Laura Krämer, Allgemeine Musiklehre (= Grundlagen der Musik 1), Lilienthal: Laaber 2022
Felix Stephan
Stefan Prey gewidmet
»Der Titel ›Allgemeine Musiklehre‹ weckt große Erwartungen«, schreibt Laura Krämer im Vorwort ihres gleichnamigen Buches. Große Erwartungen »auf eine allgemeine, vielleicht sogar allgemeingültige Lehre von der Musik nämlich, gerade in Zeiten gesteigerter Sensibilität für die Vielfalt menschlicher Kulturen in unterschiedlichen Regionen und Zeiten« (7).
Ein ungewöhnlicher Anfang. Welcher Musikinteressierte und -lehrende hat tatsächlich diese großen Erwartungen, wenn er ein Buch mit dem Titel »Allgemeine Musiklehre« zur Hand nimmt?
Was mich selbst betrifft, verbinde ich mit dem Titel »Allgemeine Musiklehre« vor allem ein Lehrwerk für den Anfangsunterricht. Im Idealfall liefert mir ein solches Buch hilfreiche Definitionen zu den elementaren Grundlagen der europäischen Musik zwischen 1600 und 1900. Es enthält einfache, nachvollziehbare Erklärungen. Und es stellt Übersichten und Schaubilder bereit, die ich im Unterricht mit angehenden Musikstudierenden verwenden kann. Wichtig ist mir auch ein umfangreiches Sachregister, um das Buch als Nachschlagewerk nutzen zu können. Denn meiner Erfahrung nach ist eine übliche ›Allgemeine Musiklehre‹ kein Buch, das man von vorne bis hinten durchliest.
Doch genau das ist die Intention von Laura Krämer: Sie hat ein Lesebuch geschrieben. Ein Lesebuch, das sich mit allgemeinen Kompositionsprinzipien und Improvisationspraktiken der abendländischen Musik beschäftigt – von der Gregorianik bis hin zu Olivier Messiaen.
Ein sehr ambitioniertes Vorhaben, das allerdings eher an eine Einführung in die historische Musiktheorie erinnert als an eine ›Allgemeine Musiklehre‹.
Oder genauer formuliert: Krämers Buch ist in erster Linie eine Einführung in die 14-teilige Laaber-Reihe Grundlagen der Musik, in der bereits einige Bände zur historischen Musiktheorie erschienen sind. Darunter die Formenlehre von Felix Diergarten und Markus Neuwirth sowie Kontrapunkt I und Kontrapunkt II von Johannes Menke[1] – drei Bücher, auf die sich Krämer an mehreren Stellen bezieht und die sie explizit empfiehlt. Krämers Buch erscheint als Band 1 dieser Reihe.
Zugleich hat die Autorin aber auch den Anspruch, dem Titel »Allgemeine Musiklehre« gerecht zu werden.
Und das weckt dann doch große Erwartungen: Wie gelingt es Krämer, beide Anliegen zu vereinen? Wie schafft sie es, das weite Feld der historischen Musiktheorie-Forschung mit der didaktischen Enge einer systematischen Musiklehre zu verbinden? Wie baut sie dieses hybride Lehrwerk auf? Und für wen genau hat Krämer es geschrieben?
Auf der Buchrückseite gibt es einen deutlichen Hinweis des Laaber-Verlags, dass sich die Reihe Grundlagen der Musik insbesondere »für die Begleitung des hochschulischen und universitären Theorieunterrichts« eigne. Andererseits hat Laura Krämer an der HMTM Hannover eine Musiktheorieprofessur inne, die ausdrücklich dazu dient, Hochschul-Musiktheorie mit vor- und außerhochschulischer Musikausbildung zu vernetzen. Hinzu kommen Krämers Engagement im Hannoverschen Forschungsprojekt Solmisation, Improvisation, Partimento und ihr 2021 erschienenes Buch Musik verstehen und erfinden, das als Bereicherung des Instrumentalunterricht mit Kindern und Jugendlichen gedacht ist.[2]
Insofern liegt die Frage nahe, ob auch Krämers Allgemeine Musiklehre darauf abzielt, Hochschul-Musiktheorie mit vor- und außerhochschulischer Musikausbildung zu verbinden. Eine Frage übrigens, die mir bei einer herkömmlichen ›Allgemeinen Musiklehre‹ nicht in den Sinn käme, weil gerade dies sonst das Wesensmerkmal eines solchen Buches ist: Laien mit der Sprache der professionellen Musikerinnen und Musiker vertraut zu machen und angehenden Musikstudierenden Fachbegriffe zu vermitteln, die ihnen nicht nur das eigene Musizieren, sondern auch die Aufgaben im Musiktheorieteil einer Musikhochschul-Aufnahmeprüfung verständlicher machen.
