Exzentrisch geformte Klang-Landschaften
Dimensionen des Zyklischen im Lichte von 106 Tonaufnahmen von Schuberts Winterreise aus dem Zeitraum 1928–2020[1]
Christian Utz
Auf der Basis einer quantitativen und qualitativen Analyse von 106 Gesamtaufnahmen von Franz Schuberts Winterreise (1827) wird eine ausführliche Diskussion der Strategien der Ausführenden hinsichtlich der makroformalen Gestaltung dieses Zyklus vorgelegt. Hermeneutische und analytische Deutungen des Werkes machen ein Spannungsfeld von zyklischer Kohärenz und Fragmentierung sichtbar und problematisieren in vielfältiger Weise Identitätskonzepte und die Vorstellung musikalischer ›Geschlossenheit‹. Anhand der Vielzahl unterschiedlicher Transpositionsvarianten, die den Aufnahmen zugrunde liegen, wird (auch mittels Perspektiven der Neo-Riemannian Theory) eine neue Sicht auf die makroharmonische, tonartliche Anlage von Schuberts Werk geworfen und gezeigt, wie grundlegend sich bereits die Entscheidung für eine bestimmte Transpositionsfolge auf die zyklische Dramaturgie auswirken kann. Anhand einer Diskussion von Dauern, Initialtempi und Prozentanteilen (Gewichtung von Liedern und Liedgruppen innerhalb der Gesamtdauer) in den untersuchten 106 Aufnahmen werden fünf makroformale Modelle unterschieden, die in manchen Deutungen besonders prägnant realisiert werden: Rahmenmodell, Binnenmodell, Eröffnungsmodell, Finalmodell und Balancemodell. Die Diskussion bezieht statistische Verfahren ein (Korrelations- und Faktorenanalyse), aber auch qualitative Aspekte wie narrative, klangfarbliche oder semantische Facetten der Interpretation. In Bezug auf die prägenden Deutungen Dietrich Fischer-Dieskaus sowie mittels der Auswertung eines Podiumsgesprächs mit zwei Interpreten der Winterreise im Rahmen eines Workshops werden diese Aspekte abschließend im Spannungsfeld zu den Ergebnissen der quantitativen Datenanalyse erörtert. Dieser breite Blick auf die Interpretationsgeschichte und ihre nachhaltig divergierenden Tendenzen legt es nahe, auch für die Gegenwart eine stärkere Diversifizierung von Interpretationsansätzen einzufordern.
On the basis of a quantitative and qualitative analysis of 106 complete recordings of Franz Schubert’s Winterreise (1827), this article presents a detailed discussion of performers’ strategies with regard to the macroformal design of this cycle. Hermeneutic and analytical interpretations of the work reveal a tension between cyclical coherence and fragmentation, and they problematize identity concepts and the idea of “musical unity” in a variety of ways. On the basis of the multitude of transposition variants on which the recordings are based, a new view of the macroharmonic tonal structure of Schubert’s work is suggested (also drawing on Neo-Riemannian theory); it is also shown how the decision to use a certain transpositional variant may have a fundamental impact on cyclical dramaturgy. A discussion of durations, initial tempos, and percentages (weighting of songs and song groups within the total duration) in the 106 recordings examined generates a distinction between five macroformal models, which in some interpretations are implemented concisely: frame model, internal model, opening model, finale model, and balance model. The discussion includes statistical procedures (correlation and factor analysis), but also qualitative aspects such as narrative, tonal, or semantic facets of interpretation. With regard to the formative readings of the cycle by Dietrich Fischer-Dieskau, as well as by evaluating a panel discussion with two performers of Winterreise as part of a workshop, these aspects are finally explored in relation to the results of the quantitative data analysis. This broad view of the cycle’s performance history and its continuously divergent tendencies also suggests the need for a greater diversification of performative approaches in the present.
