Aerts, Hans / Cosima Linke / Martin Grabow (2024), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 21/1, 5–7. https://doi.org/10.31751/1200
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 20/07/2024
zuletzt geändert / last updated: 07/08/2024

Editorial

Gemessen an der Bedeutung, die der Lehre im beruflichen Alltag von Vertreterinnen und Vertretern des Faches Musiktheorie neben der künstlerischen Betätigung und der Forschung zukommt, nimmt sich der Umfang der Literatur, in der über Ziele, Inhalte und Methoden des musiktheoretischen Unterrichts reflektiert wird, immer noch verhältnismäßig gering aus.[1] Die ZGMTH widmete der Didaktik der Musiktheorie zuletzt 2014 ein Themenheft.[2] Mit dieser Ausgabe möchten wir der Diskussion darüber neue Impulse geben und ausloten, welche Entwicklungen diesbezüglich zu verzeichnen sind.

Zu nennen ist hier an vorderster Stelle der Appell zu einer verstärkt systematischen, auf transparenten Kategorien und Kriterien basierenden Auseinandersetzung mit den Fragen nach den Zielen, Inhalten und Methoden von Musiktheorieunterricht, die besonders in den Grundsatzartikeln von Matthias Schlothfeldt (Essen) und Ulrich Kaiser (München) vernehmlich ist. Aus recht unterschiedlichen, sich ergänzenden Blickwinkeln fordern diese Texte die hochschulische Musiktheorie bzw. jede einzelne Lehrperson, die das Fach in diesem Rahmen vertritt, zur kritischen Selbstreflexion heraus. Keine Vertreterin und kein Vertreter der Musiktheorie dürfte sich inmitten dieser als schnelllebig empfundenen Zeiten der Frage entziehen können, ob eine Weitung von Unterrichtsthemen und ein Schritthalten mit technologischen Entwicklungen oder eher eine Besinnung auf die Verbindlichkeit althergebrachter Inhalte und Methoden geboten ist. Die Beiträge von Schlothfeldt und Kaiser bieten Anregungen, die eigenen Standpunkte und Argumente diesbezüglich zu schärfen.

Beide Autoren vermissen zudem den Einsatz empirischer Forschungsmethoden zur Abstützung einer Didaktik der Musiktheorie. Einige solcher Forschungsmethoden, die in der schulischen Unterrichtsforschung längst etabliert sind, exemplifiziert Verena Weidner (Erfurt), indem sie Unterrichtsgespräche untersucht, bei denen (wie im Musiktheorieunterricht häufig der Fall) ästhetische Urteile und Wertvorstellungen wirksam sind.

Ohne damit Schlothfeldts Kritik, Veröffentlichungen zu einer Didaktik der Musiktheorie erschöpften sich meist in einer Aneinanderreihung von Best-Practice-Beispielen, entgegentreten zu wollen, erschienen uns exemplarische Darstellungen konkreter Unterrichtsinhalte und -methoden bei der Konzeption dieses Themenhefts unerlässlich. So gibt Wendelin Bitzan (Düsseldorf) Auskunft darüber, welche digitalen Medien und Technologien er aus dem immensen aktuellen Angebot für seine Unterrichtspraxis bevorzugt und in welchen Lehr-Lern-Szenarien er sie einsetzt – Digitalisierung ist auch einer der Aspekte, unter denen Kaiser die gegenwärtige hochschulische Musiktheorie analysiert. Johannes Kohlmann (Mannheim) arbeitet anhand der Skizzierung verschiedener Unterrichtssequenzen heraus, welche Möglichkeiten eine Aufwertung der Disziplin Arrangieren angesichts der damit verbundenen Integration vielerlei ›musiktheoretischer‹ Inhalte und Kompetenzen bietet. Marcus Aydintan (Weimar) präsentiert eine Methode des Rhythmus-Blattspiel-Trainings, welche, ebenfalls im Sinne eines integrativen Ansatzes, die Bereiche Rhythmus, Gehörbildung und Blattspiel verbindet und einen möglichst direkten Bezug zur tatsächlichen Musizierpraxis der Studierenden herstellen will. Barbara Bleij (Amsterdam) schließlich veranschaulicht anhand eines Unterrichtsbeispiels die Art und Weise, wie an der Jazzabteilung des Amsterdamer Konservatoriums musikalische Analyse aufgefasst und methodisch eingebettet wird.