Um es gleich vorwegzunehmen: Krämers Allgemeine Musiklehre ist meiner Ansicht nach weder für Anfänger und Laien geschrieben, noch für Schüler der Studienvorbereitung an Musikschulen.
Und das hat vielfältige Gründe. Da gibt es zunächst die Strategie der »roten Fäden«, auf die Krämer selbst bereits im Vorwort hinweist (7). Diese Strategie schafft Zusammenhänge durch zahlreiche Querverbindungen und Vorausverweise. Einerseits gelingt es Krämer dadurch tatsächlich, eine außerordentliche Fülle an Informationen zu verknüpfen. Und das oft auf sehr inspirierende Weise. Anderseits lassen sich diese Verknüpfungen nur dann gewinnbringend nachvollziehen, wenn man bereits über ein umfangreiches musiktheoretisches Wissen verfügt.
Über weite Strecken wirkt das Buch wie eine hochschulische Vorlesungsreihe, die in sechs übergeordnete größere Kapitel gegliedert ist. In den ersten beiden Kapiteln geht es um Akustik, Tonsystem und Notation. Danach folgen die zwei gewichtigsten Kapitel zu Kontrapunkt und tonaler Harmonielehre. Im anschließenden Kapitel »Zeitstruktur« führt Krämer vor allem in die Formenlehre der Klassik ein. Etwas aus dem Rahmen fällt schließlich das Kapitel »Werkzeugkasten«, mit dem Krämer eine Tür zu ihrer eigenen Unterrichtswerkstatt öffnet. Die Autorin gibt dort Tipps für das Harmonisieren von Liedern, verrät Tricks im Umgang mit der Oktavregel. Selbst sehr versierte Musiklehrende dürften Nutzen aus diesem Kapitel ziehen. Nicht zuletzt, weil hier Krämers Begeisterung in ihrer Sprache mitschwingt, weil sie anschaulich an ihren methodisch-didaktischen Erfahrungen teilhaben lässt. Mit vierzig Seiten nimmt dieses Kapitel bemerkenswert viel Platz ein.
Vergleichsweise kurz wirkt dagegen das Sachregister. Schon die gewaltige Fülle an Material, die Krämer auf den rund 280 Seiten zuvor ausbreitet, verlangt eigentlich nach mehr als fünf Seiten Wörterverzeichnis. Hinzu kommt, dass Krämer hier tendenziell Spezialbegriffe bevorzugt. Beispielsweise lässt sie die Grundbegriffe ›Konsonanz‹ und ›Dissonanz‹ weg, die ›Dissonanzbehandlung‹ hingegen erwähnt sie. Auch der ›Tritonus‹ fehlt, stattdessen führt Krämer die ›Tritonus-Substitution‹ auf. Den ›Dominantseptakkord‹ gibt es ebenfalls nicht, dafür aber den ›Tristan-Akkord‹. Die ›Kadenz‹ ist im Sachregister nur im Sinne von Solokadenz zu finden, der ›Rhythmus‹ nur in Form des Begriffs ›harmonischer Rhythmus‹. Die Spezialbegriffe ›Themenkopfregel‹ und ›Themenphase‹ werden aufgeführt, das elementare ›Thema‹ dagegen nicht. All diese Beispiele lassen darauf schließen, dass sich das vorliegende Buch nicht an eine Leserschaft wendet, die Grundbegriffe nachschlagen möchte.
