Editorial
Kompositionen, die neben dem Klang noch andere Medien miteinbeziehen, sind selbstverständlich kein historisch neues Phänomen. Doch hat das multimediale kompositorische Arbeiten – z. B. mit Musik und Videoprojektion – im 21. Jahrhundert eine immer größere Verbreitung erfahren, was nicht überraschen mag in einer Zeit, die gerne als ›visual age‹ oder ›digital age‹ charakterisiert wird.[1] Für die Musikforschung gehen die neu entstandenen multimedialen Gattungen mit der Herausforderung einher, bei der analytischen Beschäftigung mit den Stücken die verschiedenen medialen Schichten nicht nur gesondert − was zum Teil methodische und konzeptuelle Anleihen bei anderen Disziplinen wie der Kunst- und Filmwissenschaft erfordert −, sondern auch in ihrer spezifischen Konstellation und Wechselwirkung zu studieren.
Den Impuls zu diesem Themenheft gab also weniger die Frage nach den historischen Bedingungen multimedialer Kompositionen, wie z. B. die kontinuierliche Erweiterung dessen, was als komponierbares ›Material‹ gilt, oder die zunehmende Durchlässigkeit der Grenzen der verschiedenen Kunstarten. Vielmehr reagiert das Heft auf das Forschungsdesiderat,[2] zu prüfen, welche Analyse- und Interpretationsmethoden, welche Begriffe und Kategorien sich dazu eignen, medienintegrative (z. B. genuin audiovisuelle Werke) zu beschreiben und analytisch verständlich zu machen, und welche Konzepte aus anderen Disziplinen sich zu diesem Zweck produktiv machen lassen.
Die drei Beiträge in diesem Heft zum Thema »Analyse multimedialer Kompositionen« sind Fallstudien zu Werken der Komponisten Michel van der Aa (*1970) und Alexander Schubert (*1979). Elisabeth van Treeck setzt sich mit der multimedialen Kammeroper Blank Out (2015/16) von Michel van der Aa auseinander und untersucht, wie Live-Gesang, Soundeinspielungen, Bühnengeschehen, Filmprojektionen und Live-Videos zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dass die Medien dabei nicht neutral im Hintergrund bleiben, sondern selbst in ihrer Materialität und Differenz hervortreten, macht sie anhand des Konzepts der ›hypermediacy‹ greifbar.
Krystoffer Dreps nähert sich in mehrfacher Perspektivierung Alexander Schuberts Sensate Focus (2014) an, einem ›wilden Spektakel‹ für vier Instrumentalist:innen, Live-Elektronik und animiertes Licht. Stehen strukturelle und klangliche Zusammenhänge im Werk sowie Schuberts (Verwirr-)Spiel auf unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen im Zentrum der Analyse, so richtet Dreps besonderes Augenmerk auch auf produktionsästhetische Aspekte, denen er im Sinne eines nachschaffenden reverse engineering durch das Nachkonstruieren und -formen von Klangereignissen wie auch daraus zusammengesetzter formaler Strukturen mit der Produktionssoftware Ableton Live nachspürt.
Auch der Beitrag von Simon Tönies befasst sich mit einem Stück von Alexander Schubert, nämlich der 2021 uraufgeführten Komposition Convergence für Streichensemble und KI-System. Tönies begreift dieses multimediale Stück als Beispiel für eine Kunst, die sich als »Konstellation von menschlichen und nichtmenschlichen Aktanten« artikuliert, sodass er seine analytischen Beobachtungen mit Ansätzen der posthumanistischen Theorie verknüpft.
Die Aufsätze zum Themenschwerpunkt werden in dieser Ausgabe ergänzt durch zwei freie Beiträge, die 2022 beim Aufsatz-Wettbewerb der Gesellschaft für Musiktheorie prämiert wurden. Pascal Rudolph analysiert den formanalytischen Diskurs über das Orchestervorspiel zu Richard Wagners Tristan und Isolde und arbeitet verschiedene musikanalytische Denkfiguren zur räumlichen Repräsentation und sprachlichen Vermittlung formaler Gestaltungsaspekte des Vorspiels heraus.
Giovanni Michelini widmet sich der Transkriptions- und Verzierungspraxis des Intabulierens im 16. und 17. Jahrhundert, die er theoretisch anhand von Girolamo Dirutas Abhandlung Il Transilvano sowie praktisch am Beispiel zweier Umschriften des Madrigals Ancidetemi pur durch Ascanio Mayone und Girolamo Frescobaldi rekonstruiert. Dabei hebt der Autor die Bedeutung dieser Praxis im Prozess der Verselbstständigung der Instrumentalmusik hervor.
Drei Rezensionen runden diese Ausgabe ab. Julia Freund bespricht mit Bezug zum Themenschwerpunkt einen von Rei Nakamura, Marion Saxer und Simon Tönies herausgegebenen Sammelband, der sich mit multimedialen Klavierkompositionen unter verschiedenen Gesichtspunkten auseinandersetzt. Cosima Linke rezensiert Arabella Pares Studie zu den Klaviersonatenfragmenten Franz Schuberts. Ullrich Scheideler stellt Tobias Robert Kleins Ausgabe der Briefe vor, die Carl Dahlhaus in den Jahren von 1945 bis 1989 verfasste.
Wir danken allen Autor:innen und Rezensent:innen für ihre Beiträge, ihr Engagement und die produktive Zusammenarbeit in den letzten Monaten. Ein herzlicher Dank geht auch an die Gutachter:innen aus dem vorausgegangenen Peer-Review-Verfahren für ihre sorgsame Begutachtung der Texte und ihre wertvollen Hinweise. Im Besonderen danken wir Jakob Schermann und Anne Ewing-Greinecker für das Korrektorat, Werner Eickhoff-Maschitzki für die Vorbereitung der Grafiken sowie Dieter Kleinrath für das Erstellen der PDF-Fassung.
Patrick Boenke, Julia Freund
Anmerkungen
Vgl. exemplarisch Cascelli/Morris (Hg.) 2021, Herbert/Rykowski (Hg.) 2018 oder Hracs/Seman/Virani (Hg.) 2016. | |
Für bisherige Ansätze in der Musikforschung siehe beispielhaft Cook 1998 sowie, mit Bezug auf bestimmte Komponist:innen bzw. Werkgruppen, Drees/Kogler (Hg.) 2020 und Nakamura/Saxer/Tönies (Hg.) 2021. |
Literatur
Cook, Nicholas (1998), Analysing Musical Multimedia, Oxford: Oxford University Press.
Cascelli, Antonio / Christopher Morris (Hg.) (2021), Chigiana. Journal of Musicological Studies 51 (2021) Themenheft Re-envisaging Music. Listening in the Visual Age.
Drees, Stefan / Susanen Kogler (Hg.) (2020), Kunst als Spiegel realer, virtueller und imaginärer Welten. Zum künstlerischen Schaffen Olga Neuwirths, Graz: Leykam.
Herbert, David G. / Mikolaj Rykowski (Hg.) (2018), Music Glocalization. Heritage and Innovation in a Digital Age, Newcastle: Cambridge Scholars Publishing.
Hracs, Brian J. / Michael Seman / Tarek E. Virani (Hg.) (2016), The Production and Consumption of Music in the Digital Age, New York: Routledge.
Nakamura, Rei / Marion Saxer / Simon Tönies (Hg.), Movement to Sound. Sound to Movement. Interpreting Multimedia Piano Compositions, Hofheim: Wolke 2021.
Universität für Musik und darstellende Kunst Wien [University of Music and Performing Arts Vienna]; Universität Hamburg
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