Aydintan, Marcus (2024), »Rhythmus-Blattspiel-Training. Idee und Konzept eines Lehrgangs an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar« [Rhythm and sight-reading training. Idea and concept of a course at the University of Music FRANZ LISZT Weimar], Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 21/1. https://doi.org/10.31751/1206
eingereicht / submitted: 22/11/2023
angenommen / accepted: 10/04/2024
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 20/07/2024
zuletzt geändert / last updated: 08/07/2024

Rhythmus-Blattspiel-Training

Idee und Konzept eines Lehrgangs an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar

Marcus Aydintan

Der vorliegende Artikel gibt Einblick in einen seit dem Jahr 2020 bestehenden Lehrgang an der Weimarer Musikhochschule, der die Bereiche Rhythmus, Gehörbildung und Blattspiel in einer Lehrveranstaltung verbindet. Den Schwerpunkt bilden Übungen, deren (Poly-)Rhythmen aus musikalischen Werken unterschiedlicher Stilbereiche entnommen wurden. Eine Auswahl von Aufgaben demonstriert den sukzessiven Aufbau des Lehrgangs, die angewandten Methoden und den Schwierigkeitsgrad des Unterrichts.

This essay gives insight into a course that has been running at the Weimar University of Music since 2020, combining the areas of rhythm, ear training and sight-reading. The focus is on exercises with (poly-)rhythms, taken from musical works of different styles. Various tasks demonstrate the progressive structure of the course, the methods used and the levels of difficulty.

Schlagworte/Keywords: Blattspiel; ear training; Gehörbildung; Polyrhythmus; Puls; pulse; rhythm; Rhythmus; sight reading

In der didaktischen Diskussion zum Fach Gehörbildung an Musikhochschulen und in den dazu erschienenen Praxishilfen zeigen sich seit den letzten drei Jahrzehnten vor allem das Bedürfnis nach mehr Musiknähe und eine Tendenz hin zu einer musiktheoretisch ›sinngebenden‹ Systematik, die eine erhöhte Effektivität des Unterrichts verspricht. Zu nennen wären hier insbesondere das Hören von Satzmodellen in unterschiedlichen Stilen und formalen Zusammenhängen sowie die relative Solmisation.[1] Beide Bereiche sind didaktisch vornehmlich auf das erkennende Hören linearer bzw. kontrapunktischer Zusammenhänge und einer modellhaften Harmonik ausgerichtet. Das Erlernen rhythmisch-metrischer Kompetenzen spielt hierbei meist eine untergeordnete Rolle.[2]

Bei Lehrgängen, die sich mit dem Thema Rhythmus beschäftigen, zeigen sich in der Regel zwei verschiedene Ansätze. Entweder werden zugunsten einer umfassenden und stringent verfolgten Systematik selbsterdachte, abstrakte Übungen angeboten, die nach Taktarten und rhythmischen Phänomenen geordnet sind, deren Beispiele jedoch einen geringeren Bezug zur Musikpraxis der Studierenden herstellen.[3] Oder es wird Rhythmus konsequent in Bezug zu Musikwerken gesetzt – dies trifft allerdings nur auf wenige Lehrwerke zu.[4]

Das im vorliegenden Artikel gezeigte Konzept versteht sich als Beitrag zum letztgenannten Ansatz, im Sinne eines systematischen und praxisnahen Erlernens von Rhythmen und rhythmisch-metrischen Zusammenhängen. Eine große Rolle spielen dabei die weiter unten erläuterten Praxisphasen, in denen regelmäßig Instrumente einbezogen werden und die für die Studierenden individuell angepasst werden.