Darüber hinaus formuliert Krämer in jedem Kapitel Aufgaben und Übungen, ohne im Anhang Lösungsvorschläge bereitzustellen. In einigen Fällen sind es ergebnisoffene Aufgaben, die dazu anregen sollen, über das bisher Erfahrene und Gelernte hinaus zu gehen. Vorbild scheint mir die oben erwähnte Formenlehre von Diergarten und Neuwirth zu sein, die ebenfalls Aufgaben ohne Lösungsvorschläge bietet. Typischer für eine ›Allgemeine Musiklehre‹ sind meiner Erfahrung nach Aufgaben zur Wiederholung bzw. zur Selbstkontrolle, wie sie etwa bei Wieland Ziegenrücker vorkommen oder auch bei Christoph Hempel, Krämers Vorgänger an der HMTM Hannover.[3] Diese Aufgaben dienen der Festigung des zuvor Gelernten und zielen auf ein Selbststudium ab. Krämers Aufgaben dagegen scheinen sich vorwiegend an Musiktheorie-Lehrende zu richten. Musiktheorie-Lehrende, die dadurch für ihre Unterrichtspraxis profitieren – und diese Aufgaben später direkt oder in abgewandelter Form an ihre Studierenden weitergeben können. Je nach Fachgebiet fallen diese Aufgaben allerdings sehr unterschiedlich aus. Mal wirken sie schwer, mal leicht. Mal sind sie allgemein formuliert, mal sehr konkret.
So lautet eine Aufgabe im ersten Kapitel, »in einem Lexikon über die Stimmungen von Kirnberger und Werckmeister« nachzulesen und sich anschließend Aufnahmen von Kompositionen der Kirnberger- bzw. Werckmeister-Zeit in entsprechender Stimmung anzuhören und mit dem Klang des modernen Klaviers zu vergleichen (18). Eine Aufgabe, die geradezu einlädt zu einer anregenden Gruppendiskussion im Musiktheorie-Unterricht, nachdem die Lehrkraft zuvor die entsprechenden Aufnahmen gesichtet und vorbereitet hat. Viel konkreter dagegen eine Aufgabe im Kapitel »Kontrapunkt«, bei der es darum geht, in J. S. Bachs Präludium h-Moll BWV 869 Generalbassziffern zu ergänzen und auf diese Weise zu erfahren, »was aus den Sekund- und Septimvorhalten in der Dreistimmigkeit wird« (51). Problematisch im Sinne einer ›Allgemeinen Musiklehre‹ ist, dass Krämer hier Kenntnisse der Generalbasslehre voraussetzt, die sie erst im Kapitel »Tonalität« rund hundert Seiten später vermittelt.
Außerdem ist diese Aufgabe ein gutes Beispiel für Krämers Tendenz, sich auf historisch bedeutsame, anspruchsvolle Musikliteratur zu stützen – auch wenn es dabei um vergleichsweise einfache musikalische Sachverhalte geht.
Am auffälligsten sind in diesem Zusammenhang die beiden Schubert-Ausschnitte im ersten Kapitel, um das Prinzip Enharmonik zu verdeutlichen. Krämer zitiert mit Schuberts Impromptu Ges-Dur D 899 Nr. 3 (siehe Abb. 1) einen Extremfall enharmonischer Umdeutungen, der vermutlich selbst für einige Musikhochschul-Studierende schwierig nachzuvollziehen ist. Eigentlich, so schreibt Krämer hier, wende sich die Musik in Takt 79 (nicht in Takt 80, wie irrtümlich angeben) »zur Moll-Subdominante von Ges-Dur, ces-Moll, um dann über die Zwischendominante Eses7 asas-Moll zu erreichen« (19). Abgesehen von der Schwierigkeit, sich Eses-Dur und asas-Moll im Ges-Dur-Kontext vorzustellen, erklärt Krämer den Begriff ›Zwischendominante‹ erst 136 Seiten später.
