Bauer, Robert Christoph (2024), »Isabelle Duha, Le langage musical en liberté. Harmonie et contrepoint au clavier – de la mémoire à l’improvisation, Paris: Billaudot 2021«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 21/1, 189–199. https://doi.org/10.31751/1211
eingereicht / submitted: 16/06/2024
angenommen / accepted: 16/06/2024
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 20/07/2024
zuletzt geändert / last updated: 22/07/2024

Isabelle Duha, Le langage musical en liberté. Harmonie et contrepoint au clavier – de la mémoire à l’improvisation, Paris: Billaudot 2021

Robert Christoph Bauer

Schlagworte/Keywords: Conservatoire; counterpoint; figured bass; Generalbass; harmonisation au clavier; Improvisation; keyboard harmony; Kontrapunkt; partimento

Isabelle Duha, mittlerweile emeritierte Professorin für Harmonisation au clavier am Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris, kann wohl mit einigem Recht als ›Kultfigur‹ bezeichnet werden. So wenig ihr Name außerhalb der einschlägigen französischen Szene (einschließlich jener Amerikaner, die sie, ganz in der Tradition der großen Vorgängerin Nadia Boulanger, im Rahmen der Sommerkurse in Fontainebleau unterrichtete) bekannt sein dürfte, so lebhaft sind doch die Erinnerungen bei all denjenigen, die das Glück hatten, die pragmatische und hoch effiziente Schule dieser leidenschaftlichen und impulsiven Musikerpersönlichkeit zu durchlaufen. Das Erscheinen ihres Lehrwerks Le langage musical en liberté. Harmonie et contrepoint au clavier, in das die Erfahrungen aus mehreren Jahrzehnten der Unterrichtstätigkeit an diversen Konservatorien im Großraum Paris sowie externer Meisterkurse einfließen, wurde daher mit großem Interesse aufgenommen. Gerade vor dem Hintergrund des seit gut zwei Jahrzehnten andauernden ›Partimento-Revivals‹ im deutschen und angloamerikanischen Sprachraum scheint es angebracht, Duhas Veröffentlichung als relevantes, zeitgenössisches Dokument einer im hiesigen Musiktheoriediskurs bislang wenig beachteten ›lebenden‹ französischen Partimento-Tradition zur Kenntnis zu nehmen und nicht zuletzt direkt von ihrem praktischen Wert zu profitieren.

Grundsätzliches zum Werk

Duhas Methode, die sich an »Pianisten, Cembalisten, Organisten« und »andere Instrumentalisten mit pianistischen Kenntnissen« (I/2) richtet, erscheint nach bewährtem französischen Usus in zwei Bänden: Textes (I) und Réalisations (II). Während ersterer die sogenannten »Fiches techniques« (vorbereitende ›Arbeitsblätter‹ mit transponierend einzuübenden Satzmodellen), unterschiedliche Übungen in Form gegebener Bässe und Melodien (zumeist »à la manière de […]«, jedoch auch aus Originalwerken von Barock bis Romantik), technische und stilistische Erläuterungen sowie Beispiele zum Memorisieren enthält, liefert letzterer die vollständig bezifferten und analysierten Lösungsvorschläge der Autorin. Hinzu kommen online abrufbare Hörbeispiele (Zugang mit individuellem Code), unter denen die Realisierungen der ›barockisierenden‹ Bässe an der Orgel der Pariser Kirche Saint-Eustache besonders hervorzuheben sind. Von praktischem Nutzen sind jedoch speziell die Einspielungen der zu harmonisierenden Melodien ohne Begleitung, was das eigenständige Üben im ›Play-along-Verfahren‹ ermöglicht. Duhas Werk eignet sich somit vom Grundsatz her zum vollständigen oder partiellen Selbststudium ambitionierter Lernender, wobei angesichts des schnell voranschreitenden Schwierigkeitsgrades der Übungen eine ausschließlich autodidaktische Herangehensweise ohne ›unterfütternden‹ Theorieunterricht wohl nur in Ausnahmefällen zu empfehlen wäre. Zur Übersichtlichkeit trägt die Gliederung in drei Niveaus bei, von denen das erste für »Anfänger« (I/2) bestimmt ist, während das dritte bereits weit fortgeschrittene Kenntnisse erfordert und sich eindeutig am Anspruchsniveau der schwierigeren Klassen des Pariser Konservatoriums orientiert. Die Niveaus sind jeweils nach folgendem Schema aufgebaut: Fiches techniques (Niveau 1–2) – Basses – Mélodies – Mémorisations (Niveau 2–3). Eine ausführliche Einführung der Autorin (in französischer Sprache) mit Musikbeispielen und eingeblendeten Notentexten ist im Übrigen auf dem YouTube-Kanal des Verlags öffentlich zugänglich.[1]

