Ravel heute
Theo Hirsbrunner
Acht schweizerische und französische Komponisten, die zwischen 1939 und 1975 geboren sind, wurden auf die Bedeutung der Musik Ravels für ihr eigenes Komponieren befragt (Marc-André Dalbavie, Walter Feldmann Allain Gaussin, Christian Henking, Jean-Luc Hervé, Philippe Manoury, Roger Tessier und Stefan Wirth). Ihre Einschätzungen reichen vom Vorwurf der Glätte und ästhetischen Rückwärtsgewandtheit über die Anerkennung einer zeitlosen Gültigkeit bis hin zur Auffassung, dass Ravels seinerzeit einsamer Ansatz heute universell geworden sei bzw. gerade für das beginnende 21. Jahrhundert aktuell sei.
Der folgende Aufsatz ist das Resultat einer Umfrage unter schweizerischen und französischen Musikern. Vollständigkeit wurde nicht angestrebt; dennoch können die einzelnen Beiträge – siebzig Jahre nach dem Tod des Komponisten – ein differenziertes Bild davon abgeben, wie heutige Komponisten ihr Verhältnis zu Ravel sehen.
Gefragt wurden nicht die weitaus bekanntesten Persönlichkeiten wie Pierre Boulez, Klaus Huber oder Karlheinz Stockhausen – ihre Haltung zu den musikalischen Größen der Vergangenheit ist längst bekannt. Junge und in den mittleren Jahren Stehende haben für einmal das Wort. Da deren Biografie und nähere Lebensumstände einem breiteren Lesepublikum nicht immer bekannt sind, sorgt jeweils ein kurzer Abriss über berufliche Karriere und wichtige Werke für eine gewisse Vertrautheit, aus der heraus die oft divergierenden Urteile besser verstanden werden können.
Die Texte in deutscher Sprache werden, wenn immer möglich, vollständig wiedergegeben, die französischen in Auszügen auf deutsch, aber mit einigen französischen Formulierungen, da im Grunde nur die Originalsprache die genaue Bedeutung des Geschriebenen und Gesagten vergegenwärtigen kann.
Den Anfang machen drei Schweizer, die drei verschiedene, nicht nur hier gültige Positionen vertreten und zugleich eine enge Verbindung mit Paris haben:
Walter Feldmann (*1965) ist Flötist und Komponist, nahm 1993 an der Académie d’été am Institut de recherche et de coordination acoustique/musique (Ircam) in Paris teil und leitete von 1994 bis 2003 das internationale Festival Tage für Neue Musik Zürich, wo er – unter anderem – die schweizerische Erstaufführung der Espaces acoustiques von Gérard Grisey unter der Leitung von Pierre André Valade sowie eine Schweizer Tournée von Pli selon pli mit Boulez am Pult organisierte. Eng sind Feldmanns Beziehungen mit Paris nicht nur, weil das Ensemble Intercontemporain einige seiner Werke in sein Programm aufnahm, sondern auch durch seine Bekanntschaft mit der Dichterin Anne-Marie Albiach, deren rätselhafte Verse Feldmann zur strukturellen Grundlage seiner Musik machte. 2005 gründete er außerdem den Buchverlag Editions Marta (Zürich), in dem bis heute Werke von Stéphane Mallarmé, Arthur Rimbaud und Gérard de Nerval in bibliophiler Aufmachung erschienen sind.
Sein Urteil über Ravel ist sehr streng und gleicht dem des jungen Boulez:
Maurice Ravel steht seltsam abseits in der Musikgeschichte. Seine wunderbaren, oft aber glatten Werke hauchen eine rückwärtsgewandte Ästhetik aus, sie bedienen sich herkömmlicher Formen aller Stilrichtungen. So könnte Ravels Musik – etwas kühn – als edle Folklore bezeichnet werden, die keinen Blick auf die Zukunft wirft. Diese Veredelung zeigt sich auch in der geschliffenen Orchestrierung, eine Art Perfektionierung der Mittel, […] sie scheint jedoch werkunspezifisch zu sein, sie ist merkwürdig stereotyp. […] Es ist nicht verständlich, warum Ravel im Vergleich zu Debussy als größerer Könner der Instrumentationskunst gilt: Bei Debussy ist die Instrumentierung integrativer Bestandteil jedes Werks.