Der exzentrische Bau jener Landschaft,
darin jeder Punkt dem Mittelpunkt
gleich nah liegt, offenbart sich dem Wanderer,
der sie durchkreist, ohne fortzuschreiten:
alle Entwicklung ist ihr vollkommenes Widerspiel,
der erste Schritt liegt so nahe beim Tod wie der letzte,
und kreisend werden die dissoziierten Punkte
der Landschaft abgesucht, nicht sie selber verlassen.[2]
1. Herausforderungen einer Interpretationsforschung zu Schuberts Winterreise
Eine grundlegende Herausforderung innerhalb der Musikforschung im Allgemeinen und der Interpretations- und Performanceforschung im Besonderen kann im Zusammendenken hermeneutischer und empirischer Ansätze gesehen werden. Im Bereich der Vokalmusik und besonders des Liedrepertoires werden empirische Ansätze in breiteren Kreisen der Musikforschung wohl immer noch weniger akzeptiert als im Bereich der Instrumentalmusik, ist doch durch die Bindung der musikalischen Interpretation an Text, poetischen Gehalt, Szene oder Handlung eine inhaltlich-historisch geprägte Rahmung vorgegeben, die durch empirische Methoden allein kaum adäquat erfasst werden kann. Für einen Zyklus wie Franz Schuberts Winterreise, bei dem seit der Entstehung des Werkes eine Fülle an hermeneutischen Deutungen und Lesarten den Diskurs dominiert hat, muss dies besonders gelten. Allerdings hat Daniel Leech-Wilkinson im Rahmen des CHARM-Projekts[3] nicht zuletzt mittels empirischer Methoden anhand früher Tonaufnahmen von Schubert-Liedern gezeigt, wie radikal sich die Vorstellungen von Liedinterpretation im 20. Jahrhundert gewandelt haben.[4] Die Fokussierung von Leech-Wilkinsons Studien auf Expressivität und Ausdruck auf lokaler Ebene (»from moment to moment«) spiegelt dabei treffend die Tatsache, dass Makroform generell noch kaum zum Gegenstand der Performanceforschung geworden ist:
[…] performance style [is] intimately bound up with expressivity. Expressivity, in turn, is achieved by changes in sound from moment to moment, over and above those demanded by the composer, chosen by the performer. What makes a style is that the options performers choose for being expressive are relatively consistent within a performance, within the work of a performer, and within a geographical locale (though this is less the case now, thanks to recordings) and within a period of time (this may be more true now than before, it’s hard to tell).[5]
In der Tat haben die Forschungen des Projekts PETAL (Performing, Experiencing and Theorizing Augmented Listening) weitgehend bestätigt, dass Überlegungen in Bezug auf die Makroform komplexer Zyklen für Interpret*innen selten im Vordergrund standen und stehen, ihre Gestaltung kaum bewusst geplant wird und eher als Resultante einer Arbeit an Details denn als vorrangiger Parameter eingestuft wird.[6] Umso aufschlussreicher freilich ist ein Blick auf solche Resultanten gerade in einer Zusammenschau auf quantitative und qualitative Faktoren, wie sie die folgende Untersuchung unternimmt. Die Frage der Intentionalität der Interpret*innen kann (und soll) dabei zwar nicht gänzlich ausgeblendet werden, der Fokus wird aber auf eine sich im Hörresultat darbietende dramaturgische Ausgestaltung der zyklischen Makroform gerichtet bzw. auf die Wechselwirkungen zwischen lokalen, mikroformalen Ebenen und der makroformalen Struktur. Im Sinne eines Verständnisses von klanglicher Interpretation als »Formanalyse in Echtzeit«[7] wird dabei das komplexe Zusammenwirken von zahlreichen Faktoren mitbedacht, wie sie einen so vielschichtigen Prozess wie die musikalisch-klangliche Interpretation auszeichnen: Die unschematische und dadurch in vieler Hinsicht ›unvoraushörbare‹ Kombination unterschiedlicher Text-, Symbol- und Ausdrucksbenenen, Tonarten, Taktarten, Tempo- und Formarchitekturen in der Winterreise wird von jedem Performer-Duo neu und anders ›aktualisiert‹ – im Spannungsfeld zu bestehenden Aufführungs- und Gattungstraditionen. Diese wenig kontroverse Prämisse wird durch den quantitativ-empirischen Schwerpunkt der folgenden Diskussion zugleich grundsätzlich hinterfragt, da keineswegs eindeutig ist, wie genau sich einzelne ›Traditionen‹ der Winterreise-Interpretation und ihr historisches Fortwirken bestimmen und eingrenzen lassen.