Studierende waren es auch, die den Rhythmuskurs an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar anregten:[5] Bei Proben des Hochschulorchesters wurde für die korrekte Darstellung bestimmter Rhythmen und für rhythmisches Zusammenspiel Zeit aufgewendet. Mit der Einrichtung eines regelmäßigen Lehrangebots verbanden die Studierenden nicht nur den Wunsch einer Routine im Darstellen von Rhythmen, sondern auch die Zielsetzung einer größeren Sicherheit im Blattspiel. Das Anliegen wurde an das Zentrum für Musiktheorie herangetragen. Nach einer Konzeptionsphase konnte der Unterricht im Sommersemester 2020 beginnen – aufgrund der während der Corona-Pandemie geltenden Beschränkungen zunächst im Online-Format, danach als Präsenzveranstaltung.

Das Konzept des Lehrgangs

Methodische Vorüberlegungen und Rahmenbedingungen

Zwei methodische Grundgedanken waren für die Gestaltung der Lehrveranstaltung bestimmend. Erstens sollte der Bereich Rhythmus mit Aufgabenstellungen aus dem Bereich der Gehörbildung verknüpft werden, um rhythmische Strukturen sowohl durch Praxis (Sprechen, Klopfen, Spielen) als auch durch das Hören zu erschließen. Das Ineinandergreifen dieser Bereiche wird weiter unten ausgeführt. Zweitens wurde die Idee verfolgt, in jeder Sitzung aus musikalischen Werken entnommene Rhythmen zu erarbeiten und in regelmäßigen Abständen Blattspiel-Phasen an Instrumenten vorzusehen. Hierdurch entstehen von selbst Bezüge zur musikalischen Praxis: Die Übungen werden nicht als abstrakt wahrgenommen, sondern sind mit Musik verknüpft – die Musik wird zur Methode.[6] Auch die Aufgaben des Lehrgangs, die frei erfunden sind, bereiten als Übungen stets solche Aufgaben vor, die Musikwerken entstammen.

Der Unterricht ist an der Weimarer Hochschule als Wahlfach (sog. ›Spezialkurs Musiktheorie‹) belegbar und findet wöchentlich einstündig in Kleingruppen mit bis zu sechs Studierenden statt. Der über ein Studienjahr angelegte Lehrgang umfasst, jeweils einsemestrig, einen Einstiegskurs und eine Fortgeschrittenengruppe. Studierende können direkt in die Fortgeschrittenengruppe einsteigen, wenn ihre Vorkenntnisse dazu ausreichen.

Die spezifische Zielgruppe sind Studierende in künstlerischen Studiengängen (angehende Orchestermusiker*innen, Dirigent*innen, Komponist*innen); der Kurs ist jedoch offen für Studierende aller Studiengänge. Durch den Einbezug von populärer Musik bietet der Unterricht auch inhaltliche Anknüpfungspunkte etwa für Studierende in den Lehramtsstudiengängen.

Inhalt und Ablauf

Als Lernmaterialien dienen weiter unten erläuterte Arbeitsblätter mit Rhythmusübungen, die in den wöchentlichen Sitzungen erarbeitet werden. Im Zentrum jeder Sitzung stehen Rhythmen aus Musikwerken verschiedener Stilbereiche. Die Arbeitsblätter sind nach Taktarten und nach dem Schwierigkeitsgrad der darin enthaltenen Rhythmen geordnet: Der Einstiegskurs beginnt beispielsweise mit einfachen Aufgaben zum 2/4-, 3/4- und 4/4-Takt.

An vier bis fünf Terminen im Semester findet der Unterricht an Instrumenten statt, um mit speziell für die Studierendengruppe erstellten Arrangements oder passend ausgesuchten Kammermusikwerken die bislang gelernten Rhythmen im Ensemble umzusetzen.