Es erstaunt nicht, dass, wenn von Ravel die Rede ist, der Name Debussy ins Spiel kommt. Was man unter der glatten Oberfläche, hinter den glänzenden Effekten von Ravels Musik vermisst, ist bei Debussy aufs vielfältigste und tiefgründigste ins Werk gesetzt […], sie ist resolut modern. Jeder Bestandteil des Werks ist essenziell, jedes Detail für das klangliche Ereignis zwingend.
Ganz anderer Meinung ist Stefan Wirth (*1975), der in Zürich von Hadassa Schwimmer zum Pianisten und von Erwin Gage zum Liedbegleiter ausgebildet wurde, seine Studien am New England Conservatory in Boston und an der Indiana University Bloomington fortsetzte und als Preisträger schweizerischer und internationaler Wettbewerbe im In- und Ausland konzertierte. Wirth, der bei Oliver Knussen und Colin Matthews an der Britten-Pears-School Komposition studierte und unter George Benjamin arbeitete, entdeckt die besonderen Qualitäten Ravels gerade in dem, was Feldmann kritisiert:
Die Perfektion und unmittelbare Wirkung seiner Werke verleiten zum Schluss, da arbeite einer auf dem sicheren Grund der Tradition und nehme keine experimentellen Risiken auf sich. Genau das Gegenteil ist der Fall: Ravel agiert nicht als Vollstrecker einer bestimmten Stil- oder Genre-Tradition, sondern liest die Tradition, in die er sich stellt, für jedes Stück neu aus. Das bedeutet, dass für jedes Stück wieder andere technische und ästhetische Prämissen gelten, die von Fall zu Fall neu erfunden werden müssen. Die oft beschriebene Künstlichkeit Ravels ist also mehr als bloße Prätention, sondern notwendige Folge eines radikalen künstlerischen Standpunkts. […]
Jedes Stück Ravels ist ein Experiment zu einer bestimmten Fragestellung, z.B. auf wie viele Arten sich ein und derselbe Ton reharmonisieren lässt (Le Gibet), oder was passiert, wenn eine Melodie bei stets wechselnder und wachsender Instrumentierung unablässig wiederholt wird (Boléro). Im Gegensatz zum ›Geheim-Alchimisten‹ Debussy ist Ravel eher ein handfester Chemiker, der seine Materialien virtuos zu resynthetisieren weiß. […] In diesem Punkt ist Ravel meines Erachtens noch zukunftsweisender als beispielsweise Schönberg, der natürlich eine radikalere Neuordnung des Tonsystems vornahm, der sich aber immer noch als Vertreter einer einzigen, sagen wir mal, deutschen Sonatenhauptsatz-Tradition verstand. Bei Schönberg gibt es auch eine Art musikhistorisches Wertesystem, demzufolge eine Fuge von Bach mehr wert ist als etwa ein Nocturne von Chopin, da sie polyphoner ist, und dass folglich Bach als Modell der neuen Musik zu gelten habe. […] Ravel hat mit seiner Musik demonstriert, dass man sich auf Johann Strauss, Louis Armstrong oder Mozart berufen kann […]. Ravels Polystilismus ist später von Strawinsky aufgegriffen worden […].
Mit der obig skizzierten Aesthetik hat Ravel uns Komponisten des frühen 21. Jahrhunderts sehr viel zu sagen […]. [Er befreit] uns auch von der Miesepetrigkeit gewisser Apologeten neuer Musik, die darauf bestehen, dass es nur eine begrenzte Anzahl begehbarer ›wahrer‹ Wege gibt, heißen diese nun Vincent d’Indy oder Theodor W. Adorno. Ravel hat weder behauptet, er habe die Musik neu erfunden, noch dass es seine Pflicht sei, die Musikgeschichte in eine bestimmte Richtung fortzuführen. Er hat lediglich in jedem seiner Stücke eine neue, unverwechselbare und unwiederholbare Individualität geschaffen, die sich von jeder erdenklichen Form von Musik anregen lässt. Oder, um es mit der unübertroffenen Bescheidenheit Ravels auszudrücken: je commençais à faire d’incessantes découvertes chez mes auteurs de prédilection, en même temps que je sentais en moi qu’il y avait pourtant encore autre chose à dire.