Eine zusätzliche Herausforderung besteht in der Kommunikation oder Verknüpfung sowohl hermeneutischer als auch empirischer Untersuchungen mit der musikalischen Praxis. Einerseits sind Interpret*innen generell radikale Empiriker*innen (für Sänger*innen mag dies besonders gelten, ist doch kaum ein anderes Instrument so stark vom momentanen Befinden abhängig und damit von langjährigen physiologisch-psychologischen Erfahrungswerten geprägt wie die Stimme): Ihre Praxis ist wesentlich durch das bestimmt, was sich ›gut anfühlt‹, was im Konzert ›funktioniert‹ und sich einem Publikum überzeugend vermitteln lässt, aber natürlich auch durch das, was in einer spezifischen Mischung solcher Erfahrungswerte mit historischen und analytischen Überlegungen als einem Werk gegenüber ›angemessen‹ empfunden wird. Andererseits ist spätestens seit den verschiedenen Wellen der historisch informierten Aufführungspraxis im 20. Jahrhundert klangliche Interpretation selbst historisiert worden – eine kritische Selbstreflexion und mitunter Kritik aktueller Aufführungspraxis wurde dabei in der Regel gezielt gesucht oder provoziert. Im selben Zug gewannen auch philologische und zum Teil analytische Ebenen an Gewicht. In seiner Rezension von Ian Bostridges 2015 erschienenem Buch zur Winterreise[8] hebt Alfred Brendel – anlässlich der viel diskutierten Frage der rhythmischen Deutung von Schuberts Notation in der Klavierstimme von Nr. 6 »Wasserflut«[9] – etwa speziell jene (wenigen) Interpretationen hervor, die sich in einer textkritischen Weise mit den musikalischen Quellen des Zyklus befasst hätten, und er nennt dabei Julius Patzak und Jörg Demus (1964; Demus spielte den Zyklus u. a. auch 1966 mit Dietrich Fischer-Dieskau ein), Peter Pears und Benjamin Britten (1963, 1970), Peter Schreier und Sviatoslav Richter (1985) sowie natürlich die eigenen Aufnahmen mit Dietrich Fischer-Dieskau (1979, 1984, 1985) und Matthias Goerne (2003).[10]
Gewiss von grundlegenderer Bedeutung war im Vergleich zu diesem Detail die Einbeziehung des Hammerklaviers anstelle eines modernen Flügels in Aufnahmen seit dem Jahr 1980.[11] Auch wenn die Verwendung von ›period instruments‹ gewiss nicht zwingend zu ›originelleren‹ Interpretationen führt, so ist doch eine Tendenz vieler der insgesamt 29 Aufnahmen der Winterreise mit Hammerklavier zu einer Entsentimentalisierung zu erkennen, teilweise einhergehend mit einer auffälligen Verknappung bzw. Straffung der Tempi, die auch auf den weniger stark resonierenden Klang dieser Instrumente zurückgeführt werden kann. Eine Pionierrolle kam dabei gewiss der Aufnahme von David Wilson-Johnson und David Owen Norris (Broadwood Hammerklavier, 1824) aus dem Jahr 1984 zu: Nicht nur wird die Tendenz zur Entsentimentalisierung hier mit besonderer Konsequenz und Drastik betrieben, was zur kürzesten Gesamtdauer in der gesamten Aufnahmegeschichte führt (57:16/1:11:30[12]), die Interpreten präsentieren die Lieder des Zyklus auch in jener von Wilhelm Müller im Jahr 1824 veröffentlichten Reihenfolge, die bekanntlich mit jener Schuberts keineswegs übereinstimmt[13] (ein seit dem 19. Jahrhundert wiederholt praktiziertes, allerdings selten auf Tonträgern dokumentiertes Verfahren[14]). Behält man die Ordnungszahlen von Schuberts Reihenfolge bei, so lag bei Müller folgende Reihenfolge der Gedichte vor: 1–5, 13, 6–8, 14–21, 9–10, 23, 11–12, 22, 24. »Mut!« wird als vorletztes Gedicht bei Müller Wendepunkt hin zu einer Hinwendung ins Diesseits, nachdem die Gedichte der Transzendenz und Todessehnsucht ›überwunden‹ sind. Nahezu unvermeidlich scheint vor dem Hintergrund dieser alternativen Reihung also eine hermeneutische Neudeutung des Zyklusnarrativs:
[David Wilson-Johnson und David Owen Norris] are the first team to challenge adequately any of the timeworn assumptions made about Schubert’s protagonist. Not a jilted romantic, but more a cynical child of our time, he is shown wary of commitment to anything, including his own emotions. […] Through it all, he becomes more positive, more powerful, more ironically self-conscious. Grimly amused at his posturing, rather than consumed with self-pity in songs like 3 and 16, his is nearer the dissociation of a seventeenth-century sensibility than the romantic identification of the early nineteenth. The interesting thing, though, is that on repeated listenings this cynical young man finds a yet more chilling heart of darkness in the work.[15]