Vorübungen mit Rhythmusbausteinen

Zur Demonstration des Unterrichtskonzepts sind nachfolgend Aufgaben überwiegend zum Themenbereich des 6/8- und 9/8-Takts aufgeführt; für Kanons und Polyrhythmen wurden Beispiele in anderen Taktarten gewählt. Im ersten Schritt werden kurze und einfache Rhythmusphrasen auf die Silbe ta gesprochen, die im Folgenden ›Bausteine‹ genannt werden (siehe Bsp. 1).[7] Die Zusammensetzung der Notenwerte ist im Hinblick auf die späteren Übungen gewählt, die aus musikalischen Werken stammen. Im gegebenen Beispiel umfassen die Bausteine eine Länge von entweder drei oder sechs Achteln und enthalten rhythmische Muster, deren korrekte Darstellung für die folgenden Übungen notwendig wird (siehe Bsp. 1 z. B. die Phrase punktierte Achtel, Sechzehntel, Achtel in Baustein b und die Überbindung von der dritten auf die vierte Achtelzählzeit in Baustein f). Der Puls wird dazu mit einer einfachen Differenzierung dargestellt: Auf schweren Taktpositionen wird in die Handflächen und auf leichten Zeiten wird in den Handrücken geklatscht.[8] Diese Aufteilung ist für die längeren Bausteine und später für die Übungen wichtig, weil dadurch Akzentstufen des Taktes deutlich werden und eine Orientierung im Takt gegeben ist.

Die Bausteine werden von einzelnen Studierenden oder in der Gruppe gesprochen. Einzelne oder beliebig kombinierte Bausteine werden in Schleifen als rhythmisches Ostinato dargestellt. Ziel dieser Vorübung ist das Kennenlernen und sichere Darstellen kleiner rhythmischer Einheiten und somit das Üben eines grundlegenden ›Vokabulars‹. Insbesondere durch die längeren Bausteine wird die innere Wahrnehmung für den Achtelpuls trainiert; für diese längeren Phrasen kann in einem Zwischenschritt statt des Pulses der punktierten Viertel auch der Achtelpuls mitgeklatscht (oder mitgeklopft) werden.

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Beispiel 1: Rhythmusbausteine in der Länge von drei und sechs Achteln

Anschließend werden Übungen bei geklatschtem Puls gesprochen, in denen die zuvor geübten Bausteine in unterschiedlicher Reihenfolge erscheinen (siehe Bsp. 2). Zum Üben wird ein langsames (z. B. punktierte Viertel = 48), mittleres (z. B. punktierte Viertel = 56), und schnelles Tempo (z. B. punktierte Viertel = 66) vorgegeben. Auch längere Übungen werden versucht. Durch die gemischte Abfolge wird geübt, die Bausteine in Notentexten schnell zu erkennen. Die Studierenden sind dazu angehalten, im Falle von Fehlern nicht abzubrechen, sondern die Übung im Tempo fortzusetzen (und z. B. bei der nächsten Taktzählzeit oder im nächsten Takt weiterzusprechen). Hierdurch soll das Wiedereinsteigen nach eventuellen Fehlern auch im Hinblick auf die späteren Blattspielaufgaben trainiert werden.

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Beispiel 2: Beispiel für eine Übung im 6/8-Takt

Zweistimmige Rhythmen

Es folgen zweistimmige Übungen mit Rhythmen, die aus Orchester-, Kammermusikwerken oder anderer Musik (z. B. auch Popsongs, siehe unten) entnommen wurden. In diesen Aufgaben wird eine Zeile gesprochen und die andere Zeile geklopft. Die Rhythmen werden im Unterricht vorab von mehreren Studierenden mit verteilten Rollen dargestellt. Das erste Beispiel (Bsp. 3) zeigt den Anfang der siebten Variation aus den Variationen über ein Thema von Haydn op. 56a von Johannes Brahms (Rhythmus der Außenstimmen). Durch die imitatorische Anlage wird zu Beginn eine rhythmische Phrase, die Baustein b enthält, versetzt gesprochen und geklopft.

