Helbing, Volker (2008), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 5/1, 9–10. https://doi.org/10.31751/269
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/01/2008
zuletzt geändert / last updated: 11/08/2009

Editorial

Die Musik Maurice Ravels steht im Mittelpunkt dieser Ausgabe der ZGMTH. Ziel war, angesichts des noch immer vergleichsweise dürftigen Forschungsstandes zum Thema Ravel-Analyse Ansätze aus möglichst unterschiedlichen Analyse-Traditionen exemplarisch einander gegenüberzustellen. Die Ausgabe wird um einen Artikel zur Ravel-Rezeption und um drei freie Beiträge ergänzt.

In ihrer Analyse des Sonnenaufgangs aus Daphnis et Chloé macht Gurminder Kaur Bhogal auf die strukturelle Bedeutung des ›Ornaments‹ in Ravels Musik aufmerksam; die Arabeske, die zunächst nur Teil einer vibrierenden Hintergrund-Textur zu sein scheint, erweist sich als wichtiger Katalysator metrischer, formaler und narrativer Prozesse. Die Analyse liefert zugleich einen exemplarischen Einblick in neuere amerikanische Methoden der rhythmisch-metrischen Analyse.

Peter Kaminsky, der sich mit dem ›Programmmusiker‹ Ravel auseinandersetzt, erkundet die Bedeutungs-Lücke zwischen dem, was Musik vom je gewählten (literarischen o.ä.) Vorwurf darstellt, und dem, was sie an eigener Bedeutung beisteuert. Gegenstand seiner Analyse sind Ravels Kompositionen Les entretiens de la Belle et de la Bête (Ma Mère l’Oye) und Le Gibet (Gaspard de la Nuit).

Demgegenüber vermitteln die drei deutschen Beiträge den (nicht ganz falschen) Eindruck, als ginge es in der Ravel-Forschung hierzulande vor allem um Aspekte von ›Musik über Musik‹:

So zeigt Hartmut Fladt an Ravels Volksliedadaptionen, inwieweit Verfremdungsästhetik und Verfahrensweisen von ›Musik über Musik‹ Ravels kompositorisches Denken prägen. Der Beitrag arbeitet u.a. mit den von Bartók entwickelten ethnomusikologischen und musiktheoretischen Kategorien des Umgangs mit Volksmusik und weist auf den nicht nur ästhetischen, sondern auch kulturpolitisch-politischen Hintergrund der Ravelschen Volksmusikbearbeitungen hin.

Um Verfremdung geht es auch in Volker Helbings Analyse der Forlane des Tombeau de Couperin, die den letzten Satz aus Couperins Huitième Concert Royal zum Modell hat. Dabei zeigt sich, daß die musikalische Faktur der Ravelschen Forlane im Spannungsfeld zwischen leittonloser Diatonik und polymodaler Chromatik um so komplexer wird, je mehr von der Vorlage in das zunächst weitgehend frei komponierte Stück eindringt.

Ausgangspunkt von Hans Peter Reutter ist Ravels Bemerkung, er habe den Mittelsatz seines G-Dur-Klavierkonzerts nach dem Modell des langsamen Satzes von Mozarts Klarinettenquintett A-Dur KV 581 komponiert. Reutter zeigt, daß der Modellcharakter weniger in melodisch-harmonischen Konturen noch in der äußeren Form zu suchen ist als vielmehr in allgemeinen Formprinzipien der Melodiebildung.

Nicht um Analyse, sondern um das Nachwirken Ravels in der heutigen Musik geht es Theo Hirsbrunner. Der Autor fragte sieben Schweizer und französische Komponisten der mittleren (zwischen 1939 und 1975 geboreren) Generation, welche Bedeutung sie der Musik Ravels für ihr eigenes Schaffen einräumen.

Hans Aerts’ Rezension gilt einer Publikation, die zwar nicht unmittelbar mit Ravel zu tun hat, aber, indem sie Grundlagen der Formbildung bei Debussy benennt (Andreas Bernnat), der Ravel-Forschung auf ebenso plausible wie systematische Weise wichtige Impulse zu geben vermag.

Zwei der freien Beiträge befassen sich mit unterschiedlichen Aspekten des Hörens von Musik: Violaine de Larminat beschreibt ihr Konzept der Gehörbildung als den Versuch einer Synthese zwischen dem französischen System der Hörerziehung, das sie in ihrer eigenen Ausbildung kennenlernte, und der österreichisch-deutschen Tradition, mit der sie als Dozentin für Gehörbildung an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien konfrontiert wurde. Der Beitrag stellt damit nicht nur ein individuelles Unterrichtskonzept zur Diskussion, sondern liefert zugleich einen detailreichen Vergleich zwischen den beiden Ausbildungstraditionen.

M.J. Grant nutzt eine Rezension des von Andrew Dell’Antonio herausgegebenen Sammelbandes Beyond structural listening? Postmodern modes of hearing (2004) zu einer kritischen Bestandsaufnahme der in die Jahre gekommenen New Musicology. Ihr Fazit: Die Nachfolger von Rose Subotnik und Susan McLary rennen immer noch gegen dieselben Feindbilder an wie die Gründerinnen, verzichten aber auf eine plausible Darstellung dessen, was unter postmodernen ›modes of hearing‹ eigentlich zu verstehen ist.

Eines der Lieblings-Feindbilder der New Musicology ist denn auch Gegenstand des dritten freien Beitrags: In der von Ullrich Scheideler rezensierten Dissertation Pitch-Class Set Theory and The Construction of Musical Competence (Utrecht 2005) stellt Michiel Schuijer Voraussetzungen, Entscheidungen und Inhalte der pitch-class set theory sowohl historisch als auch inhaltlich zur Diskussion. Durch die historische Einordnung wird die (ansonsten einfühlsam dargestellte) Theorie zugleich ein Stück weit relativiert.

Volker Helbing

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