Historische und methodische Hintergründe

Auch wenn der biographische Klappentext für die Autorin in Anspruch nimmt, Urheberin einer »innovativen Methode« zu sein,[2] so ist doch ihre direkte und authentische Verwurzelung in jener alten Partimento-Tradition italienischer Provenienz, wie sie am Pariser Konservatorium seit dessen Gründung adaptiert und weiterentwickelt wurde, unübersehbar. Den neapolitanischen Einfluss der frühen Jahre hat Lydia Carlisi mittlerweile in einer umfassenden Studie dargelegt[3] und bereits der grundlegende MGG-Artikel zum Thema Partimento betont das kontinuierliche Fortdauern einer entsprechenden Praxis in Frankreich bis in die Nachkriegszeit (Boulanger), freilich zuletzt in der Regel ohne die explizite Anwendung des Partimento-Begriffs und vor allem ohne das, was Holtmeier und Diergarten als dessen »spezifisches Verständnis von ›Tonalität‹« auf Basis der Oktavregel bezeichnen.[4] Die von Duha entsprechend der heute üblichen französischen Praxis verwendeten ›großen‹ römischen Stufen (deren allgemeine Verbreitung in Frankreich übrigens erst im Laufe des vergangenen Jahrhunderts stattfand – etwa parallel zu deren zunehmender Verdrängung durch funktionstheoretische Symbole in Deutschland), vermitteln vielmehr das Bild eines von seinen musiktheoretischen Implikationen gleichsam ›befreiten‹ Fundamentalbassdenkens, bzw. eines reinen Grundtondenkens, dessen formallogische Applizierung so weit geht, dass selbst etwa die veritable sixte ajoutée in einer von Duhas feinfühligen Brahms-Stilkopien (siehe Abb. 1, T. 9) kurzerhand als Akkord der II. Stufe dargestellt wird.[5] Was hier gegebenenfalls als Mangel an theoretischer Ausdifferenziertheit kritisiert werden könnte, erweist sich angesichts von Ziel und Zweck der Übungen allerdings als durchaus praktikabler Zugriff, wie einen Takt später mit der Auflösung desselben Akkords in einen verminderten Septakkord in Terzquartstellung deutlich wird: Der ›Griff‹ ist derselbe, wobei seine ›Funktion‹ nun tatsächlich der implizit prädominantischen Eigenschaft einer II. Stufe entspricht. Die einzige Stufe, die im engeren Sinne funktional begriffen wird, ist letztlich die V.: Bis auf die wenigen Fälle, wo sie einen Moll-Dreiklang bezeichnet, handelt es sich um ›D‹-, ›D7‹- (mit oder ohne Grundton) und ›Dv‹-Akkorde, die auch als Sekundärdominanten (colorations, z. B. V/V, V/IV etc.) auftreten und dabei nicht etwa, wie bei Schönberg, losgelöst von ihrer Funktionalität mit der jeweiligen Fundamentstufe im Rahmen der übergeordneten Tonart bezeichnet werden. Die VII bleibt, im Gegensatz zur angloamerikanischen Praxis, dem Gebrauch in den leitertreuen Sequenzen vorbehalten, und die Abkürzung »D« (dominante) verwendet Duha, im Gegensatz zu den heute üblichen funktionstheoretischen Traditionen, im älteren Sinne als zunächst harmonieunabhängiges Äquivalent zur ›5. Skalenstufe‹ (vgl. »SD«: sous dominante = 4., »Med«: médiante = 3. etc.). Wenn auch keine »arabischen Stufen«[6] im Zusammenhang mit dem ›Sitz der Akkorde‹ auftreten, so bleibt also doch ein Element expliziten Skalenstufendenkens erhalten.

Abbildung

Abbildung 1: Andante »à la manière de Brahms« als Übung zur »Mémorisation«, T. 9–16 (II/141)

Trotz der beschriebenen Überformung durch das Akkordumkehrungs- und Grundtondenken ist Duhas Methode insgesamt weit entfernt von dem, was im deutschen Sprachraum als ›moderne Harmonielehre‹ bezeichnet werden könnte. Dadurch, dass die Stufenbezeichnungen lediglich in den Fiches techniques, den Réalisations und einzelnen Erläuterungen, nicht jedoch in den Übungen selbst auftauchen, steht die Bezifferung der gegebenen Bässe im Vordergrund. Auch wenn Duha grundsätzlich empfiehlt, alle Übungen zunächst mit einer harmonischen Analyse zu versehen (eine Anweisung, die primär in Bezug auf die ›klassischen‹ Melodien sinnvoll erscheint), so spricht doch einiges für die zumindest unterschwellig implizite Anwesenheit einer genuin generalbassmäßigen bzw. intervallsatzbasierten Denkweise. Augenfällig ist, dass die Bezifferungen nicht etwa nach international üblicher Harmonielehrepraxis als ›Umkehrungs-Indikatoren‹ den Stufenzeichen direkt zugeordnet sind, sondern dass stets die eigentliche Bassnote als Trägerin fungiert, wobei betonte akkordfremde Noten niemals selbst beziffert werden, sondern gegebenenfalls mit horizontalen Linien von der bezifferten Hauptnote aus nach links gearbeitet wird. Die ›nackten‹ römischen Stufen bilden somit, wenn überhaupt vorhanden, eine von der Bezifferung gleichsam abgetrennte analytische Zusatzebene, die die anderswo auftretenden typischen Probleme der Stufentheorie (Zuordnung des kadenzierenden Quartsextakkords, Bezifferungen harmoniefremder Noten etc.) vollständig vermeidet.

Ein weiteres wichtiges Element, das es erlaubt, die Bedeutung der Stufenanalyse gegenüber der Bezifferung als nachrangig zu betrachten, ist die implizite Funktionalität der traditionellen, seit dem 19. Jahrhundert unverändert im Gebrauch befindlichen französischen Generalbasssignaturen in Bezug auf das, was bereits Alexandre-Étienne Choron als das Herzstück der Tonalité moderne ausgemacht hatte: das Spannungsverhältnis von Leitton und Dominantseptime.[7] So enthalten alle Signaturen, die sich auf Klänge beziehen, in denen diese beiden Töne gemeinsam vorkommen, entweder die gestrichene 5 (cinq barré, entfällt lediglich in Anwesenheit der sept barré) oder das der entsprechenden Ziffer vorangestellte ›Leitton-Plus‹ (+), das sich vom gewöhnlichen, ›akzidentiellen‹ Kreuz () darin unterscheidet, dass es unabhängig von den vorhandenen Generalvorzeichen grundsätzlich beim Auftauchen des charakteristischen Akkords gesetzt wird (z. B. »+4« für den Dominant-Sekundakkord). Es besteht hier eine generelle Übereinstimmung von graphischer Signatur und Akkordtyp, die sich auf das Gerüstintervall von Bass und »note caractéristique« (I/16) stützt. Dies gilt selbst für komplexere Akkordgebilde wie z. B. den verminderten Septakkord über tonikalem Orgelpunkt mit der Bezifferung +7/6, nicht zu verwechseln mit dem halbverminderten 6/+7 (große ›Dominantnone‹ immer oben, kommt so bei Duha allerdings nicht vor). Funktionstheoretisch sind dies, je nach Sichtweise, ›tripelfunktionale‹ Klänge, deren präzise Bezeichnung in der französischen Bezifferung jedoch ohne ›explizite‹ harmonische Analyse möglich ist, was dem pragmatischen Charakter des Lehrwerks entgegenkommt. Im Zusammenhang mit charakteristischen Akkordintervallen finden sich übrigens verschiedene Andeutungen der Autorin zur ›besten Lage‹ (ein Begriff, der sich im Kontext der historischen Satzlehre an der Freiburger Musikhochschule etabliert hat), auf die ich im Folgeabschnitt jeweils eingehen werde.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass auch Stil und Aufbau des Werks durchaus an historische Partimentosammlungen erinnern. Zunächst fällt der pragmatisch-knappe Duktus der verbalen Erläuterungen auf: Auf theoretische Reflexionen und ästhetische Exkurse wird gänzlich verzichtet, dafür steht der konkrete Notentext, das praktisch-haptische Einüben, mithin der Aufbau ›verkörperten Wissens‹, absolut im Vordergrund. Das, was Duha als »Fiches techniques« bezeichnet, entspricht in etwa den Regole der alten Partimento-Meister, und wie in älteren Lehrgängen führt der Weg von einfachen, akkordisch zu realisierenden Bässen hin zur anspruchsvollen, hier sogar unbezifferten Partimentofuge.