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Beispiel 3: Übung zu Johannes Brahms’ Variationen über ein Thema von Haydn op. 56a, Variation Nr. 7

Das zweite Beispiel entstammt dem ersten Satz der Sinfonie Nr. 4 op. 36 von Pëtr Il’ič Čajkovskij; die Rhythmen orientieren sich an den tiefen Streichern und den Holzbläsern ab Takt 55 (Bsp. 4). Ähnlich wie beim vorigen Beispiel enthält die Übung am Anfang eine Imitation. Die Herausforderungen dieser Übung bestehen einerseits in der Darstellung der punktierten Achtel und Sechzehntel bei gleichzeitigen Achteln (T. 1 und 4). Andererseits muss die hemiolische Struktur (letzte Zählzeit von T. 4 auf die erste Zählzeit von T. 5) zum punktierten Rhythmus bewältigt werden. Beispiel 5 zeigt eine Übung, die als Vorbereitung in einer Schleife gesprochen und geklopft werden kann.

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Beispiel 4: Übung zu einem Abschnitt des ersten Satzes der Sinfonie Nr. 4 op. 36 von Pëtr Il’ič Čajkovskij (T. 55–60)

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Beispiel 5: Vorübung

Die Aufgaben können in getauschter Zuordnung gesprochen und geklopft werden (z. B. oben sprechen, unten klopfen und umgekehrt). Die gleichzeitige unterschiedliche Darstellung durch Sprache und Motorik sorgt dafür, Koordinationsfähigkeiten und die Unabhängigkeit zwischen Sprechen und Klopfen zu trainieren, die Rhythmen auf zwei Ebenen unterschiedlich zu erschließen und dadurch eine komplexe Struktur besser zu durchdringen.

Rhythmen hören und notieren

Für die Gehörbildung ist es von großem Nutzen, rhythmische Strukturen systematisch zu erschließen. Durch das Wiedererkennen der oben gezeigten rhythmischen Bausteine ergeben sich Muster, die den Transfer vom Hören und Darstellen zum Verschriftlichen erleichtern.[9] Mit dem Aufschreiben der gehörten Rhythmen verknüpft sich der Klang mit dem Notenbild – umgekehrt soll das Notierte anschließend auch wieder dargestellt (gesprochen und geklopft) werden.

Im Rahmen dieses Lehrgangs werden verschiedene Aufgaben zum Hören von Rhythmen erarbeitet. Beispiel 6 zeigt ein Beispiel aus dem Finale der Klaviersonate Nr. 3 op. 5 von Brahms. Hier sind nur die Tonhöhen des Ausschnitts sowie die Taktart 6/8 vorgegeben. Zunächst müssen der Puls und die Taktzeiten im 6/8 gehört werden, um Taktstriche einzutragen. Dann wird zunächst der Rhythmus nachgesprochen – in den Takten 5 und 6 kann eine Variante des Bausteins f erkannt werden (Lösung, siehe Bsp. 7).

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Beispiel 6: Höraufgabe zu Brahms, Klaviersonate Nr. 3 op. 5, Finale (T. 19–25)

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Beispiel 7: Rhythmus der Höraufgabe zu Brahms, Klaviersonate Nr. 3 op. 5, Finale (T. 19–25)

In der Aufgabe zu The Rumble aus West Side Story von Leonard Bernstein (Bsp. 8) sollen die Lücken in der oberen Zeile (Streicher und Bläser) gehört, nachgesprochen/nachgeklopft und notiert werden. Der Rhythmus der unteren Zeile ergibt sich u. a. durch das Schlagwerk. Danach wird das Ergebnis zweistimmig dargestellt (sprechen und klopfen).

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Beispiel 8: Höraufgabe zu The Rumble aus West Side Story von Leonard Bernstein (T. 1–12)

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Beispiel 9: Lösung der Höraufgabe zu The Rumble

Rhythmuskanons

Durch das Sprechen von Rhythmuskanons wird geübt, die eigene Stimme im Netzwerk mit anderen Stimmen sicher darzustellen. Geeignete Kanons können aus Partituren entnommen werden. Beispiel 10 zeigt ein Beispiel im 3/4-Takt. Es handelt sich um den Rhythmus eines Ausschnitts aus dem ersten Satz der Sinfonietta von Leoš Janáček. Der Kanon kann mit vier Stimmen bzw. Gruppen ausgeführt werden: Die erste Gruppe beginnt, gemeinsam Zeile für Zeile zu sprechen. Beim Erreichen der zweiten Zeile setzt die zweite Gruppe ein und beginnt von vorne.