Die Dekonstruktion des narzisstisch in sein Leid verstrickten romantischen Subjekts findet eine kaum weniger pointierte Ausformulierung in Slavoj Žižeks Kontextualisierung der berühmten frühen Gesamtaufnahme der Winterreise durch Hans Hotter und Michael Raucheisen (1942) mit dem Stalingradfeldzug der deutschen Wehrmacht. Aufbauend auf der prekären Unterscheidung zwischen Lenins vermeintlicher Sensibilität für den »irreduziblen Antagonismus der Kunst innerhalb des politischen Machtkampfes« und der »problemlosen Verbindung von Hochkultur und politischer Barbarei« im Nationalsozialismus,[16] imaginiert Žižek die Wirkung der Hotter-Raucheisen-Aufnahme auf die Wehrmachtssoldaten, die in einer Art verzweifelter Identifikation mit Schuberts Protagonisten nicht anders können als »die eigenen Ohren gegenüber den Klagen des Herzens zu verschließen, und die schwere Bürde des Verhängnisses in einer von den Göttern verlassenen Welt anzunehmen.«[17] Žižek intendiert, die »[falsche] Position des tragischen romantischen Helden« aufzuzeigen, »der sich narzißtisch auf sein eigenes Leiden und seine Verzweiflung konzentriert und diese zu einer Quelle perversen Vergnügens erhebt«, und sieht darin einen »ideologische[n] Schutzschirm, der das eigentliche Trauma der umfassenderen historischen Realität kaschiert.«[18] Man muss Žižek nicht in jeder Hinsicht zustimmen, um anzuerkennen, dass das Spektrum an Deutungen des Narrativs der Winterreise keinesfalls auf Topoi der enttäuschten Liebe oder eines negativen Bildungsromans begrenzt ist und musikalische Strategien stets auch inklusive zeitgeschichtlicher Resonanzen zu hören sind.
Ein weiteres ›offenes Feld‹ in der Interpretationsgeschichte betrifft die Haltung, Farbe und semantische Kodierung des Gesangs in der Winterreise. Die mit diesen Dimensionen korrelierende Präsenz des Körpers der Interpret*innen hat besonders anhand der Rezeption von Roland Barthes’ viel zitiertem Essay zur ›Körnigkeit‹ der Stimme zu einer breiten Diskussion geführt, die für die folgenden Überlegungen zur makroformalen Gestaltung insofern relevant bleiben, als sie das Potential von exzeptionellen Momenten aufzeigen, die in einem makroformalen Prozess als besonders herausgehoben empfunden werden mögen und damit letztlich auch auf quantitativ fassbare Dimensionen wie Dauer oder Tempo bezogen werden können. Wenig verwunderlich ist, dass in jüngerer Zeit genau jene Faktoren von Dietrich Fischer-Dieskaus Gesang positiv hervorgehoben worden sind, deren Fehlen Barthes in seinem Text kritisierte: die sprachliche (oder vorsprachliche) Materialität, der »Genogesang«, mit der sich der Sänger oder die Sängerin dem Sprachklang hingibt, eine »gesungene Schrift« realisiert, ohne eine fixierte Bedeutung erzwingen zu wollen,[19] ohne semantische Übercodierung, ohne einen »Pleonasmus der Absichten«.[20] Wenn Jennifer Ronyak gerade Fischer-Dieskaus »corporeal co-performance« von Schubert-Liedern hervorhebt, so spielt sie zugleich autoethnographisch mit dem auch von Barthes vielerorts thematisierten Verhältnis zwischen den Graden der Vertrautheit mit der gesungenen Sprache und der Wahrnehmung der klanglichen Materialität.[21] Und sie spielt damit zugleich auf einen Bereich an, den etwa Lawrence Kramer anhand von Brigitte Fassbaenders erster Aufnahme der Winterreise (1988 mit Aribert Reimann) besonders hervorgehoben hat: Fassbaenders »performance aims beyond rendition and beyond appropriation to performativity in the sense of illocutionary force.«[22] Gewiss ist, dass mit der ›Einstellung‹ der Stimme in diesem Spannungsfeld von sprachlicher und musikalischer Bedeutungszuschreibung und -subversion auch unterschiedliche Grade und Dimensionen der Narrativität benannt sind, die hermeneutische und klangliche Formen der Interpretation miteinander verbinden können (vgl. 2.).