Eine Besonderheit der französischen Harmonie-Tradition ist die Subsummierung sowohl gegebener Bässe (basses données) als auch Oberstimmen (chants donnés) unter dem Oberbegriff des »Partimento«. So heißt es bei François Bazin:

On appelle Partimento, une suite de divers accords formant un sens harmonique et servant d’exercice pour apprendre à écrire. […] En style d’école, la quatrième partie d’un Partimento s’appelle Basse donnée, lorsque cette partie est donnée toute seule sans la réalisation de son harmonie. Il y a deux sortes de Basses données: la Basse donnée note contre note et la Basse donnée fleurie.[8]

Und an späterer Stelle:

En style d’école, on appelle chant donné la première partie d’un partimento dont il faut trouver la basse et l’harmonie. Il y en a de plusieurs sortes: 1°. Le chant donné note contre note; 2°. le chant donné fleuri; 3°. le chant donné mélodique avec harmonie serrée; 4°. le chant donné mélodique, avec harmonie espacée.[9]

Trotz der Tatsache, dass Bazins Erklärung den Eindruck erweckt, Partimento sei eine schriftliche, ausschließlich vierstimmige Praxis, kann davon ausgegangen werden, dass zu seiner Zeit der Harmonie-Unterricht noch sowohl auf dem Papier als auch, nach alter italienischer Tradition, am Klavier stattfand. Erst mit den Reformen des Conservatoire-Direktors Ambroise Thomas im Jahr 1878 wurde Harmonisation au clavier ein eigenes Fach.[10] Damit wird im Gegenzug deutlich, dass die generelle Abgrenzung zur Écriture, die Duha immer wieder betont (im oben angegebenen Erläuterungsvideo wie im persönlichen Unterrichtsgespräch), verbunden mit einem generellen ›Schreibverbot‹ (I/3), eher institutionelle und methodische Gründe hat, dass es sich aber keineswegs um eine grundsätzlich andere Tradition handelt. Die Grenze zwischen schriftlicher Harmonie (Contrepoint bezeichnet nach traditionellen Begriffen den strengen, stets schriftlichen Gattungskontrapunkt) und Harmonisation au clavier entsteht also eher durch das allgemeine satztechnische Schwierigkeitsniveau und die polyphone Durchdringung des Satzes, insbesondere hinsichtlich der Mittelstimmen, nicht jedoch durch prinzipiell andere Herangehensweisen. So sind in Duhas Sammlung sowohl die von Bazin angeführten »Basses données note contre note« (Duha: »Basses harmoniques«, I/23) als auch auf unterschiedliche Art imitativ angelegte »Basses données fleuries« (Duha: »Basses contrapuntiques«, I/27, 48, 84) anzutreffen. Die teils aus Originalwerken stammenden Melodien wären hingegen im Wesentlichen Bazins vierter Kategorie (»chant donné mélodique, avec harmonie espacée«) zuzuordnen, was naturgemäß den Gebrauch eines eher grundtonorientierten harmonischen Denkens begünstigt. Bei Bazins Schüler Théodore Dubois, der den Partimento-Begriff nur mehr in Bezug auf unbezifferte Bässe und Oberstimmen der zweiten Kategorie (fleuri) anwendet,[11] findet sich übrigens der Hinweis, dass Bässe eher im »style rigoureux« (nicht zu verwechseln mit ›altem Stil‹, enthält aber lediglich Synkopendissonanzen, Durchgänge und Wechselnoten als harmoniefremde Töne),[12] Melodien hingegen in einem »style libre ou moderne«[13] mit Mehrfachvorhalten, Alterationen, Antizipationen und Appoggiaturen[14] zu realisieren sind. Duha, deren Texte sich zwar größtenteils auf konkrete historische Vorbilder beziehen (laut eigener Erläuterung im Video um »schulmäßige Übungen« [»exercices scolaires«] zu vermeiden), bleibt dennoch genau diesem ästhetisch-stilistischen Rahmen treu: Die Bässe sind fast durchweg barockisierend (hauptsächlich mit Bach als stilistischer Referenz, der hier gewissermaßen sinnbildlich für den ›ernsten‹ kontrapunktischen Stil angeführt wird), während die Stilbandbreite der Melodien sich zwischen Mozart und Brahms bewegt und somit einen freieren, weniger kontrapunktischen Satz erfordert. Die Frage der ›Schulmäßigkeit‹ in diesem Zusammenhang soll später noch diskutiert werden.

Niveau 1

Duha beginnt ihre basalen Fiches techniques, ganz entsprechend den gängigen Harmonielehretraditionen, mit Dreiklängen in Grundstellung, die sofort als zu transponierende Akkordverbindungen (Enchaînements), Kadenzformeln (Cadences) und Sequenzmodelle (Marches d’harmonie: leitertreue und modulierende ›Pachelbel‹-Sequenz als ›3-5-Satz‹) präsentiert werden (I/10 f.). Es folgen die Sextakkorde, verbunden mit einem Hinweis auf die ›beste Lage‹: »Mettre de préférence la 6te à la voix supérieure (note caractéristique de cet accord).« (I/14) Auch hier wieder gängige Sequenzmodelle: leitertreue und modulierende ›Terzfall‹-Sequenzen – wobei der Autorin bei der aufsteigenden Sequenz auf S. 14 ein kleiner Fehler unterläuft: Die Akzidentien cis und gis im Bass resultieren offenbar aus dem Bedürfnis, übermäßige Schritte zu vermeiden, was allerdings nicht mit der darüber liegenden Harmonie korrespondiert. Auffällig ist, dass den Sequenzmodellen, anders als in der historischen Satzlehre deutschsprachiger Prägung, keine Namen zugeordnet werden, die den Wiedererkennungswert für den Lernenden steigern könnten. Hierin unterscheidet sich Duhas Methode allerdings nicht von älteren französischen Traktaten. Auch ein weiterer knapper Hinweis auf derselben Seite zeigt traditionelles Intervall- und Skalenstufendenken, verbunden mit ›grifftechnischer‹ Pragmatik: »Doubler la basse de l’accord 6/II. C’est une note tonale (SD)«, und weiter (im Kontext des ›phrygischen Halbschlusses‹): »Doubler la 3ce de l’accord 6/IV. C’est une note tonale (T)«. Genuin fundamentalbassmäßiges Denken offenbart hingegen der Umstand, dass der ›Leitton-Sextakkord‹ (›verkürzter D7‹) erst nach den Quartsextakkorden (double appoggiature, accord de passage bzw. dans les échanges) und dem Dominantseptakkord (mit all seinen Umkehrungen) als 1. Umkehrung (+6/3) des Accord de 7/+ de dominante sans fondamentale eingeführt wird – kurz bevor, aus offensichtlich eher theoretisch-systematischen Gründen, bereits der übermäßige Sextakkord als V/V folgt (I/19). Ganz und gar ›musikpraktisch‹ ist hingegen der Abschluss der Fiches techniques: Duha führt hier – anders als viele Harmonielehren – bereits die für ›echte Musik‹ unverzichtbaren harmoniefremden Noten ein: Synkopendissonanz bzw. vorbereiteter Vorhalt (Retard), Durchgang (Note de passage auf schwacher und starker Zeit) und Wechselnote (Broderie). Der Lernende, der sich bis hierhin vorgearbeitet hat, verfügt somit über einen soliden Grundstock an musikalischem ›Basisvokabular‹, um in die folgenden Bass-Übungen einzusteigen, die ästhetisch bereits deutlich höher anzusiedeln sind als trockene ›Harmonielehresätze‹.