In dieser Übung werden zwei identische Rhythmusphrasen auf unterschiedlichen metrischen Zeiten gesprochen. Dabei ist die Versetzung der Phrase aus der zweiten Zeile (aus vier Achteln und zwei Vierteln bestehend) auf die dritte Zählzeit in der vierten Zeile verhältnismäßig unproblematisch, da es sich um verschiedene Viertelzählzeiten handelt. Schwieriger ist die Versetzung der nur aus Achteln bestehenden Phrase der ersten Zeile, weil sie in der ersten Zeile auf der zweiten Achtelzählzeit und in der dritten Zeile auf der dritten Viertelzählzeit beginnt. Somit verändert sich die Betonung dieser Phrase, wodurch besonders bei ersten Durchgängen des Kanons leicht die Orientierung verloren gehen kann. Der letzte Takt, der in den oberen drei Zeilen identisch ist, dient der ›Kontrolle‹.

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Beispiel 10: Rhythmus eines Ausschnitts aus dem ersten Satz der Sinfonietta von Leoš Janáček (T. 37–41)[10]

Aufgaben zur Darstellung von Polyrhythmen

Ein zentraler Aspekt im Unterricht der Fortgeschrittenengruppe des Lehrgangs ist die Darstellung von Polyrhythmen. Verschiedene Verhältnisse (etwa für den Bereich Quintolen: 5:2, 5:3 und 5:4) werden erarbeitet und wiederum anhand von Beispielen aus verschiedenen Werken geübt. Eine Hilfestellung für die Herleitung des Polyrhythmus 4:3 zeigt Beispiel 11.

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Beispiel 11: Übung für den Polyrhythmus 4:3

Auch Beispiele aus der populären Musik eignen sich für anspruchsvolle polyrhythmische Übungen. Beispiel 12 zeigt den Rhythmus der Voicings am Beginn des Songs »Cosmic Girl« von Jamiroquai.[11] Der Rhythmus ergibt zwei aufeinanderfolgende 4:3-Strukturen über insgesamt sechs Viertelschläge in einem 4/4-Takt. Der zuvor geübte Rhythmus aus Beispiel 11 wird somit einmal auf der ersten Zählzeit und einmal auf der vierten Zählzeit des 4/4-Taktes gesprochen/geklopft, wodurch die letzte Zählzeit des ersten Taktes einen Akzent erhält. Die zwei übrigen Zählzeiten am Ende des zweiten Taktes ergeben eine andere Rhythmusphrase aus zwei Achteln, einer Sechzehntelpause und einer punktierten Achtel.

Im ersten Schritt ist der Rhythmus der Voicings zu einem geklopften bzw. geklatschten Viertelpuls zu sprechen (Bsp. 13). Wenn dies fehlerfrei gelingt, kann das Klatschen/Klopfen auch weggelassen werden, um nur noch den inneren Puls wahrzunehmen – und eine ähnliche ›schwebende‹ Wirkung wie im Intro des Songs zu erzeugen.

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Beispiel 12: Transkription der Rhythmen der Voicings des Songs »Cosmic Girl« von Jamiroquai

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Beispiel 13: Rhythmen der Voicings mit geklopftem Viertelpuls

Zwei weitere an den Song angelehnte Übungen sind möglich: eine Kombination der Voicings mit den Rhythmen der Bassdrum (Bsp. 14) oder der Basslinie (Bsp. 15).

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Beispiel 14: Rhythmen der Voicings und der Bassdrum im Intro

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Beispiel 15: Rhythmen der Voicings und der Basslinie zum Strophenbeginn

Aufgaben zum Blattspiel

Der letzte Schritt führt zur Praxis an den Instrumenten. Hierfür werden Kammermusik- und Orchesterwerke arrangiert, um sie mit einer in der jeweiligen Studierendengruppe vorhandenen Besetzung proben zu können. Besonders ergiebig sind Beispiele, in denen zuvor geübte Bausteine häufig vorkommen (z. B. als Ostinato) und somit intensiv trainiert werden können.