Wenn damit einleitend kursorisch einige Spannungsfelder der Interpretationsgeschichte und -ästhetik der Winterreise angedeutet sind, so soll der folgende zweite Abschnitt zunächst einen Versuch machen, historische und analytische Perspektiven auf Schuberts Zyklus mit Fragen der klanglichen Interpretation zu verknüpfen. Dabei werden Basiskategorien entwickelt, die in den Abschnitten 3 und 4 dann einer Diskussion von Daten zu gewählten Tonarten, Tempi und Dauern in 106 gemessenen Gesamtaufnahmen der Winterreise zugrunde liegen. In den abschließenden Ausblick (5.) fließen schließlich auch Diskussionen eines Workshops ein, der im März 2020 im Rahmen des Forschungsprojekts PETAL mit zwei Interpreten der Winterreise abgehalten wurde.
2. Spiel-Räume einer klanglichen Interpretation der Winterreise: Dissoziation und Kohärenz
In dem Sample der hier herangezogenen 106 von insgesamt 408 dokumentierten vollständigen Tonaufnahmen der Winterreise des Zeitraums 1928 bis 2020 (vgl. 3., Tab. 4E) wurden nur Gesamteinspielungen berücksichtigt. Die im Rahmen unserer Forschung ins Zentrum gestellte zyklische Makroform bedingt allein aus Gründen einer adäquaten Vergleichbarkeit vollständige Aufnahmen aller 24 Lieder – wie fragmentarisch auch immer diese Aufnahmen zustande gekommen sein mögen –, vielleicht in Aufnahmesitzungen verteilt über Tage, Wochen oder gar Monate oder Jahre und ggf. sogar durch Zusammenschneiden unterschiedlicher Aufnahmesitzungen mit unterschiedlichen Pianist*innen. Ein gutes Beispiel dafür ist die früheste existierende Gesamtaufnahme mit dem Wiener Bariton Hans Duhan (1890–1971), die 1928 anlässlich von Schuberts hundertstem Todestag für HMV (His Master’s Voice) entstand. Duhan nahm zunächst 19 Lieder mit dem Pianisten Ferdinand Foll an drei Aufnahmetagen auf (27.4., 2.5. und 4.5.1928), dann über zwei Monate später (am 11.7.1928) die fünf restlichen Lieder (Nr. 16, 17, 19, 20, 23) mit der Pianistin Lene Orthmann.[23] Dass im Rahmen eines solchen Entstehungsprozesses kaum emphatische zyklische Konzeptionen umsetzbar waren, versteht sich von selbst – dies war vermutlich auch weniger die vorrangige Intention dieses Pionierprojekts als vielmehr, erstmals überhaupt ein komplettes ›Set‹ aller 24 Lieder vorzulegen, darunter Ersteinspielungen der Nummern 2, 3, 10, 16 und 19.[24] Einer emphatischen Rezeption der zyklischen Konzeption über das neue Medium stand freilich auch die sehr begrenzte Spieldauer auf einer Seite der 78er Schellackplatten entgegen: Der Zyklus wurde als Set von zwölf Platten veröffentlicht, jedes Lied passte genau auf eine Plattenseite.[25] Einzig Radioübertragungen ermöglichten eine mediale Rezeption des Zyklus ohne Unterbrechungen.