Abbildung 1: Franz Schubert, Impromptu Ges-Dur op. 90 Nr. 3, T. 78–82
Anderseits ist dies sicherlich ein Musikstück, das die Herzen von Musiktheoretikern höherschlagen lässt. Auch das nachfolgende Schubert-Lied »Pause«, D 795 Nr. 12 aus dem Zyklus Die schöne Müllerin, ist ein inspirierendes und zugleich kompliziertes Beispiel für Enharmonik (20). Es gibt hier eine Akkordfolge, die über as-Moll und Fes-Dur in einen Ges-Dur-Dominantseptakkord geht, der anschließend nach Ces-Dur führen könnte, aber dann doch mittels Umdeutung zum übermäßigen Quintsextakkord nach B-Dur abbiegt, in die Grundtonart des Liedes. Meiner Meinung nach ist das ein geeignetes Analyse-Beispiel für den Hauptfach-Musiktheorie-Unterricht an Musikhochschulen.
Ebenfalls an Hauptfach-Musiktheorie-Unterricht erinnern mich einige andere Musikbeispiele und Musikbegriffe, die Hartmut Fladt in seinen Musiktheorie-Seminaren an der UdK Berlin gern verwendete. Seminare, die seinerzeit auch Laura Krämer besucht hat.
Natürlich kann es Zufall sein, dass alle drei Lamentobass-Musikbeispiele, die sie im Kapitel »Tonalität« anführt, zugleich auch Fladts Lamentobass-Lieblingsbeispiele im Unterricht waren, nämlich Claudio Monteverdis Lamento della Ninfa, das »Crucifixus« aus Bachs h-Moll-Messe BWV 232 und Didos Lamento-Arie aus Henry Purcells Oper Dido and Aeneas (210–213).
Weniger an Zufall glaube ich, wenn Krämer im ersten Kapitel prominent die Begriffe ›Partialtonreihe‹ und ›Quintenturm‹ verwendet. Der Begriff ›Partialtonreihe‹ wird in ›Allgemeinen Musiklehren‹ normalerweise nur en passant erwähnt, der Begriff ›Quintenturm‹ ist sogar unüblich. Dabei haben beide Ausdrücke Vorteile. »Das Bild des Turms«, so Krämers treffende Erklärung, »entspricht vielen musikalischen Kontexten, in denen eine ›Oben und unten‹-Assoziation bei Tönen und Tonarten eine Rolle spielt« (14). Schade, dass Krämer dieses gewinnbringende Bild nur im Geiste erzeugt. Denn auf dem Papier präsentiert sie weiterhin die traditionellen ›Quintenreihe‹ in Notenform (14, 16).
Eine andere Art von Vorteil bietet der Begriff ›Partialtonreihe‹ gegenüber dem üblicheren Begriff ›Obertonreihe‹. Hier geht es um die Zählung des ersten Tones, der bei der Verwendung des Begriffs ›Obertonreihe‹ mit der Zahl 1 nummeriert wird. Doch das ist strenggenommen falsch, da es sich beim ersten Ton nicht um einen Oberton handelt, sondern um den Grundton. Mit der ›Partialtonreihe‹ (= Teiltonreihe) anstelle der ›Obertonreihe‹ umgeht Krämer dieses Problem, da hier der Grundton als erster Partialton (= Teilton) aufgefasst werden kann. Die Kenntnis der Zählungsproblematik deutet sie allerdings nur indirekt an mit den Worten: »Das Obertonspektrum besteht aus allen Tönen außer der Grundschwingung. Der erste Oberton ist damit der zweite Partialton« (10). Warum sie den Begriff ›Obertonreihe‹ bei ihrer Einführung in die Akustik konsequent vermeidet, lässt sich also nur erahnen. Umso überraschender, dass im Sachregister statt der ›Partialtonreihe‹ nur die ›Obertonreihe‹ erwähnt wird. Auch in der kurzen Zusammenfassung des Akustik-Kapitels ersetzt Krämer den Begriff ›Partialtonreihe‹ plötzlich durch die ›Obertonreihe‹ (23).
Hartmut-Fladt-Reminiszenzen äußern sich auch in einigen geistreichen Zuspitzungen und spekulativen Behauptungen. So schreibt Krämer zur Fuge: »Nach der Exposition ist es allerdings ziemlich offen, ob und wie die Fuge weitergeht: Nach der Exposition kann auch direkt die Schlusskadenz kommen« (80). Eine prägnante Formulierung, die direkt aus Fladts Musiktheorie-Seminaren stammen könnte. Typisch auch Krämers These, bei Schubert und Rossini kämen die sogenannten Mozartquinten »viel öfter vor als bei Mozart« (47).