Eine Stellung zwischen Ablehnung und Annahme nimmt Christian Henking (*1961) ein. Er studierte Komposition bei Cristobal Halffter und Edison Denisov und perfektionierte sein Können in Meisterkursen bei Wolfgang Rihm und Heinz Holliger. An der Hochschule der Künste Bern (HKB) unterrichtet er Komposition, Kammermusik, Improvisation und Theorie. 2004 erlebte seine Oper Leonce und Lena am Stadttheater Bern ihre erfolgreiche Uraufführung.
Henking stellt sich die Frage, ob Ravel heute noch aktuell sei, und kommt zu folgendem Ergebnis:
Ravels Personalstil ist zu weit von meiner eigenen Schreibart entfernt, um mich bedrohen oder sogar einnehmen zu können. Sein handwerkliches Können und seine kompositorische Philosophie lassen sich deshalb aus der Nähe, sozusagen schutzlos, betrachten. Man kann bei Ravel ganz einfache und grundlegende Dinge studieren, zum Beispiel was mit zehn (oder allenfalls fünf) Fingern auf dem Klavier möglich ist, wie Reduktion und Vielfalt eine Einheit bilden, dass virtuoses Schreiben stets auch sorgfältiges Schreiben ist usw. […] In diesem Sinn ist Ravel auch heute noch eine wichtige Quelle, genau so wie ein Purcell, ein Haydn, ein Webern. […] Da aber das gute kompositorische Handwerk etwas Zeitloses hat und gleiche oder ähnliche Probleme durch die Jahrhunderte immer wieder, in einem neuen ästhetischen Gewand, auftauchen, gehört […] zu einer ›zeitgemäßen‹ Haltung auch der Blick zurück, die Neugierde auf das Gewesene. […] Das Vergangene ist auch Lehrmeister, aber nicht im engen, oft dogmatischen Sinn mancher Hochschulen. Ich studiere La Valse von Ravel ja nicht, weil ich einen Walzer komponieren will, sondern weil mich ein Werk interessiert, das sich durch Übersteigerung und Überhitzung selbst zu zerstören scheint, und dies bei höchster kompositorischer Finesse. Die Walzer-Struktur ist nur ein zerbrechlicher historischer Stoff, der sich über das noch heute Bemerkenswerte legt. Kurz: Qualität ist immer aktuell.
Die Statements der drei Schweizer Komponisten stecken das Feld ab, in dem sich die Ravel-Rezeption heute bewegt: Stefan Wirth als Jüngster der Drei entdeckt bei Ravel viel, das aus der Enge der Darmstädter Schule und Theodor W. Adornos Theorien hinausführt; Christian Henking weiß einen klugen Gebrauch von Ravels Vorbild zu machen und distanziert sich zugleich; Walter Feldmann aber markiert eine Position, die im Grunde nicht so sehr gegen Ravel gerichtet ist, vielmehr in Debussy den Ursprung der neuen französischen Musik sieht.
Doch worin bestand nun das Neue bei Debussy, wenn nicht in der Emanzipation der Klangfarbe? Sie spielt eine sich ständig steigernde Rolle bei vielen Franzosen, bei Olivier Messiaen und seinen Schülern Gérard Grisey, Tristan Murail und den heute noch jungen Enkelschülern dieses hervorragenden Lehrers. Die Klangfarbe wird seit dem Serialismus der 1950er Jahre als einer der vier Parameter des Tons verstanden, und bei den erwähnten Messiaen-Schülern, den Spektralisten, nimmt sie eine dominante Rolle ein. Vom Spektralismus heute noch zu reden, nachdem dessen wichtigste Vertreter längst in die Geschichte eingegangen sind oder andere Wege gesucht haben, ist unabdingbar, obwohl, wie zu zeigen sein wird, eine Definition der Klangfarbe alles andere als leicht ist.