Diese Fragmentarisierung der medialen Produktion und Rezeption entspricht jener der frühen Aufführungsgeschichte, die Martin Günther und Natasha Loges eindrucksvoll dargelegt haben[26] – und die Julian Prégardien und Michael Gees dazu motivierte, eine Soirée von Julius Stockhausen und Clara Schumann vom 27.11.1862 zum Anlass für die Realisierung eines gemischten Programms (in Konzerten und auf einer CD) zu nehmen, in der die Lieder der Winterreise (vollständig und in der von Schubert festgelegten Reihenfolge) von improvisierten Klavierstücken und gemischtem Klavierrepertoire (Bach, Scarlatti, Mendelssohn Bartholdy) ›untergliedert‹ wurden.[27] Dass die frühe Aufführungspraxis (Julius Stockhausen, Clara Schumann, Amalie Joachim etc.) von Komponist*innen fixierte zyklische Anordnungen grundsätzlich nicht für verbindlich hielt und es daneben allgemeine Praxis war, einzelne Lieder aus Zyklen herauszulösen, ist als Kontrastfolie des heutigen emphatischen Verständnisses von Werkzyklen gewiss immer im Auge zu behalten.[28]
Neben diesen aufführungs- und medienhistorischen Aspekten gibt es natürlich noch viele weitere spezifisch musikalische bzw. gattungs- und entstehungsgeschichtliche Aspekte, die das Prinzip der ›Zyklizität‹ stützen, problematisieren oder relativieren können und deren (erneute) Diskussion als Rahmung der folgenden Studie angebracht ist:
(1) Liederzyklen folgen in der Regel einer nicht-konventionellen, individualisierten Form und Dramaturgie; dennoch weisen sie oft Spuren etablierter Formdramaturgien auf (Formprinzipien von Sinfonie, Sonate, Oper und anderen szenischen Formen, Reprisenmomente, Rahmenform, Eröffnungs- und Schlusstopoi), die für Aufführungspraxis und -traditionen relevant sein können.
(2) Der (auto-)biographische Aspekt ist bei Liederzyklen häufig präsent. Zyklen können als ›Tagebücher‹ verstanden werden, in denen eine Selbstreflexion durchs Komponieren besonders nachhaltig stattfindet, ohne dass die Musik naiv biographistisch gedeutet werden müsste. Zentral dabei ist, dass die meisten zyklischen Kompositionen einem ›Bottom-Up-Schaffensvorgang‹ ohne zuvor festgelegte Makroform folgen. In diesem Zusammenhang ist häufig auf die Relevanz einer frühromantischen Ästhetik des Fragments (Friedrich Schlegel, Novalis) und den Gedanken einer Vervollständigung des fragmentarischen Werkes durch Leser*in bzw. Hörer*in hingewiesen worden.[29]
(3) Viele Zyklen, so auch die Winterreise, zeigen eine gewisse Tendenz zur Flexibilität in der Anordnung der Einzelstücke, -sätze oder -lieder, selbst wenn eine scheinbar verbindliche ›Fassung letzter Hand‹ existiert: Neuordnungen und Varianten während des Schaffensprozesses und ggf. in verschiedenen Ausgaben sind eher die Regel als die Ausnahme. Auch Adaptionen von ›zyklusfremdem‹ Material finden sich häufig und stellen damit ebenfalls das Konzept zyklischer Einheit in Frage. So wird in der Winterreise etwa in Nr. 19 »Täuschung« (A-Dur) eine Arie der Troila aus Alfonso und Estrella (II. Akt, dort in H-Dur, 1821–22) als musikalisches Material verwendet.[30] Schwankende Dramaturgien sind die Folge, in denen unterschiedliche Dimensionen von Selbst- und Fremdbezügen verschachtelt sind.