Zwei freie Beiträge, die aus prämierten Einreichungen für den 13. GMTH-Aufsatzwettbewerb 2023 hervorgegangen sind, widmen sich historischen Themen, die sich aber mit fachdidaktischen und methodischen Perspektiven durchaus verknüpfen lassen. Elías Hostalrich Llopis (Biel; 1. Preis) verbindet in seinem Artikel stilanalytische Fragestellungen zu Girolamo Frescobaldis Toccaten mit kompositions- und improvisationspraktischen Herangehensweisen und veranschaulicht seine Befunde zum Verhältnis von vokaler Vorlage und Intabulierung bei Frescobaldi durch eine eigene passaggiatio-Bearbeitung eines Madrigals von Jacques Arcadelt. Valentin Richter (Basel; 2. Preis) fragt nach der Bedeutung des satztechnischen Phänomens der betonten Durchgangsdissonanz für den Personalstil Matthias Weckmanns und bezieht dazu eine Vielzahl musiktheoretischer Quellen zum Transitusbegriff und Beispiele aus Kompositionen des 16. und 17. Jahrhunderts mit ein.

In seiner Rezension von Laura Krämers Allgemeine Musiklehre (Laaber 2022) fragt Felix Stephan (Berlin) insbesondere nach der implizierten Leserschaft dieses Buches und versteht es als eine Einführung in Konzepte der historisch informierten Musiktheorie für (angehende) Musiktheorie-Lehrende. Dass von einigen Methoden, welche diese ›historisch informierten Musiktheorie‹ hierzulande zu rekonstruieren versucht hat, in Frankreich mancherlei Aspekte nach wie vor überdauern, zeigt Robert Christoph Bauer (Freiburg) in seinem Kommentar zu Isabelle Duhas Le langage musical en liberté (Paris 2021) – eine Quelle zur französischen Partimento-Tradition, deren ›ungeschriebene Gesetze‹ Bauer als Schüler der Autorin am Pariser Conservatoire persönlich hat erfahren können.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren für die produktive Zusammenarbeit in den letzten Monaten. Ein herzlicher Dank geht auch an alle Beteiligten der vorausgegangenen Peer-Review-Verfahren sowie an die Jurymitglieder des 13. Aufsatz-Wettbewerbs der GMTH im vergangenen Jahr. Im Besonderen danken wir Jakob Schermann und Anne Ewing-Greinecker für das Korrektorat, Werner Eickhoff-Maschitzki für die Vorbereitung der Grafiken und Dieter Kleinrath für das Erstellen der PDF-Fassung dieser Ausgabe.

Hans Aerts, Martin Grabow, Cosima Linke

Anmerkungen

1

Neben dem ›Klassiker‹ Kühn 2006 stechen hier im letzten Jahrzehnt etwa Weidner 2015 sowie Aydintan/Krämer/Spatz 2021 heraus; letztere Veröffentlichung sei hier stellvertretend für historisch informierte Ansätze in der Musiktheorie genannt, deren inhaltliche Ausrichtung in der Regel auch mit einer bestimmten Methodik einhergeht.

2

Vgl. Sprau/Weidner 2014.

Literatur

Aydintan, Marcus / Laura Krämer / Tanja Spatz (Hg.) (2021), Solmisation, Improvisation, Generalbass. Historische Lehrmethoden für das heutige Musiklernen, Hildesheim: Olms.

Kühn, Clemens (2006), Musiktheorie unterrichten – Musik vermitteln, Kassel: Bärenreiter.

Sprau, Kilian / Verena Weidner (2014), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 11/2, 173–175. https://doi.org/10.31751/764

Weidner, Verena (2015), Musikpädagogik und Musiktheorie. Systemtheoretische Betrachtungen einer problematischen Beziehung, Münster: Waxmann.

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