Im Folgenden sollen auch nicht die Protagonisten jener in den 1970er Jahren beginnenden Bewegung zu Wort kommen, sondern eher die sich im Halbdunkel unserer Zeit befindlichen Persönlichkeiten. Denn Grisey (*1946) starb allzu früh im Jahr 1998; er hatte den in den Espaces acoustiques realisierten Stil schon hinter sich gelassen und sagte mir einmal, dass er eher ein deutscher Komponist sei, der wie Schönberg und Beethoven die ganze Struktur eines Werkes konsequent aus einem prägnanten Initialgedanken entwickle, statt sich dem Reiz einer momentanen Eingebung auszuliefern. Und Murail (*1947) bekannte zwar
La musique a toujours été essentiellement liée à l’harmonie. La question pour moi ne s’est jamais posée de savoir s’il fallait revenir à l'harmonie puisque pour moi la musique est harmonie […][1],
entfernte sich jedoch von seinen Anfängen, die unmissverständlich bei Ravel zu suchen sind, einem Ravel der schwer definierbaren, ineinander übergehenden Klänge, was sich schon in den poetischen Titeln einiger Werke von 1973 ausdrückt: La dérive des continents und Les nuages de Magellan. Von den frühen musikalischen Konzepten und Entdeckungen ist heute für Murail nur noch die Einsicht übrig geblieben, dass man die Klangfarbe von der Harmonik nicht trennen sollte; eine Einsicht, die er mit seinem Werk Gondwana demonstriert, die in schlagender, beispielgebender Weise aber besonders für Griseys Partiels, den dritten Satz aus den Espaces acoustiques, zutrifft. Dass Ravel Zusammenklänge bis zum 13. Teilton einführte und mit Skrjabin einer der Vorläufer jenes »ununterbrochene[n] klingenden Magmas« ist, das jede genaue Orientierung der Hörenden verhindert, ist allgemein bekannt.[2]
Neben Grisey und Murail spielt vor allem Roger Tessier (*1939) eine wichtige Rolle, da er gemeinsam mit Murail 1973 den Groupe de l’Itinéraire gründete; Grisey, Michael Levinas und Hugues Dufourt kamen erst 1976 dazu.[3] Diese Gruppe löste die von Boulez 1953 gegründete Konzertreihe Domaine Musical ab und versuchte eine pluralistische Politik zu verfolgen, nachdem Domaine Musical immer exklusivere Programme präsentiert hatte. Tessier war Sekretär des Itinéraire[4] und auch Sekretär der französischen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM).[5] In unermüdlicher Arbeit machte er die Werke seiner Kollegen bekannt und schrieb selber mit Hexade für sechs Ondes Martenot ein von der Académie Charles Cros ausgezeichnetes Werk. Seine Maxime lautete:
Je crois que si je ne pouvais plus transmettre, j’arrêterais de composer. […] Il y a une complémentarité entre l’acte d’écriture et la transmission. Un compositeur, s’il n’est que créateur, n’est qu’une moitié. [6]
Über Ravel äußerte er sich mir gegenüber in elegantem Französisch, nachdem er ihn mit Couperin, Rameau und den Gärten von Le Nôtre verglichen hatte:
Art subtil: celui d’un équilibriste qui se joue de la pesanteur; celui d’un horloger qui connaît les rouages de l’horloge du Temps et de son écoulement. Entre le fil tendu au-dessus du vide empli de sons et la petite mécanique du tic-tac éternel, Ravel joue dans l’espace féerique où l’inaccessible devient possible.
Schließlich nennt Tessier Ravel einen »einsamen und paradoxalen Hedonisten, dessen Gedanken und künstlerische Identität heute universell« seien. Doch in den Konzerten des Itinéraire wurde er selten gespielt; nur die Trois poèmes de Stéphane Mallarmé, die Sonate für Violine und Violoncello und die Chansons madécasses tauchen zwischen 1973 und 1998 auf. Debussy wurde stärker berücksichtigt, aber auch Lieder von Gabriel Fauré hörte man an jenen Abenden.[7] Wahrscheinlich entspricht diese eigenartige Tatsache auch der schon erwähnten pluralistischen Haltung des Intinéraire, für die Tessier zu einem guten Teil verantwortlich war. Generös und altruistisch sorgte er mehr für die programmatische Vielfalt als für sein eigenes Werk, und wird deshalb weniger stark bemerkt als seine Kollegen. In der Schweiz aber wird er vor allem von Jean-Luc Darbellay aufgeführt und von dem mäzenatischen Ehepaar Bernard und Mania Hahnloser unterstützt. Als ein typisch französischer homme du monde könnte er ein Nachfahre Ravels sein. Seine Stücke sind zum Teil kosmische Träumereien mit Titeln wie Nébuleuses planétaires und Véga und erinnern an den frühen Murail und Ravel. Ob die Spuren dieser Komponisten in seinem Werk noch deutlicher zu entdecken wären, müsste eine genaue Analyse ermitteln.