(4) Jeder Liederzyklus, so auch die Winterreise, ist ein Dialogisieren mit ebenfalls zyklisch angeordneten Textvorlagen, die ihre eigene Entstehungs-, Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte aufweisen. Die Tatsache, dass Wilhelm Müller seine Winterreise in mehreren unterschiedlich angeordneten Schüben veröffentlichte, hatte eine grundlegende Auswirkung auf Schuberts Konzeption;[31] der »zerbrochne Ring« (Winterreise, Nr. 7 »Auf dem Flusse«) kann in diesem Zusammenhang als Symbol eines dissoziierenden Zyklus verstanden werden.[32]
Eine solche Problematisierung des Zyklischen macht ein Werk wie die Winterreise freilich für Interpret*innen wie Hörer*innen ganz besonders interessant. Sie weitet das Feld, auf dem ›Form‹ (verstanden im weitesten Sinn und alle Facetten von Narration und Semantik inkludierend) durch die Aufführung erzeugt bzw. hervorgebracht werden kann. Vor diesem Hintergrund können hermeneutische Interpretationsmodelle durchaus von großer Relevanz für die klangliche Interpretation sein. So kann etwa die bei Theodor W. Adorno und Barthes herausgehobene ›Richtungslosigkeit‹ des Zyklus Grundlage einer Fragmentierung der Lieder durch die Ausführenden oder zumindest einer anti-dramatischen Deutung werden, in der »jeder Punkt dem Mittelpunkt gleich nah liegt« und »der erste Schritt […] so nahe beim Tod [liegt] wie der letzte.«[33] Nach Barthes erzählen Liederzyklen
keine Liebesgeschichte, sondern nur eine Reise: Jeder Augenblick dieser Reise ist gleichsam auf sich selbst zurückgewendet, blind, jedem allgemeinen Sinn, jeder Schicksalsvorstellung, jeder geistigen Transzendenz gegenüber verschlossen: im Grunde ein reines Umherirren, ein Werden ohne Zielrichtung: das Ganze, insofern es auf einen Schlag und endlos wieder von vorne beginnen kann.[34]
Auch Martin Zenck hat in dieser Tradition die nicht-linearen, nicht-identischen Beziehungen in den Vordergrund gerückt. Er sieht die Fremdheitserfahrung des Protagonisten als grundlegend an, wobei Identitätsspiegelungen oder -mischungen (Nr. 14 »Der greise Kopf«, Nr. 24 »Der Leiermann«) eine uneinholbare Differenz konstituieren.[35] Unklar bleibt dabei, ob die Reise zurück zum Anfang führt oder mit unbestimmtem Ziel endet, wobei – nicht nur aufgrund der nicht-geschlossenen Tonartenkonzeption – die Winterreise zweifellos als früher Prototyp des offenen Schlusses in der Musikgeschichte verstanden werden kann.[36] Eine solche Auffassung bleibt gewiss nicht ohne Konsequenzen für die klangliche Umsetzung des Zyklus als Ganzem, auch über die Interpretation des letzten Liedes hinaus.[37]
Demgegenüber liegen mehrere Studien vor, die solche Tendenzen anerkennen, aber letztlich doch Techniken und Momente der zyklischen Kohärenz herausstellen. Susan Youens betont, dass es sich bei der Winterreise um kein »tightly unified work in the organicist model according to which ideas stated at the beginning germinate and become an unfolding structure« handle; der weitgehende Verzicht auf offensichtliche motivische oder melodische Korrespondenzen zwischen den Liedern entspreche der Situation des Protagonisten, »who believes, until near the end, that his journey is haphazard and without goal«, was sich auch im offenen Ende des Zyklus widerspiegle.[38] Youens hebt als verbindendes Element der Lieder besonders die »journeying figure« heraus, meist im non-legato gehaltene Ton- oder Akkordrepetitionen, die in den ›Achsenliedern‹ Nr. 1 »Gute Nacht« und Nr. 20 »Der Wegweiser« das grundlegende Material bilden, aber auch in nahezu allen anderen Liedern als Schrittsymbol aufgegriffen werden.[39] Gleichsam als Störung solcher Regelmäßigkeit sind »weak-beat accents« für Youens das grundlegende Merkmal einer einkomponierten Differenz.[40] Der Klavierpart entfaltet dabei immer wieder eine grundlegende Eigendynamik (etwa in Nr. 15 »Die Krähe« oder Nr. 18 »Der stürmische Morgen«), die über eine schlichte Begleitung weit hinaus weist und zu einer Art ›Maskierung‹ der Singstimme führt.[41]