Die Bässe des Niveau 1 sind aufgeteilt in sechs Basses harmoniques (I/23–26), mit schnellen Akkordwechseln und kaum Durchgangsnoten, und acht Basses contrapuntiques (I/27–32) mit imitativen Verfahren. Die Länge all dieser vierstimmig zu realisierenden Übungen beträgt zwischen zwei und vier Zeilen. Duha gelingt es bereits mit den trotz des noch recht elementaren Niveaus sehr klangschönen Übungen 1–3 (Accords de 3 sons) auf intelligente Art, den Lernenden so zu führen, dass sich die beste Lage der Oberstimme durch Beherzigung nur weniger Ratschläge fast von selbst ergibt: Sexten im Außenstimmensatz, Übergang vom Sext- in den Grundakkord bei steigendem Bass mit Terzfall in der Oberstimme (›6-3-Satz‹), ›Stimmtausch‹ zwischen 1. und 3. Skalenstufe (I5 – I6). Ein größtenteils auf Terzen und Sexten beschränkter interkadenzieller Intervallsatz wird somit gleichsam implizit vermittelt. In Übung 3 geschieht dies sogar bereits mit zwei »Themen«, die jeweils zuerst in der Oberstimme erklingen und dafür aus dem weiteren Verlauf des Basses entnommen und entsprechend transponiert werden müssen. In den folgenden drei Vierklangsübungen (Accords de 4 sons) treten weitere basale Regeln bezüglich des Außenstimmensatzes hinzu: verminderte Quinte bzw. Tritonus zwischen Bass und Oberstimme, alternativ die Auflösung des +4-Akkords in Sextlage durch Quartsprung der Oberstimme auf die »Dominante« (also die Terz des folgenden Sextakkords).[15] Präzise Anmerkungen, etwa zu Basston- und Terzverdopplungen im Sextakkord, ermöglichen eine satztechnisch einwandfreie Ausführung aller Übungen.

Die folgenden Basses contrapuntiques, die allesamt »à la manière de Bach« bezeichnet sind, gliedern sich wiederum in drei Gruppen: zwei Préludes mit synkopierten ›Pachelbel‹-Sequenzen und aufzufindenden kurzen Imitationen, drei Fughetten mit vom Bass aus ansteigenden Themeneinsätzen, Zwischenspielen und weiteren Themendurchführungen und schließlich drei Contrepoints renversables, bei denen anfangs zwei im doppelten Kontrapunkt zueinander stehende »thèmes« A und B im Außenstimmensatz gleichsam kreuzweise exponiert werden und im Laufe des Stücks, zwischen weiteren, kürzeren Imitationen, wiederkehren. Diese drei Arten von Bässen, deren hochgradig imitativer Stil einerseits den Vorteil hat, dass die Oberstimme fast durchweg ›geführt‹ bleibt und andererseits ein auf charakteristischen kontrapunktischen Floskeln beruhendes Gerüstsatzdenken geschult wird, sind typische Prüfungsformate nach dem ersten Jahr Harmonisation au clavier am Pariser Conservatoire, mit dem Unterschied allerdings, dass dort die jeweilige kontrapunktische ›Gattung‹ des Basses – Imitations, Fugue oder Renversable – selbst erkannt werden muss und zudem keine stilistische Referenz angegeben wird. Die Nähe zu einem barockisierenden ›Schulstil‹ ist hier sicherlich näher als zur echten ›Stilkopie‹ – was jedoch nur jemand kritisieren könnte, der sich der Bedeutung des Partimento als schulmäßige Grundlage für die ›echte‹, komponierte Musik des 18. und 19. Jahrhunderts nicht bewusst ist.

Auch die folgenden Mélodies classiques sind in zwei Gruppen geteilt: zunächst vier sorgsam ausgewählte originale Liedmelodien von Wolfgang Amadeus Mozart (I/34 f.), dann zehn überaus schöne Melodien unterschiedlichen Charakters für Violine (I/35–38), die fast alle von Duha selbst »à la manière de Mozart« in kleinen Formen unter Verwendung der stiltypischen kadenziellen Wendungen komponiert sind. Diese Übungen ermöglichen somit das Erlernen der ›klassischen‹ Harmoniesprache auch im instrumentalen Bereich, mit den idiomatischen ornamentalen Figuren, ohne dass die praktikable Länge von etwa vier Zeilen wesentlich überschritten wird. Lediglich die letzte Melodie, ein kleines Menuett, ist nochmals eine Mozart’sche Originalkomposition, deren vorgeschlagene Harmonisierung (II/32) allerdings von Duha stammt. Bevor der Lernende diese in mancherlei Hinsicht schwierigeren Aufgaben angehen kann, ist es notwendig, die methodischen Anweisungen (I/33) zu verinnerlichen: Am Anfang steht stets eine einfache akkordische Begleitung (vierstimmig, enge Lage), bei der die Melodie nicht mitgespielt wird, sondern die Oberstimme der Begleitung sich lediglich an den jeweiligen Hauptnoten der Melodie, bzw. denjenigen, die den besten Anschluss zur folgenden Harmonie ermöglichen, orientiert. Die Melodie muss also von außen zugespielt (oder gesungen) werden. Lediglich bei den Kadenzen, die fast alle dem Schema II6 – V6/4 – 7/+ – I folgen, wird grundsätzlich die eingeübte ›beste Lage‹ bevorzugt. Die Hauptschwierigkeit liegt nun, im Gegensatz zu den Bässen, nicht darin, die richtige Lage und die notwendigen Imitationen zu finden, sondern die harmonische Frequenz zu erkennen und harmonisch relevante von harmoniefremden Noten (insbesondere Appoggiaturen) zu unterscheiden. Bei den Mozart-Melodien 1–4 gibt Duha in den Réalisations (II/14–22) sowohl das akkordische ›Provisorium‹ (harmonisch teils von Mozart abweichend) als auch die Originalbegleitung des Komponisten an. Bei den übrigen Übungen (II/23–32) sind hingegen nur die teils figurierten und ornamentierten Realisierungen der Autorin aufgeführt, die zwar als Vorbilder für das ›Endstadium‹ der eigenen Ausarbeitungen dienen können, jedoch ein solch hohes Maß an Klavierbeherrschung (nicht im spieltechnischen Sinne) und harmonischer Differenzierungsfähigkeit zugrunde legen, dass ein ›Anfänger‹ wohl kaum ohne die Unterstützung einer kompetenten Lehrperson zu adäquaten Lösungen kommen und darum möglicherweise eher bei einfacheren Akkordsätzen bleiben wird.