Nach diesen Exkursionen in die weniger bekannten Hintergründe der neueren französischen Musikgeschichte gilt es vor allem zwei jüngere Komponisten zu erwähnen: Marc-André Dalbavie und Philippe Manoury, die beide von Boulez gefördert werden, als Komponisten aber total verschieden sind. Dalbavie führt die auch Boulez eigene hedonistische Tendenz weiter, während Manoury – merkwürdig genug – vom späten Richard Strauss inspiriert ist.
Dalbavie (*1961) ist heute Professor für Orchestration am Conservatoire National Supérieur de Musique (CNSM) und wird nicht nur in Paris stark beachtet. Als Composer in residence des Cleveland Orchestra und Compositeur en résidence des Orchestre de Paris gelangte er zu internationaler Bedeutung: Im Herbst 2006 wurde sein Konzert für Flöte und Orchester gleichzeitig in Berlin und Zürich uraufgeführt. Dank der von Guy Lelong, einem Vermittler zwischen den heutigen Komponisten und dem Publikum aufgezeichneten Gesprächen wissen wir mehr über Dalbavies Interessen und Tätigkeit. Wie Grisey und Murail bekennt sich Dalbavie zum Spektralismus und lehnt die in Deutschland aufgekommene Postmoderne ab. Denn die Modernität habe ihre schon sehr reiche Geschichte, und er erwähnt als herausragende Musiker Debussy, Varèse, Schönberg, Stockhausen und Boulez; unter den Literaten Proust, Faulkner, Borges, Robbe-Grillet und Claude Simon.[8] Für seine Anfänge seien aber – neben Debussy – Ravel, Bartók und Strauss wichtig gewesen, noch wichtiger aber Ligeti wegen dessen sich prozesshaft in ständiger Transformation befindlicher Strukturen.[9] Nach dem Grau in Grau (»grisaille«) des Serialismus sei die Harmonik wieder entdeckt worden.
Wie bei Murail und Grisey oszilliert die Musik Dalbavies zwischen Akkord und Timbre.[10] In den von Boulez dirigierten und auf CD erschienenen Werken Diadèmes und Seuils[11] erklingen die Instrumente losgelöst von ihrer Herkunft wie schon bei Debussy und Ravel;[12] und Dalbavie findet bei Mallarmé eine Formel, die auch für ihn gelte: Der Dichter habe erklärt, »il faut céder l’initiative aux mots«[13], für den Musiker aber gelte: »il faut céder l’initiative aux sons.« Der Komponist sei nicht mehr »créateur«, sondern »médiateur d’un processus lancé par soi-même.«[14] Die beiden erwähnten Werke von Dalbavie verwirklichen dieses Konzept und weisen zurück auf die sich langsam ausbreitenden Klangflächen in Ravels Ballett Daphnis et Chloé oder auf das Klavierstück Ondine aus Gaspard de la nuit.
In langen Gesprächen mit Guy Lelong entwickelt Dalbavie seine Technik der Orchestration, die zum Teil auf die Mixturklänge von Debussy und Ravel zurück geht, und erklärt schließlich: »C’est l’oreille qui fait les mélanges«, sowie »l’orchestration absorbe l’harmonie.«[15] Damit ist der extremste Punkt einer Klangfarben-Musik erreicht, deren Anfänge auf Ravel zurückgehen, heute aber losgelöst von allzu engen tonalen Bindungen als schwereloser Schönklang im Raum schweben, denn, so spricht Dalbavie eine alte, aber immer wieder zu bedenkende Erkenntnis aus: »le son n’existe pas sans l’espace.«[16]