Zur Vertiefung der bisher geübten Aufgaben werden zunächst jene zweistimmigen Übungen auf den Instrumenten gespielt, die zuvor gesprochen und geklopft wurden. Die Übungen zu den Werken von Brahms (Bsp. 3) und Čajkovskij (Bsp. 4) können in verschiedenen Instrumentenkombinationen gespielt werden; Beispiel 16 zeigt hierfür ein Beispiel.

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Beispiel 16: Ausschnitt einer Blattspielübung, nach Johannes Brahms’ Variationen über ein Thema von Haydn op. 56a, Variation Nr. 7[12]

Anschließend werden andere Arrangements vom Blatt gespielt. Beispiel 17 zeigt einen für Klavierquartett arrangierten Ausschnitt aus dem Finale der 5. Sinfonie von Bohuslav Martinů, in dem Baustein b bzw. Varianten von Baustein f (siehe Bsp. 1) ein begleitendes Ostinato bilden. Zu dieser Begleitung spielt das Klavier eine melodische Stimme, die die Akzente des 6/8-Takts durch Synkopierungen verschleiert. Im Verlauf der Übung wird diese Struktur getauscht; die Streicher übernehmen die melodische Stimme, während das Klavier mit dem Ostinato begleitet.

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Beispiel 17: Reduzierter Auszug aus dem Finale der 5. Sinfonie von Bohuslav Martinů (T. 89–93), arrangiert für Klavierquartett[13]

Die Vorbereitung der Praxisübungen ist zeitaufwändig: Weil sich die Zusammensetzung der Instrumente jedes Semester neu mischt, ist es in der Regel notwendig, bereits bestehende Arrangements zu ändern oder neue zu erstellen.

Außerdem bedeutet das Spielen auf den Instrumenten selbstredend mehr als nur die Hinzunahme von Tonhöhen. Fragen der Spieltechnik sowie der Darstellung von Artikulation und Dynamik sorgen für besondere Schwierigkeiten, die bei der Erstellung der Arrangements berücksichtigt werden. Durch den Fokus auf rhythmisches Zusammenspiel werden Passagen, in denen die Ausführung der Tonhöhen anspruchsvoller ist, angepasst und erleichtert (so werden in den Streichinstrumenten Doppelgriffe sparsamer eingesetzt und z. B. im Klavier bei Bedarf größere Sprünge und Oktavierungen vermieden).

Fazit und Ausblick

Durch das hier dargestellte Konzept ergeben sich Unterrichtssequenzen, die zunächst kleinschrittig mit dem oben aufgeführten ›Vokabular‹, dem Sprechen kurzer Bausteine, beginnen und anschließend vielfältige Übungen zum Darstellen und Hören längerer und mehrstimmiger Rhythmen enthalten. Durch die Praxis an den Instrumenten werden die Inhalte schließlich in einer typischen Probensituation erfahrbar.

Zu den weiteren, hier nicht gezeigten Inhalten des Kurses gehören u. a. wechselnde und asymmetrische Taktarten. So werden verschiedene Zusammensetzungen beispielsweise des 5/4- und 7/4-Takts geübt und in den Aufgaben mit Beispielen aus Werken z. B. von Béla Bartók und Maurice Ravel verknüpft.

Insgesamt umfasst das entstandene Material derzeit 160 Übungen, die auch im regulären Gehörbildungsunterricht angewendet werden können. Hier sorgen die Aufgaben für eine abwechslungsreiche Herangehensweise, da musikalische Strukturen zunächst über den Rhythmus und nicht über Töne oder Harmonik erschlossen werden. Eine Publikation des Lehrgangs mit anwendbaren Praxismaterialien ist in Vorbereitung.