Fladt hat solche und ähnliche Behauptungen gern im Unterricht aufgestellt, nicht zuletzt um seine Studierenden aus der Reserve zu locken, zu Widerspruch und selbstständiger Recherche zu ermuntern. Es ging dabei um Dinge, die gut vorstellbar, aber sehr schwer zu beweisen sind. Dazu gehört auch Krämers Vermutung, Joseph Riepels Kompositionslehre habe sich »bei Leopold und Wolfgang Amadeus Mozart im Bücherregal« (235) befunden. Wissenschaftliche Beweise gibt es dafür bislang nicht. Abgesehen davon, dass die Mozarts im 18. Jahrhundert mit hoher Wahrscheinlichkeit Bücherschränke und keine Bücherregale besessen haben, ist Riepels Kompositionslehre nicht im Bücher-Nachlass von W. A. Mozart zu finden, wie aus Ulrich Konrads und Martin Staehelins Rekonstruktionen hervorgeht.[4] Auch stellt sich die Frage, ob solcherlei Spekulationen in einem gedruckten Lehrwerk angebracht sind.
Problematischer erscheint mir allerdings eine grundsätzliche methodische Entscheidung, die Auswirkungen auf die Kapitel »Kontrapunkt« und »Tonalität« hat: Krämer erläutert Techniken der Renaissance- und Barock-Polyphonie, ohne zuvor Klauseln und Kadenzen behandelt zu haben. Denn dies tut sie erst im Kapitel ›Tonalität‹, in dem es bevorzugt um Klassik und Romantik geht. Dort folgt auch eine Erwähnung der Kirchentonarten (105–107) und eine Einführung in das Hexachord-System (108). In einem Baumdiagramm stellt Krämer alle gängigen Schlussbildungen inklusive Soprankadenz und Tenorkadenz dar (147), aber ohne direkten Hinweis darauf, dass diese Kadenzen in der Klassik als Schlussbildungen kaum mehr Relevanz haben.
Doch es gibt auch viel Empfehlenswertes in den Kapiteln »Kontrapunkt« und »Tonalität«. Vor allem Krämers umfangreiche Betrachtungen zur ›Fuge‹ sind in diesem Zusammenhang zu nennen (79–102). Die Autorin geht hier weit über das hinaus, was man von einer fundierten Einführung erwarten würde. Neben Grundlagen wie ›Stimmdisposition‹ und ›Beantwortung‹ behandelt sie auch den doppelten Kontrapunkt in der Oktave, der Dezime und Duodezime. Und sie setzt erfrischend unkonventionelle Akzente, indem sie dies nicht direkt an der Gattung Fuge demonstriert, sondern am Kinderlied »Au clair de la lune« (91–93; Krämers Schreibweise »O Clair de la Lune« ist allerdings falsch). In einem kleinen Lehrgang, einer Mischung aus Anleitung und Übung, vermittelt die Autorin, wie man diesem französischen Lied eine zweite und dritte Stimme im doppelten Kontrapunkt hinzufügen kann.
Ein pädagogischer Ansatz, der verwandt ist mit dem ebenfalls sehr empfehlenswerten letzten Kapitel ›Werkzeugkasten‹. Dort sind es die Kinderlieder »Schlaf, Kindchen, schlaf« und »A-B-C, die Katze lief im Schnee«, an denen Krämer exemplarisch zeigt, wie Tonleiterstufen u. a. mit Hauptfunktionen harmonisiert werden können, mit Zwischendominanten, mit Orgelpunkten und mit Hornquinten (255–272).