Ganz anders reagiert Manoury (*1952) auf die Frage nach seiner künstlerischen Herkunft. Er ist weniger auf Frankreich zentriert, denn Couperin, Rameau, Berlioz, Debussy und Ravel seien isolierte Musiker gewesen, die keine kontinuierliche Tradition begründet hätten.[17] Und das Ircam ermögliche Kontakte mit Komponisten und Forschern aus der ganzen Welt.[18] Sehr kritisch äußert sich Manoury zum Komponieren mit Klangfarben, das für Debussy, Ravel, Messiaen und Dalbavie entscheidend war und ist. Er erwähnt auch Schönberg, der in seiner Harmonielehre von ›Klangfarben-Melodie‹ sprach und diese in einem seiner Orchesterstücke op. 16 auch verwirklichte.[19] Im Serialismus schließlich habe man vier Parameter des Klangs unterschieden und getrennt behandelt: die Höhe, die Dauer, die Intensität und die Farben.[20] Dass in der Spektralmusik der Unterschied zwischen Farbe und Akkord (fast) verschwinde, ist ihm auch nicht entgangen.[21] Dennoch weist Manoury darauf hin, dass drei Parameter des Klangs quantifizierbar seien, die Farbe aber nicht.[22] Die Farbe stelle alles dar, was nicht Tonhöhe, Dauer und Intensität sei und eigne sich nicht als Einheit stiftende Komponente eines musikalischen Werkes. Deshalb verwirft er diesen Begriff mit der polemischen Bemerkung, er sei eine »notion-poubelle«, gehöre also in den Mülleimer.[23]
Manoury wurde in Paris vor allem bekannt durch seine Stücke mit einem live spielenden Musiker und in Echtzeit reagierendem Computer sowie dem Orchesterwerk La partition du ciel et de l’enfer (1989), das trotz modernster technischer Mittel wie Richard Strauss’ sinfonische Dichtung Tod und Verklärung den Weg durch die Nacht zum Licht sucht und damit ein im 19. Jahrhundert häufig anzutreffendes Prinzip wieder aufgreift. Auch seine 1997 im Théâtre du Châtelet uraufgeführte Oper 60e parallèle huldigt konventionellen Formen des Musiktheaters. Wie stark er von der deutschen Tradition geprägt ist, zeigt sich auch daran, dass er seine zweite Oper K. nach Franz Kafkas Prozess auf einen deutschen Text schrieb.
Der Komponist und Musiktheoretiker Jean-Luc Hervé (*1960) bildet einen starken Kontrast zu Manoury, da er Schüler von Grisey war und dessen spektrale Technik weiter entwickelte, gleichzeitig aber als DAAD-Stipendiat in Berlin lebte und durch die von Bernd Asmus ins Deutsche übersetzte Analyse von Vortex temporum, einem der Hauptwerke seines Lehrers, bekannt wurde.[24] Dort heißt diese Analyse Die Auflösung des Materials in der Zeit und gibt nicht alle Notenbeispiele und grafischen Darstellungen des Originals wieder, das L’abolition de la matière musicale au profit de la durée pure lautete und in voller Länge und noch bereichert durch weitere Grafiken von Jérôme Baillet in seine Grisey-Monografie aufgenommen wurde.[25] Weniger bekannt ist, dass diese Analyse ein Kapitel von Hervés Doktorarbeit mit dem Titel L’image sonore: Regards sur la création musicale ist, die 1999 von der Universität von Lille III – Charles de Gaulle angenommen wurde und nur im Typoskript vorliegt.
Dort legt Hervé Rechenschaft über seine eigene kompositorische Arbeit ab, und zwar sowohl in Gestalt eines Tagebuchs, das er während der Entstehung eines seiner Stücke führte, als auch in Gestalt der Analysen von Werken anderer Autoren, darunter Vortex temporum von Grisey und La Valse von Ravel.