Niveau 2

Wie in Niveau 1, so präsentieren sich auch die Fiches techniques des Niveau 2 als Fundgrube relevanter Satzmodelle – bis hin zu jenem modulierenden Sequenzmodell, das von Ludwig Holtmeier »Karussell« getauft wurde und unter diesem Namen im Diskurs der historischen Satzlehre präsent ist (I/41).[16] Im Mittelpunkt stehen zunächst die Accords de 7e d’espèce, womit im Französischen die Dur-Septakkorde mit großer Septime, die Moll-Septakkorde und der halbverminderte Septakkord der II. Stufe in Moll gemeint sind, nebst deren Umkehrungen. Voll- und halbverminderter Septakkord (sept barré und sept cinq barré) werden als Akkorde der V. Stufe (Accords de 5 sons sans fondamentale) eingeführt. Ein Beispiel auf S. 42 zeigt das Hervorgehen des verminderten Septakkords in Grundstellung aus dem V6/5 durch Substituierung der Sexte, wobei beide Akkorde mit demselben Fingersatz zu greifen sind. Diesen beiden ›Harmonielehre‹-Abschnitten folgt unter der Überschrift Contrepoint (I/45) ein Katalog zwei-, drei- und vierstimmiger imitativer Sequenzen, bei denen es sich um kontrapunktische Ausfigurierungen von Modellen mit kanonischer Struktur des relevanten Gerüststimmenpaars handelt. Nicht von ungefähr wählt Duha dabei in fünf von neun Beispielen einen typischen ›Triosonatensatz‹, vergleichbar dem h-Moll-Präludium aus dem 1. Band von Bachs Wohltemperierten Klavier.

Die Bässe von Niveau 2 sind ausschließlich kontrapunktischer Natur, wobei abermals die bereits aus Niveau 1 bekannten ›Gattungen‹ der Basses contrapuntiques erscheinen: Imitations (I/48 f.: drei der fünf Übungen sind dreistimmig), Contrepoints renversables (I/50–54: 4x zweistimmig, 1x dreistimmig, 5x vierstimmig), Fugues (I/55 f.). Besonders die beiden letztgenannten Abschnitte verdienen Beachtung: Die zweistimmig zu realisierenden Renversables 6–9 (»à la manière des Inventions à 2 voix de Bach«) sind unbeziffert, zudem handelt es sich bei Nr. 8 und 9 eigentlich um chants donnés, also gegebene Oberstimmen. Diese Übungen sind in Kenntnis der einschlägigen zweistimmigen ›Gerüst-Modelle‹ grundsätzlich genuin kontrapunktisch denkend realisierbar, auch ohne die Empfehlung der Autorin, die beiden Bässe nach Auffindung der »Themen« A und B zur Gänze zu beziffern[17] – zumal dieser Ratschlag zunächst ohne ein Rezept daherkommt, wie eine solche Bezifferung noch vor der kompletten Applizierung der zweiten Stimme bewerkstelligt werden soll. Vielmehr könnte eine nachträgliche Harmonisierung bzw. Bezifferung (bei allen vier Übungen) helfen, zu verstehen, wie typische Harmoniefolgen oftmals aus einem kontrapunktischen Stimmpaar entstehen (und nicht umgekehrt). Auch eine Realisierung der folgenden Renversables auf beziffertem Bass kann durchaus zunächst zweistimmig erfolgen, bevor das Außenstimmengerüst gefüllt wird. Wiederum unbeziffert und bereits von erhöhter Schwierigkeit sind die drei abschließenden Fughetten. Duha stellt ihnen eine Methode zur Bassbezifferung voran, die auf einer ›funktionalen‹ Bewertung von Fundamentschritten beruht, wobei es durchaus sinnvoll sein könnte, hier auch auf das ältere Oktavregel-Denken (bei Bazin: »La règle d’octave«)[18] mit entsprechenden ›Akkordsitzen‹ zu verweisen und damit einen direkteren und gegebenenfalls praktikableren Weg aufzuzeigen.

Die folgenden Mélodies classiques et romantiques sind stärker als in Niveau 1 mit hilfreichen Anmerkungen u. a. zu Begleitfigurationen versehen, was es dem Lernenden nun erlaubt, selbständig und schneller zu Begleitungen zu kommen, die über den ›schulmäßigen‹ Akkordsatz hinausgehen. Es lässt sich feststellen, dass mit den Melodien von Niveau 2 bereits die fließende Grenze vom Partimento zum veritablen Accompagnement überschritten wird. Am Anfang (I/57—59) stehen zwei anspruchsvolle Mozart-Lieder in Moll, die den Einsatz von chromatisiertem Lamento-Bass, übermäßigen Sext- und Quintsextakkorden, Neapolitaner und Orgelpunkt erfordern. Als Lösungen sind hier nur Mozarts Originalkompositionen angegeben (II/51–53), die man vielleicht zumindest oberflächlich bereits konsultieren sollte, bevor man sich an die Arbeit begibt. Selbiges gilt auch für die beiden folgenden überaus bekannten Schubert-Lieder und Mendelssohn’schen Lieder ohne Worte – allein schon aufgrund der Pausen, deren Füllung in gänzlicher Unkenntnis des Originals bereits einiges an improvisatorischer Imagination erfordern würde.