Anregend und zugleich gut nachvollziehbar sind auch Krämers Betrachtungen zum ›Tristan-Akkord‹ (172–176). Die Autorin führt ihn unter der Rubrik »Akkorde mit eigenem Namen« auf und setzt ihn dort aufgrund seines Klanges zunächst mit dem halbverminderten Septakkord in Grundstellung gleich. Darum beginnt sie konsequenterweise mit der enharmonischen Umdeutung des Tristan-Akkords. Sie erläutert, wie ein halbverminderter Septakkord üblicherweise fortgeführt werden kann und beleuchtet Richard Wagners eigene, rätselhaft in der Schwebe bleibende Weiterführung von mehreren Seiten. Die Beziehung beider Akkorde vergleicht sie mit der komplizierten, widersprüchlichen Liebesbeziehung zwischen Tristan und Isolde in der Oper. Und sie diskutiert analytische Ansätze der Funktionstheorie, des Kontrapunkts und der Figurenlehre.
Zugleich ist dies ein gutes Beispiel für Krämers Fähigkeit, theoretische Erkenntnisse auf anschauliche Weise mit der musikalischen Praxis zu verknüpfen. Da ihr das sehr oft auf hohem Niveau gelingt, fallen umso mehr jene Stellen auf, an denen das nicht der Fall ist.
Im Kapitel »Tonalität« betrifft das die Einführung in die Jazz-Harmonik und in die Modulation.
So behandelt Krämer auf zweieinhalb Seiten die im Jazz üblichen Septakkorde und das Prinzip der ›Tensions‹, ohne die ›Avoid Notes‹ zu berücksichtigen (122–124). Entsprechend praxisfern wirken ihre Beispiele für den Undezimen- und Tredezimenakkord in Bezug auf den Jazz. Krämer schichtet diese Akkorde in Terzen über dem Grundton g, sodass erweiterte Dominantseptakkorde der V. Stufe mit 11 entstehen (122). Das Problem: Im Jazz gilt die 11 in diesem Fall als ›Avoid Note‹ und wird als ›Tension‹ vermieden.
Darüber hinaus sorgt Krämer für etwas Verwirrung durch die Aussage, ›Tensions‹ seien »ohne Alteration sowie hoch- und tiefalteriert verwendbar, so dass sich eine beträchtliche Vielfalt an möglichen Akkorden ergibt« (124). Ähnlich auch Krämers Behauptung, über dem jeweiligen Dreiklang in Grundstellung ließen sich »große, kleine, verminderte und übermäßige Septimen, Nonen, Undezimen und Tredezimen unterscheiden« (122). Nimmt man diese Aussagen wörtlich, wären übermäßige Septimen, verminderte Nonen, verminderte Undezimen und übermäßige Tredezimen in Jazz-Akkorden gängig – was Krämer sicherlich nicht meint.
Mit Sicherheit falsch ist hingegen die Aussage der Autorin, im Jazz sei der Moll-Dreiklang mit großer Septime als »major-minor« bekannt (123). Ein Begriff, den Krämer auch im Sachregister aufführt. Tatsächlich ist das Gegenteil in der Jazztheorie und -praxis üblich, nämlich die Bezeichnung ›Minor-Major‹.[5]
Was Krämers Einführung in die klassische Modulationslehre angeht, unterscheidet sie hier im Wesentlichen zwischen diatonischer, chromatischer und enharmonischer Modulation (165–169). Eine Systematik, die vor zwanzig, dreißig Jahren in der Musiktheorie vorherrschend war und u. a. in Doris Gellers Modulationslehre von 2002 verwendet wird.[6] Seitdem hat sich viel getan in der historischen Forschung, ausgehend von Wolfgang Buddays Harmonielehre Wiener Klassik, die ebenfalls 2002 erschienen ist – ein Lehrbuch, das historische Quellen von W. A. Mozart, Förster, Koch und Riepel für den heutigen Harmonielehre-Unterricht aufbereitet und sich, wie um 1800 üblich, an der Oktavregel orientiert.[7] Etwas irritierend daher, wenn laut Krämer das »moderne Modulationskonzept« davon ausgeht, »dass ein Klang als Schnittstelle fungieren muss, der sowohl in der Ausgangs- als auch in der Zieltonart erklärlich ist und ›umgedeutet‹ wird« (165). Aus der Perspektive der aktuellen, historisch informierten Musiktheorie ist dieses Modulationskonzept nämlich nicht »modern«, sondern veraltet. Außerdem belässt es Krämer dabei, den ›Umdeutungsakkord‹ als Hauptprinzip der Modulation darzustellen. Unerwähnt lässt sie den viel häufigeren Fall, den Budday in seiner Harmonielehre Wiener Klassik thematisiert: die Modulation über jene »charakteristischen und enharmonischen Accorde«, die für bestimmte Tonleiterstufen typisch sind.[8]