Auch dass Vortex temporum mit einem Zitat aus Ravels Daphnis et Chloé beginnt und dies in der Folge auf verschiedene Arten variiert, stellt Hervé hier dar. Seine andere Analyse, diejenige von La Valse, ist aber noch viel typischer für die Reflexion Ravelscher Kompositionsprinzipien durch den Spektralismus. Doch zuerst sei noch dargestellt, was Hervé unter dem Begriff ›image sonore‹ versteht, den Asmus mit ›Klanggestalt‹ bzw. ›Klangbild‹ übersetzt.[26] Für Hervé ist das ›Klangbild‹ das kleinste Element auf dem halben Weg zwischen einer Idee und deren Darstellung; um gehört zu werden, muss sich die Idee im Material ›versinnlichen‹.[27] Sehr oft wird diese Gestalt und deren Transformation zuerst als Zeichnung festgehalten, ohne dass bestimmte Tonhöhen fixiert würden.[28] Sie heißt bei Stockhausen ›Gruppen‹, bei Xenakis ›êtres sonores‹, bei Philippe Leroux ›action sonore‹, bei Pierre Schaeffer ›objet sonore‹, bei Ferneyhough ›figures‹ und bei Philippe Hurel ›pattern‹.[29]
Das ›Klangbild‹ realisiert sich in La Valse als »Abwesenheit der Thematik.«[30] Die Walzer-Zitate sind nicht mehr als »des objets trouvés« wie schon das Daphnis-Zitat in Vortex temporum. Um diese »ambiance sonore« ohne Thematik zu verdeutlichen, gibt Hervé Ravels szenische Anweisung zu La Valse wieder:
Des nuées tourbillonnantes laissent entrevoir, par éclaircis, des couples de valseurs. Elles se dissipent peu à peu, on distingue une immense salle peuplée d’une foule tournoyante. La scène s’éclaire progressivement. La lumière des lustres s’éclate au ff. Une cour impériale, vers 1855.[31]
Dass der in La Valse ablaufende Prozess für einen Spektralisten wie Hervé die Bestätigung seiner Konzepte darstellt, liegt auf der Hand. Dieser Prozess muss langsam ablaufen und voraus hörbar sein, »préaudible«, wie Grisey formuliert und in den Espaces acoustiques dargestellt hat.[32] In La Valse rollt dieses Geschehen auf verschiedenen Ebenen ab:
Die Zeit beschleunigt sich, die Tondauern werden kürzer und emanzipieren sich allmählich vom Dreivierteltakt.
Übergang vom Kontinuierlichen zum Diskontinuierlichen, Akkumulation von Brüchen und Unregelmäßigkeiten.
Verwandlung von klaren Elementen zu diffusen. Der Walzer wird eine »kochende Materie« voller Vitalität.
Übergang von der Konsonanz zur Dissonanz, aber ohne atonale Zusammenklänge, doch häufigere Wechsel der Tonarten.[33]
Der Walzer-Rhythmus tritt langsam hervor. Die Entwicklung geht von einer trägen zu einer lebhafteren Klangmaterie.[34]
Verschiedene Prozesse laufen simultan und sich gegenseitig verstärkend ab.
Hervés luzide Analyse von La Valse ist sicherlich auch durch das eigene kompositorische Schaffen geprägt, auf das sie ihrerseits zurückzuwirken scheint: Gerade im Juni 2007 hat er im Rahmen des vom Ircam organisierten Festivals Agora in den Gärten der Cité des Arts in unmittelbarer Nachbarschaft des Pont Marie Klangquellen zwischen den Pflanzen versteckt und in diesem ›jardin sonore‹ jene ›ambiance sonore‹ geschaffen, die er schon bei Ravel bewunderte.
Um diesen Aufsatz harmonisch abzurunden, möge noch Allain Gaussin (*1943) zu Wort kommen, der – vom Spektralismus wenig berührt – seinen eigenen Weg geht und doch typisch französische Züge trägt, die ihn mit Ravel verbinden. Gaussin ist vor allem aufgrund seiner Doppelbegabung bekannt geworden – er schreibt auch Gedichte – und gilt im Pariser Raum als Beispiel eines universellen und kultivierten Künstlers. Für diesen Aufsatz hat er freundlicherweise ein Gedicht gemacht, doch bevor es meine Ausführungen beschließen wird, sei noch seine Prosa zum Thema ›Ravel aujourd’hui‹ kurz zusammengefasst:
Als junger Komponist sei er fasziniert gewesen von der »magnificence de la musique de Ravel«, habe aber bald gewusst, dass er seinen eigenen Weg gehen müsse. Drei Punkte haben Gaussin dennoch immer mit Ravel verbunden:
