebd., 61–76. | |
Ebd., 143–157. | |
Ebd., 81–89. | |
Ebd., 61–76. | |
Ebd., 74–76. | |
Ebd., 64–68. | |
Ebd., 68–73. | |
Ebd., 143–157, besonders 147. | |
Zur Verdeutlichung des letzten Beispiels: Die »Etappe« AC bestimmt die »Etappe« AB zum »Modell«; die Wiederkehr bestimmt A zum »Zentrum«. Am Ende der Entwicklung tritt dieses »Zentrum« allein auf und übernimmt nun schließende statt eröffnende Funktion. | |
Bernnat 2003, 51–110 (Kap. II). | |
Ebd., 143–177 (Kap. IV). | |
Ebd., 89–110. | |
Ebd., 189f. | |
Ebd., 187. | |
Ebd., 154–156. | |
Ebd., 166, vor allem Fn. 29. | |
Auf einige Errata in Bernnats Buch sei an dieser Stelle hingewiesen: S. 138: »T. 85ff« statt »T. 84ff«, »T. 82ff« statt »T. 81ff«, S. 139: »T. 39ff« statt »T. 38ff«, S. 141: »T. 39ff« statt »T. 38ff«, S. 152: »eine Modifikationen«. |
Hochschule für Musik Freiburg [Freiburg University of Music]
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