Eine Stärke des Lehrbuchs liegt dagegen darin, auch auf ungewöhnliche Analyse-Werkzeuge und Systematiken hinzuweisen. So erwähnt Krämer im Abschnitt »Sequenzmodelle« die Möglichkeit, Sequenzen tabellarisch nach den Kategorien Sekundfall, Sekundstieg, Terzfall und Terzstieg zu ordnen (191), eine Systematik, die meines Wissens zum ersten Mal in einem deutschsprachigen Lehrbuch thematisiert wird. In einer Fußnote schreibt Krämer, sie habe diese tabellarische Übersicht Ingeborg Pfingsten zu verdanken (216), ihrer ehemaligen Kollegin an der UdK Berlin. An anderer Stelle weist sie auf eine interessante Kombination aus Funktions- und Stufentheorie hin, die nach meinem Kenntnisstand einige Musiktheorie-Lehrende an der HMTM Hannover verwenden: Funktionssymbole werden konsequent durch Stufensymbole ersetzt, die üblichen Zahlenangaben in der Funktionstheorie unter und rechts neben dem Symbol dagegen bleiben. Krämer erläutert die Vorteile dieser Analyse-Methode an ein paar Takten von Robert Schumanns »Kind im Einschlummern« aus den Kinderszenen op. 15 (159–160).
Für diesen Werkausschnitt und alle anderen Musikbeispiele hat Krämer im Anhang leider kein Verzeichnis angelegt. Angesichts der überwältigenden Fülle an Musikliteratur-Zitaten wäre das meiner Meinung nach angebracht gewesen.
Dass in dieser Vielzahl von Musikausschnitten kleine Detailfehler unterlaufen, lässt sich vermutlich nicht vermeiden. Trotzdem möchte ich auf zwei Stellen hinweisen, an denen Detailfehler ungewollte Manipulationen des Notentextes verursachen.
So zitiert die Autorin im Kapitel »Tonalität« als Beispiel für einen ›Fauxbourdon‹ die ersten vier Takte aus dem Finale von Beethovens C-Dur-Klaviersonate op. 2 Nr. 3, ersetzt aber irrtümlicherweise die beiden Quartsextakkorde auf den leichten Achteln in Takt 3 durch Sextakkorde (214). Dadurch entsteht der falsche Eindruck, Beethoven habe von Takt 1 bis einschließlich Takt 3 einen lückenlosen Fauxbourdon-Satz komponiert.
Gravierender ist nach meiner Einschätzung ein Fehler Krämers zu Beginn des Kapitels »Kontrapunkt«. Als Beispiel für ›Mozartquinten‹ präsentiert sie hier die ersten zwei Takte aus Mozarts Konstanze-Arie »Traurigkeit ward zum Lose« aus der Entführung aus dem Serail KV 384 (47). Ein Blick in die Originalpartitur beweist aber, dass Mozart an dieser Stelle keine ›Mozartquinten‹ geschrieben hat.
Die Vermutung liegt nahe, dass sich Krämer in diesem Fall auf einen Klavierauszug verlassen hat und aus diesem zitiert. Ein Fehler übrigens, der schon Michael Dachs und Paul Söhner unterlaufen ist: Im zweiten Teil ihrer Harmonielehre führen sie als Literaturbeispiel für ›Mozartquinten‹ eine Stelle aus Mozarts Le nozze di Figaro KV 492 an. Es handelt sich dabei um die Takte 14 und 15 aus der Cavatina der Barbarina im 4. Akt.[9] Auch hier gibt es laut Originalpartitur keine ›Mozartquinten‹. Später hat Hermann Grabner dieses falsche Figaro-Beispiel ungeprüft in sein Handbuch der funktionellen Harmonielehre übernommen.[10]
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Laura Krämers Allgemeine Musiklehre ist keine ›Allgemeine Musiklehre‹ im herkömmlichen Sinne. Ihr Buch richtet sich weder an Anfänger und Laien, noch an Schüler der Studienvorbereitung an Musikschulen. Stattdessen hat die Autorin den Bereich der Musikhochschule im Blick. Und dort in erster Linie Musiktheorie-Lehrende und angehende Musiktheorie-Lehrende.