Erstens suchten beide ihre Inspiration in fremden Welten. Wie Ravel in Spanien, so fand Gaussin neue musikalische Perspektiven durch das Studium des japanischen Zen-Buddhismus. Zweitens nahm Gaussin sich Ravels Kunst der einfachen und subtilen melodischen Linie zum Vorbild. Drittens versuchte er, die komplexen orchestralen Klangfarben der Akkorde mit neuen orchestralen und vor allem elektronischen Mitteln nachzuahmen und neue Klangräume zu erschließen. In diesem Punkt gleicht Gaussin nun doch den Spektralisten, ohne zu deren Gruppe oder Partei zu gehören. Er geht seinen eigenen Weg, aber nicht blind und taub für all das, was sich um ihn herum ereignet. Davon soll sein Gedicht zeugen, das die Frage nach Ravels heutiger Bedeutung zum Anlass hat. [35] Es bleibe unübersetzt, da keine Übersetzung den Klang der Worte wiedergeben könnte. Man lasse sich von den rätselhaften Anspielungen bezaubern wie von einem Werk Ravels:
Lignes du ciel
Enlacées
entrecoupées
hors temps
Voyage au centre de la sphère
glissant la dérive du corps
à l’immersion paradoxale
Et j’ai vu ce manque…
franchir les seuils de la pensée
où mille masses rayonnaient en cercles infinis
Canevas perlés, comme invisibles
Symétrie des lignes
enfoncées
impénétrables
Intériorité, que seul l’espace délivre
Ainsi détaché de toute raison
Le regard accomplit
l’unique instant d’éternité
Anmerkungen
Murail 2002, 7. | |
Ebd., 9. | |
Stévance 2006, 30. | |
Ebd., 31. | |
Ebd., 32. | |
Ebd., 33. | |
Cohen-Levinas, 1998. passim; und vor allem: Chronologie des oeuvres jouées par l’Itinéraire 1973–1998, 329–361. | |
Dalbavie 2005, 15. | |
Ebd., 18. | |
Ebd., 65. | |
Die CD erschien in der Reihe Compositeurs d’aujourd’hui des Ircam-Centre Georges Pompidou unter dem Label Adès (205 202). | |
Dalbavie 2005, 7. | |
Mallarmé 1945, 366. | |
Ebd., 21. | |
Ebd., 95. | |
Ebd., 24. | |
Manoury 1998, 251. | |
Ebd., 252. | |
Ebd., 32. | |
Ebd., 33. | |
Ebd. | |
Ebd., 35. | |
Ebd., 42. | |
Asmus 1997. | |
Baillet 2000, 213–230. | |
Gemeint ist eine musikalische »Gestalt«, die sich durch »durch ein spezielles Register und einen speziellen Spektraltyp« auszeichnet (Hervé 1997, 57). | |
Hervé 1999, 106. | |
Die »trois gestalt sonores« (Begriff von Grisey) des ersten Satzes von Vortex Temporum sind Sinus-, Rechteck- und Sägezahnschwingung (Hervé 2001, 21). | |
Ebd., 132. | |
Ebd., 331. | |
Ebd., 331f. | |
Grisey 1998, 53–61. | |
Hervé 1999, 335. | |
Ebd., 358. | |
Literatur
Baillet, Jérôme (2000), Gérard Grisey. Fondements d’une écriture, Paris: L’Itinéraire/L’Harmattan.
Cohen-Levinas, Danielle (Hg.) (1998), »Chronologie des oeuvres jouées par l’Itinéraire 1973–1998«, in: Ving-cinq ans de création musicale contemporaine. L’Itinéraire en temps réel, Paris: L’Harmattan, 329–361.
Dalbavie, Marc-André (2005), Le son en tout sens. Entretiens avec Guy Lelong, Paris: Gérard Billaudot Editeur.
Grisey, Gerard (1998): »Du spectralisme formalise au spectralisme historicise«, in: Cohen-Levinas 1998, 51–65.
Hervé, Jean-Luc (1997), »›Vortex temporum‹ von Gérard Grisey. Die Auflösung des Materials in die Zeit«, Musik und Ästhetik, 1/4, 51–66.
––– (1999), L’image sonore: Regards sur la création musicale, Diss., Universität Lille III – Charles de Gaulle.
––– (2001), Dans le vertige de la durée: Vortex Temporum de Gérard Grisey, Paris: L’Harmattan.
Mallarmé, Stéphane (1945), Œuvres complètes, hg. von Henri Mondor und G. Jean-Aubry, Paris: Gallimard.
Philippe Manoury (1998), La note et le son. Ecrits et entretiens 1981–98, Paris: L’Itinéraire/L’Harmattan.
Murail, Tristan (2002), Textes réunis par Peter Szendy, Paris: L’Harmattan/Ircam-Centre Pompidou.
Stévance, Sophie (2006), Tessier… l’Itinéraire du timbre, Montréal: Millénaire Editions.
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