In seiner fast vierjährigen Praxis wurde der Kurs Rhythmus-Blattspiel-Training durchweg positiv evaluiert. Die Studierenden geben an, eine größere Sicherheit im Blattspiel und im Darstellen komplizierter Rhythmen bei sich beobachtet zu haben. Durch den regen Zuspruch hat sich die Lehrveranstaltung als regelmäßiges Angebot an der Weimarer Musikhochschule etabliert.

Anmerkungen

1

Verwiesen sei hier auf die zweibändige Gehörbildung von Ulrich Kaiser (1998) sowie das Gehörbildungsprogramm Orlando der Dresdner Musikhochschule (Leigh 2009) und für den Bereich der relativen Solmisation z. B. auf die Publikationen von Martin Losert (2011) und Martine Streib (2021).

2

Die folgenden Ausführungen von Gesine Schröder (2016, 15) bestätigen die untergeordnete Rolle des Rhythmus auch in Bezug auf musiktheoretische Schriften und Lehrgänge: »In musiktheoretischen Lehrgängen stellt Rhythmik aber bekanntlich kein eigenes Fach dar. Die Beschäftigung mit Rhythmus hat keinen vorgesehenen Platz im Studium […]«.

3

Bekannte Beispiele hierfür sind die Bände Maat en Ritme des niederländischen Musiktheoretikers Frans van der Horst (1963). Von zahlreichen jüngeren Lehrwerken sei Rhythmus – Metrum – Timing. 127 ungewöhnliche Übungen für Musizierende von Arend Weitzel genannt (Weitzel 2019).

4

Zu nennen sind hier insbesondere die Rhythmus-Kapitel der Gehörbildungsbände Ulrich Kaisers (siehe Anm. 1), in denen sich zahlreiche Rhythmen finden, die Musikwerken entnommen wurden. Konkrete Bezüge finden sich beispielsweise auch im Lehrwerk Rhythmus. Grundlagen – Fortschreitende Übungen – Praktischer Einsatz von Andrew C. Lewis (2005). In einigen jüngeren Publikationen werden zu erfundenen Übungen gelegentlich Bezüge zu verschiedenen Werken hergestellt; stellvertretend seien hier die Lehrwerke taataa! Rhythmus lesen und hören von Andreas Boettger (2012) und Rhythm. Advanced Studies von Erik Højsgaard (2016) genannt. In John Palmers Rhythm to go (Palmer 2017) wird hingegen eine kreative Auseinandersetzung mit erfundenen Rhythmusübungen angeregt, indem die Aufgaben auf einem oder mehreren Instrumenten gespielt werden können. Hervorzuheben ist auch die Herangehensweise von Rafael Reina in Applying Karnatic Rhythmical Techniques to Western Music (Reina 2015): In diesem Lehrgang werden Techniken zum Erlernen von Rhythmen karnatischer Musik auf Werke europäischer und amerikanischer Komponist*innen des 20. Jahrhunderts angewendet.

5

Wichtige Impulse für die Einrichtung und Entwicklung des Lehrgangs hat der Dirigent (und damalige Dirigierstudent) Martijn Dendievel gegeben.

6

Ulrich Mahlert erläutert einen sachorientierten Ansatz mit dem Modell »Die Musik ist die Methode« im Band Wege zum Musizieren (Mahlert 2011, 61–64). Mit der Formel »Der Weg führt von der Musik zur Theorie« und den Schlagworten »Erleben – Durchdenken – Abstrahieren – Anwenden« beschreibt Clemens Kühn die Vorzüge der Methode, die musikalischen Erfahrung vor das abstrahierend Begriffliche zu stellen (Kühn 2006, 42 f.).

7

Für das Sprechen von Rhythmen wurde bewusst eine sehr einfache Form gewählt. Auch etablierte Rhythmussprachen bzw. Rhythmus-Solmisation können von entsprechend vorgebildeten Teilnehmer*innen im Kurs genutzt werden. Da die Lehrveranstaltung an der Weimarer Hochschule von Studierenden nur für ein oder zwei Semester besucht wird, gehört das Lernen einer differenzierteren Rhythmussprache nicht zum Ziel des Unterrichts.