Krämer bietet ihrer Leserschaft eine umfassende Einführung in die historische Musiktheorie. Sie beschäftigt sich mit allgemeinen Kompositionsprinzipien und Improvisationspraktiken der abendländischen Musik, von der Gregorianik bis hin zu Oliver Messiaen. Und sie tut dies auf Musiktheorie-Hauptfachniveau. Zuweilen weckt sie dabei Erinnerungen an Hartmut Fladts Berliner Musiktheorie-Seminare: mit dem prominenten Gebrauch von Fachbegriffen, die auch Fladt bevorzugt hat, mittels geistreicher Zuspitzungen und provokanter Thesen. Einige Ungenauigkeiten, Inkonsequenzen und Fehler im Detail werden aufgewogen durch die überwältigende Fülle an Material, die Krämer vor ihrer Leserschaft ausbreitet. Ein ausführlicheres Sachregister wäre unter diesen Umständen wünschenswert gewesen. Zur besseren Orientierung hätte auch ein Verzeichnis für die zahlreichen Musikausschnitte beigetragen. Keine Wünsche offen lässt Krämer dagegen im sehr empfehlenswerten Schlusskapitel »Werkzeugkasten«. Die Autorin öffnet hier eine Tür zu ihrer eigenen Unterrichtswerkstatt und lässt auf inspirierende Weise an ihren methodisch-didaktischen Erfahrungen teilhaben.
Anmerkungen
Vgl. Diergarten/Neuwirth 2019 sowie Menke 2015 und 2017. | |
Vgl. Krämer 2021 und Aydintan/Krämer/Spatz 2021. | |
Vgl. Ziegenrücker 1997 und Hempel 2011. | |
Vgl. Konrad/Staehelin 1991, 33–144. | |
Vgl. z. B. Levine 1996, 53. | |
Geller 2002. | |
Budday 2002. | |
Ebd., 185. | |
Dachs/Söhner 2005, 56. | |
Grabner 1996, 186. |
Literatur
Aydintan, Marcus / Laura Krämer / Tanja Spatz (Hg.) (2021), Solmisation, Improvisation, Generalbass. Historische Lehrmethoden für das heutige Musiklernen, Hildesheim: Olms.
Budday, Wolfgang (2002), Harmonielehre Wiener Klassik. Theorie – Satztechnik – Werkanalyse, Stuttgart: Berthold & Schwerdtner.
Dachs, Michael / Paul Söhner (2005), Harmonielehre. Zweiter Teil [1951], München: Kösel.
Diergarten, Felix / Markus Neuwirth (2019), Formenlehre, Laaber: Laaber.
Geller, Doris (2002), Modulationslehre, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel.
Grabner, Hermann (1996), Handbuch der funktionellen Harmonielehre [1967], Kassel: Gustav Bosse Verlag.
Hempel, Christoph (2011), Neue Allgemeine Musiklehre [1997], Mainz: Schott.
Konrad, Ulrich / Martin Staehelin (1991), allzeit ein buch. Die Bibliothek Wolfgang Amadeus Mozarts, Weinheim: VCH, Acta Humaniora.
Krämer, Laura (2021), Musik verstehen und erfinden. Übungs- und Spielbuch für Melodieinstrumente, Mainz: Schott.
Levine, Mark (1996), Das Jazz Theorie Buch, übers. von Hermann Martlreiter, Mainz: Advance Music.
Menke, Johannes (2015), Kontrapunkt I. Die Musik der Renaissance, Laaber: Laaber.
Menke, Johannes (2017), Kontrapunkt II. Die Musik des Barock, Laaber: Laaber.
Ziegenrücker, Wieland (1997), ABC Musik. Allgemeine Musiklehre, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel.
Universität der Künste Berlin [Berlin University of the Arts]
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