Es folgt nun ein Abschnitt, der ganz der musikalischen Sprache Robert Schumanns gewidmet ist (I/64–71) und eine der großen Stärken der Autorin demonstriert: die Fähigkeit, in knappen Worten die wesentlichen kompositorischen Eigenheiten eines musikalischen Idioms präzise und treffend auf den Punkt zu bringen. Duha bringt einige analysierte Literaturbeispiele sowie einen ausführlichen Katalog an Begleitfiguren, nach ›Familien‹ und Werkgruppen geordnet (I/67). Dann folgen sieben originale Schumann’sche Liedmelodien, die durchweg mit Hilfestellungen und Anregungen zur Harmonisierung und zur pianistischen Gestaltung des Begleitsatzes versehen sind. Je nach Kenntnisstand des Lernenden wird man vermutlich gut beraten sein, trotz des prinzipiellen Rats der Autorin, keine Noten niederzuschreiben, zumindest einzelne Elemente auch schriftlich zu realisieren, um den Lernprozess zu unterstützen.

Neu hinzu kommen im Niveau 2 die Mémorisations, deren Ziel es ist, das bewusste und effiziente Auswendiglernen aufgrund der erworbenen theoretisch-praktischen Fähigkeiten und Stilkenntnisse zu trainieren. Wer sich bis hierhin vorgearbeitet hat, wird mit den folgenden Aufgaben wohl wenig Probleme haben. Duha empfiehlt das Auswendiglernen anhand einer konventionellen musiktheoretischen Analyse, ausgehend von der Melodie und auch abseits des Instruments.[19] Auch auf die Wichtigkeit des Transponierens wird nachdrücklich hingewiesen. Als Anschauungsbeispiele bringt sie ein unter diversen Gesichtspunkten analysiertes Beethoven’sches Scherzo (aus op. 28), anhand dessen der Memorisierungsprozess durchdekliniert wird. Die folgenden, nach aufsteigender Schwierigkeit geordneten Beispiele von Beethoven, Mozart und Haydn sind mit knapperen analytischen Bemerkungen sowie stets mit konkreten Arbeitsanweisungen versehen, wobei auf die vollständig analysierten und bezifferten Notentexte in den Réalisations (II/79–85) verwiesen wird.

Niveau 3

Niveau 3 beginnt sofort mit der ›Königsdisziplin‹ des Partimento: der Fuge auf unbeziffertem Bass. Diese acht Übungen »à la manière de Bach« (I/84–87) sind von beträchtlichem Schwierigkeitsgrad, von der Länge her durchaus der Bezeichnung ›Fuge‹ (statt ›Fughetta‹) würdig und bei entsprechend kunstvoller Ausführung (II/88–95) musikalisch absolut ansprechend. Besonders die langen Orgelpunkte, über denen die drei oberen Stimmen polyphon, teils thematisch, teils nicht-thematisch, weiterzuführen sind, stellen eine Herausforderung dar. Ab der zweiten Fuge sind beibehaltene Kontrasubjekte vorgesehen (was in den Textes nicht explizit erwähnt wird); allerdings verzichtet die Autorin weiterhin darauf, Themen in Stimmen zu legen, die nicht im Moment des Erklingens Außenstimme sind.[20] Nicht minder anspruchsvoll sind die abschließenden beiden Basses libres, deren Ziel die Entwicklung einer »imagination mélodique« ist (I/88) und die, nach erfolgter Bezifferung, die Erfindung eines »interessanten melodischen Elements« erfordern, mit dem der Bass dann zu realisieren ist. Auch für die insgesamt zehn Basses contrapuntiques des Niveau 3 gilt, dass eine gänzliche oder teilweise schriftliche Realisierung (gegebenenfalls auch auf vier Systemen, um den Gebrauch der Schlüssel zu trainieren), eine sinnvolle Übung für alldiejenigen sein könnte, deren pianistische Reflexe noch nicht so ausgeprägt sind, dass eine sofortige Realisierung am Klavier gelingen könnte.

Die Mélodies romantiques (I/89–104) setzen das Schumann-Studium aus Niveau 2 im Prinzip nahtlos fort, allerdings sind die Melodien nun länger. Nach weiteren fünf Originalliedern kommen nun, wie in Niveau 1, Stilkopien für Violine von großer Schönheit und vollendeter Idiomatik. Analog zu Niveau 2 folgt zudem die theoretisch-analytische Einführung noch einer weiteren musikalischen Sprache: der von Johannes Brahms (I/96–99). Nach vier Brahms’schen Liedern kommen abermals zwei instrumentale Stilkopien, die die Arbeit an den gegebenen Melodien auf hohem Schwierigkeitsniveau beschließen. Wie in Niveau 2 sind teils ausführliche Hinweise zur Realisierung gegeben, ohne dass damit die beträchtlichen Herausforderungen, denen sich der Lernende zu stellen hat, beseitigt würden.

Auch Niveau 3 endet mit Memorisierungsübungen (I/105–117), die zwischen »schwierig« und »mittelschwer« wechseln. Interessant ist hier die Vielfalt der unterschiedlichen Probleme, die systematisch erörtert werden. Die Sammlung beginnt mit einer in den Textes zunächst unharmonisiert gegebenen, fast nur aus Vierteln bestehenden Melodie im Schumann-Stil (Réalisations: II/137), die sich gleichsam ›unendlich‹ durch die Tonarten zu schrauben scheint. Es folgt ein Unterquint-Kanon in den Außenstimmen, der durch permanente Synkopen in den Mittelstimmen harmonisiert ist, dann der raffinierte Klaviersatz der Coda von Schumanns Arabeske op. 18, die Kontrapunktik seines Fantasiestücks Warum? op. 12 Nr. 3  etc. Den Abschluss bildet ein Ausschnitt aus den Lyrischen Stücken von Edvard Grieg, der damit der einzige Romantiker jenseits von Schumann und Brahms ist, dessen Stil in diesem letzten Teil Berücksichtigung findet.