8

Die motorische Aktivität des Klatschens ist hilfreich, um einen ›inneren Puls‹ zu festigen. Statt zu klatschen, kann der Puls auch geklopft oder der Takt dirigiert werden. Auf die wichtige Rolle des körperlich erzeugten Pulses weist u. a. Lewis in seinem Lehrwerk hin (Lewis 2005, 46 f.). Für den Einfluss motorischer Prozesse auf musikalisches Lernen siehe u. a. Gruhn 2015, 10.

9

Auf den großen Nutzen einer rhythmischen Sicherheit in Bezug auf Gehörbildungsaufgaben mit Tonhöhen weist u. a. Ulrich Kaiser hin (Kaiser 1998, Bd. 1, XIV).

10

Die ersten drei Zeilen sind den Trompeten entnommen, den Rhythmus der vierten Zeile spielen Basstrompete und Pauken.

11

Die Voicings werden im Original kürzer gespielt (Sechzehntel mit anschließenden Pausen). Für eine einfacher lesbare Darstellung wurde auf Pausen weitgehend verzichtet und die Notenwerte in den Beispielen 12–15 wurden entsprechend angepasst.

12

Für diese Blattspielübung wird ein mäßiges Tempo (z. B. punktierte Viertel = 58) vorgegeben.

13

Für die Übung wird ein mäßiges (z. B. punktierte Viertel = 60) und ein schnelleres Tempo (z. B. punktierte Viertel = 76) vorgegeben.

Literatur

Boettger, Andreas (2012), taataa! Rhythmus lesen und hören, Stuttgart: Carus.

Gruhn, Wilfried (2015), »Durch Bewegung zum Musikverständnis. Was die Hirnforschung zur Musikpädagogik beitragen kann«, mip journal 42, 6–10.

Højsgaard, Erik (2016), Rhythm. Advanced Studies, Aarhus: Aarhus University Press.

Kaiser, Ulrich (1998), Gehörbildung. Satzlehre – Improvisation – Höranalyse. Ein Lehrgang mit historischen Beispielen, 2 Bde., Kassel: Bärenreiter.

Kühn, Clemens (2006), Musiktheorie unterrichten. Musik vermitteln. Erfahrungen – Ideen – Methoden, Kassel: Bärenreiter.

Leigh, John (2009), Orlando. Ein multimediales Gehörbildungsprogramm, Dresden: Fahnauer. https://www.hfmdd.de/login/orlando/ (9.5.2024)

Lewis, Andrew C. (2005), Rhythmus. Grundlagen – Fortschreitende Übungen – Praktischer Einsatz, Kassel: Bosse.

Losert, Martin (2011), Die didaktische Konzeption der Tonika-Do-Methode. Geschichte, Erklärungen, Methoden, Augsburg: Wißner.

Mahlert, Ulrich (2011), Wege zum Musizieren. Methoden im Instrumental- und Vokalunterricht, Mainz: Schott.

Palmer, John (2017), Rhythm to go. Ein Rhythmushandbuch für Musikstudenten, Chipping Norton: Vision.

Reina, Rafael (2015), Applying Karnatic Rhythmical Techniques to Western Music, Surrey: Ashgate.

Schröder, Gesine (2016), »Einleitung«, in: Rhythmik und Metrik, hg. von ders., Laaber: Laaber, 7–23.

Streib, Martine (2021): »Gehörbildungsunterricht in der Hochschule auf Basis der relativen Solmisation«, in: Solmisation, Improvisation, Generalbass. Historische Lehrmethoden für das heutige Musiklernen, hg. von Marcus Aydintan, Laura Krämer und Tanja Spatz, Hildesheim: Olms.

Weitzel, Arend (2019), Rhythmus, Metrum, Timing. 127 ungewöhnliche Übungen für Musizierende, Neusäß: Leu.

van der Horst, Frans (1963), Maat en Ritme, 2 Bde., Amsterdam: Broekmans en van Poppel.

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