Isabelle Duha als Lehrerin

Dieser Abschnitt geht über die Grenzen einer üblichen Rezension hinaus, soll aber einen Aspekt beleuchten, der im Zusammenhang damit kaum ausgeblendet werden kann, nämlich die Unterrichtspraxis ›hinter‹ der hier besprochenen Veröffentlichung. Wie eingangs erwähnt, ist Isabelle Duha am CNSMD de Paris nicht mehr tätig; das inhaltliche und strukturelle Konzept der Klasse für Harmonisation au clavier scheint sich unter den nachfolgenden Verantwortlichen (zurzeit Lucile Dollat) allerdings kaum geändert zu haben.[21] Ich gebe hier den Stand wieder, wie ich ihn selbst im Studienjahr 2012/13 vorgefunden habe, als ich diese Klasse im Rahmen eines Auslandsjahres besuchte. Entscheidend geprägt wurde das Fach damals von Duhas impulsiver und passionierter Künstlerpersönlichkeit: Auf eine Weise, wie man es im heutigen internationalen Lehrbetrieb immer weniger findet, vermochte sie Humor und Ironie mit außerordentlicher Ernsthaftigkeit und Strenge zu verbinden, wobei die Hingabe an die Sache und die Liebe zur Musik stets über allem standen. Der doppelstündige Gruppenunterricht fand im vierzehntägigen Wechsel je zweimal bei der Professorin selbst, dann zweimal bei ihrem Assistenten, dem Pianisten Julien Le Pape, statt. Dabei stand in jeweils einer Unterrichtseinheit ein Bass im Mittelpunkt, die Woche darauf dann ein Chant. Ein typischer Unterricht des Niveau A (erstes Jahr), an dem eine Gruppe von etwa sechs bis sieben Studierenden (hauptsächlich Pianisten) teilnahm, lief meist folgendermaßen ab: individuelles Lesen des Notentextes (teils war dieser schon als Hausaufgabe vorzubereiten), bei Bässen zunächst die Bestimmung der ›Gattung‹, bei Contrepoints renversables und Fugues das Auffinden der Themen, Kadenzen, Modulationen, Sequenzen etc. Dann wurde, zumeist unter Anleitung der Lehrkraft, der Notentext in Teile zergliedert, die am Klavier erarbeitet wurden. Bei gegebenen Oberstimmen, teils auch Bässen, waren hierbei die römischen Stufen in Kombination mit den französischen Bezifferungen auf dem Arbeitsblatt einzutragen. Die Bässe wiesen – anders als in der hier rezensierten Veröffentlichung – teilweise eine gegebene chiffrage baroque, also traditionelle ›italienische‹ Generalbassziffern ohne die charakteristischen ›funktionalen‹ Signaturen der ›modernen‹ französischen Bezifferungspraxis, auf. Bei den Notentexten handelte es sich fast durchweg um Beispiele, die bei früheren Prüfungen zum Einsatz gekommen waren und deren Autor in der Regel nicht angegeben war. Vermutlich war Duha selbst die Urheberin einer Vielzahl dieser Aufgaben; manche derer, die damals im Unterricht verwendet wurden, finden sich nun in ihrer Veröffentlichung wieder. Oft hatte sie eine starke Idee von der optimalen Lösung, auf die der Unterricht dann auch hinauslief. Zuweilen wurden aber auch unterschiedliche Lösungen diskutiert, bei denen Studierende im Wechsel spielten und teils auch andere Kursteilnehmer angehalten wurden, einzelne dieser Realisierungen aus dem Gedächtnis nachzuspielen. Auch zum Transponieren wurde regelmäßig aufgefordert. Bei den Chants war dies eine Aufgabe für zwei Studierende gleichzeitig: Eine Person spielte die Melodie in der verlangten Tonart, während eine andere, am zweiten Flügel, ihre eigene oder die vorgegebene Harmonisierung entweder akkordisch (stets mit Orientierung der Oberstimme an der Melodie, außer bei Kadenzen) oder mit Begleitfigurationen realisierte. Ein Aspekt, dessen Wichtigkeit Duha stets mit Nachdruck unterstrich, war das rhythmisch präzise Spiel im Takt, bei stabilem Tempo, ohne Zögern und Unterbrechen: »Chez moi, on joue en mesure!« Einige ästhetische Präferenzen formulierte sie gerne unverblümt subjektiv, z. B. die Abneigung gegenüber dem Dominant-Terzquartakkord (+6) mit seiner etwa auch in Bachs Choralsätzen meist vermiedenen primären Quarte (»Je déteste le +6!«), nicht jedoch ohne darauf hinzuweisen, zu welch schöner Blüte die französischen Komponisten der Spätromantik, allen voran Fauré, diesen Akkord gebracht hätten. Duhas Liebe und Bewunderung galt aber insbesondere Bach, dann Mozart, Schubert, Schumann und Brahms – allerdings verbunden mit bemerkenswerter Offenheit gegenüber anderen, auch ›außerklassischen‹ Stilen, solange diese aus ihrer Sicht jene höchste künstlerisch-handwerkliche Qualität aufwiesen, die stets das Ideal ihres eigenen Unterrichts war.

Die Prüfung am Ende der einjährigen Klasse Harmonisation au clavier A lief dann folgendermaßen ab: Zur vorgegebenen Uhrzeit wurde man zunächst von einem Mitarbeiter in einen Vorbereitungsraum geführt (mise en loge), wo man die beiden Blätter mit Bass und Melodie erhielt. Das Schreiben auf die Blätter war erlaubt, jedoch ausschließlich Stufen, Ziffern und analytische Eintragungen, keine Noten. Ein Klavier konnte genutzt werden (im Gegensatz zu den großen Abschlussklausuren im Fach Écriture), um die Realisationen einzuüben. Nach Ablauf der kurzen Vorbereitungszeit wurde man aus dem Raum gerufen, stand jedoch, während des Wartens auf die passage devant le jury, weiterhin unter Beobachtung der Mitarbeiter, um einen Austausch mit anderen Prüflingen, die alle dieselben Aufgaben erhielten, zu verhindern. Nach Eintritt in den Prüfungssaal, in dem man von einer bemerkenswert großen Jury erwartet wurde (in der Regel bestellt das Conservatoire externe Juroren), spielte man seine beiden Realisierungen, wobei der Chant donné von einem Assistenten am zweiten Flügel gespielt wurde, der auch das Tempo vorgab, indem er entsprechend einzählte. Nach diesem kurzen Prüfungsprozedere wurde man wiederum von einem Mitarbeiter in einen ›Quarantänesaal‹ geführt, wo man gemeinsam mit den anderen Prüflingen, die nach und nach hinzukamen, ohne Mobiltelefon so lange zurückgehalten wurde, bis der letzte Kandidat des Tages vor die Jury trat. So war sichergestellt, dass alle Prüfungskandidaten exakt dieselben Anforderungen zu bewältigen hatten, ohne dass die Chance bestanden hätte, sich durch Konsultation eines Vorgängers einen ungerechten Vorteil zu verschaffen. Im Gegensatz zu den Écriture-Klassen, wo ein Prix verliehen wird, führt die Klasse für Harmonisation au clavier zum Certificat, allerdings mit denselben Auszeichnungen, die dem ersten, zweiten und dritten Preis entsprechen: mention très bien (gegebenenfalls mit der Zusatzinformation à l’unanimité), bien oder assez bien.

* * *

Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass Isabelle Duha mit Le langage musical en liberté eine gründliche Methode auf hohem künstlerischen Niveau vorgelegt hat, die als authentische, zeitgenössische ›Partimentoschule‹ das Interesse der musiktheoretischen Fachwelt verdient und dabei vor allem auch erstklassiges praktisches Unterrichtsmaterial darstellt – mit Aufgaben auf relativem Anfängerniveau bis hin zu Herausforderungen für versierte fortgeschrittene Satztechniker. Auch für das schulpraktische Klavierspiel, die Korrepetitionslehre und überhaupt alle ›angewandten‹ Formen des klavierbezogenen Unterrichts bietet das Werk Anregungen. Da die verbalen Erläuterungen knapp und mit reichlich Notenbeispielen versehen sind, werden nicht einmal besonders fortgeschrittene Französischkenntnisse benötigt, auch wenn eine Übersetzung ins Deutsche bzw. Englische sicherlich wünschenswert wäre.

Manche der Aufgaben habe ich selbst bereits gewinnbringend sowohl im Kontrapunkt-Gruppenunterricht für Kompositions-, Lehramts- und Kirchenmusikstudierende als auch im Einzelunterricht »Partimento/Musiktheorie am Klavier«, erprobt, freilich ohne dabei dem didaktischen Aufbau des Werks zu folgen. Unabhängig von der Frage, wie realistisch und zweckmäßig ein reines Selbststudium wäre, würde sich die Methode aufgrund ihres stringenten Aufbaus meines Erachtens auch bestens als Grundlage für eine über längere Zeit sich erstreckende ›lineare‹ Ausbildung eignen und wäre bei entsprechender Anleitung mit einem ausgeprägteren ›Bassstufen‹- bzw. Intervallsatzdenken problemlos kompatibel. Wer sich als Lehrkraft für einen solchen Ansatz entscheidet, könnte entsprechende eigene Fiches techniques beisteuern und zudem die Inhalte des Lehrgangs bei insgesamt langsamerem Lerntempo zusätzlich festigen, etwa durch Bässe von Fenaroli, Furno, Sala oder Förster, Melodien und Bässe von Bazin, Reber oder Dubois, Volks- und Kunstlieder – sowie nicht zu vergessen entsprechende Übungen aus eigener Feder. Denn Duhas Werk zeigt ganz klar: Auch wenn das primäre Ziel dieses Trainings nicht mehr (wie noch im 19. Jahrhundert) eine propädeutische Kompositionspädagogik ist, sondern vor allem dem Verständnis jener Stile dient, die die klassischen Konzertbühnen heute beherrschen, so kann Partimento doch nach wie vor eine ›lebende‹ Praxis sein, bei der ein ›Meister‹ mit dem Lernenden sein Handwerk teilt, in verschiedenen denkbaren Stilen, ggf. bis hin zum Jazz. Das Interesse an dieser Praxis muss also – selbst wenn auf methodische Konzepte der historisch informierten Satzlehre zurückgegriffen wird – nicht primär ›historisch‹ sein, sondern ein genuin künstlerischer Impuls kann hierbei im Vordergrund stehen.

Anmerkungen

1

Le langage musical en liberté – Isabelle Duha – version longue: https://www.youtube.com/watch?v=D7b81V7vZv8 (15.6.2024).

2

»Isabelle Duha a conçu une méthode innovante de l’enseignement de l’harmonie et du contrepoint qui lui a permis de jeter une passerelle entre l’aspect abstrait et parfois un peu austère de la théorie musicale et la pratique musicale professionnelle du plus haut niveau.«

3

Carlisi 2023.

4

Diergarten/Holtmeier 2016.

5

So auch in den Erläuterungen in I/98 f.

6

Vgl. Holtmeier 2011.

7

Vgl. Meidhof 2016, 232.

8

Bazin 1857, 59.

9

Ebd., 88.

10

Vgl. Balmer/Murray 2014, 40.

11

Dubois 1921, 224 f.

12

Vgl. ebd., 221.

13

Ebd., VI.

14

Vgl. ebd., 223.

15

Dieser Bass »à la manière de Beethoven« ist vom ›Standardbeispiel‹ für diesen Fall, dem Adagio der Pathétique, inspiriert.

16

Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Karussell_(Musiktheorie) (15.6.2024).

17

»Chiffrer toute la basse. Même à 2 voix il faut avoir une conscience harmonique!« (I/50)

18

Bazin 1857, 306.

19

»[…] il faut mémoriser sans jouer la pièce afin de développer l’oreille intérieure.« (I/73)

20

Mit Ausnahme von II/91, Nr. 4, T. 15–17.

21

Siehe https://www.conservatoiredeparis.fr/fr/discipline/harmonisation-au-clavier (15.6.2024).

Literatur

Balmer, Yves / Christopher Brent Murray (2014), »Pierre Boulez and Olivier Messiaens’s Harmony Class«, in: Immagini di gioventù. Saggi sulla formazione e sulle prime opere di Pierre Boulez, hg. von Paolo Dal Molin, Pisa: Serra, 31–59.

Bazin, François (1857), Cours d’harmonie théorique et pratique, Paris: Escudier.

Carlisi, Lydia (2023), From Naples to Paris. The Reception of the Neapolitan Partimento Tradition at the Paris Conservatoire in the Early Nineteenth Century, Baden-Baden: Olms.

Diergarten, Felix / Ludwig Holtmeier (2016), »Partimento« [2008], in: MGG Online, hg. von Laurenz Lütteken, Kassel: Bärenreiter. https://www.mgg-online.com/mgg/stable/18318 (15.6.2024)

Dubois, Théodore (1921), Traité d’harmonie théorique et pratique, Paris: Heugel.

Holtmeier, Ludwig (2011), »Funktionale Mehrdeutigkeit, Tonalität und arabische Stufen. Überlegungen zu einer Reform der harmonischen Analyse«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 8/3, 465–487. https://doi.org/10.31751/655

Meidhof, Nathalie (2016), Alexandre Étienne Chorons Akkordlehre. Konzepte, Quellen, Verbreitung, Hildesheim: Olms.

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