Walther Dürr vertritt in Bezug auf die Frage zyklischer Kohärenz wohl die konventionellste Position, wobei er vier wesentliche Faktoren diskutiert, die diese Kohärenz gewährleisten sollen: der inhaltliche Zusammenhang, tonartliche Verwandtschaften oder Beziehungen, wiederkehrende (sub-)motivische Elemente und Bewegungstypen sowie ein »›Ziel‹« im Sinne einer »spezifische[n] Schlussbildung«.[42] Ein »Handlungsfaden« sei gegeben, wobei die neue Anordnung von Müllers Gedichten durch Schubert aus dem zweiten Teil des Zyklus ein »erneutes Durchleben der Wanderung, aber von erhöhtem Stand aus« mache.[43] Die Deutung der tonartlichen Beziehungen geht von einem »Affekten-Diagramm« aus, in dem die Tonarten der 24 Lieder auf Basis einer freien Adaption der Tonartencharakteristik in Christian Friedrich Daniel Schubarts Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst durch semantische Felder wie »entrückt« (E-Dur), »visionär« (A-Dur) oder »bittere Realität« (a-Moll, d-Moll, g-Moll) charakterisiert werden, wobei sowohl die Tonarten des Autographs als auch jene der Erstausgabe Berücksichtigung finden. Hingewiesen wird darüber hinaus auf vielfältige Analogien zwischen den Liedern, etwa auf die Tendenz der Grundtonart h-Moll nach C-Dur in Nr. 9 »Irrlicht« und Nr. 12 »Einsamkeit« oder die Charakterisierung des D-Dur in Nr. 1 »Gute Nacht« und Nr. 17 »Im Dorfe« als auf d-Moll bezogene »überspielte Melancholie«.[44] Ein Verweis auf die weithin übliche Praxis der Transposition und ihre grundlegenden Auswirkungen auf die Frage tonartlicher Beziehungen unterbleibt (vgl. 3.). In Bezug auf die Bewegungstypen unterscheidet Dürr zwischen »Bewegung des Wanderers (meist Schreitrhythmen)« und »Bewegung in der Umwelt (meist tänzerisch)«,[45] wobei sich beide Grundtypen immer wieder miteinander verbinden können, besonders eindringlich etwa in Nr. 15 »Die Krähe« oder in Nr. 13 »Die Post«, wo sich »Hufschlag gleichsam in Herzschlag« verwandelt.[46] Die Diskussion der (sub-)motivischen Korrespondenzen beschränkt sich auf die zentrale Funktion des semantisch vielfach deutbaren Halbtonschritts f2–e2, der nicht zuletzt (in den Tonarten der Erstausgabe) sowohl die erste als auch die letzte Gesangsphrase des Zyklus prägt. In Bezug auf diese melodisch offene Schlusswendung betont Dürr die Weigerung Schuberts mit dem Schluss »die romantische Utopie der Erlösung durch den Tod« zu inszenieren, der Tod sei hier »nicht mehr Ziel und Ende, sondern Leere und Entfremdung von sich selbst«.[47]
Den bislang gewiss anspruchsvollsten Versuch, musikanalytische Kohärenz und hermeneutische Deutung zusammenzuführen, hat Lauri Suurpää mit seinem Buch Death in Winterreise (2014) unternommen. Die Studie konzentriert sich auf die Interpretation der Lieder 14 bis 24, die sich explizit mit dem Tod auseinandersetzen, wobei auf die idyllisch-erlösende Assoziation mit dem Tod bereits in zwei Liedern des ersten Teils angespielt wird (Nr. 5 »Der Lindenbaum« und Nr. 9 »Irrlicht«).[48] Im Anschluss an Novalis und Friedrich Schlegel begreift Suurpää das Motiv des Todes in der Winterreise als Symbol für den Aufbruch in eine neue Form der Existenz.[49] Der Versuch, die Lieder mittels einer Kombination aus Schenker’scher Stimmführungsanalyse, Neo-Riemannian Theory und einer an Algirdas Julien Greimas orientierten semiotisch-narrativen Deutung zu fassen, resultiert in einem close reading des zweiten Zyklusteils, das in einer auf Barthes’ Unterscheidung narrativer Funktionen von »kernel« (noyau, ›Ader‹, verstanden als abstrakteres »narrative framework«) und »satellite« (catalyse, ›Katalyse‹, verstanden als konkretere »narrative situations«) beruhenden Synopsis zusammengeführt wird.[50] Harmonisch wird etwa, auf Basis der Tonarten der Erstausgabe, der Zusammenhang von Nr. 16 »Letzte Hoffnung« (Es-Dur) und Nr. 20 »Der Wegweiser« (g-Moll) als »kernel« klassifiziert, während die dazwischen liegenden Tonarten (Nr. 17–19: D–d–A) als »satellites« betrachtet werden. Dabei wird eine grundsätzliche Gliederung vorgenommen in die Lieder 13–19, deren Tonarten (mit Ausnahme von Nr. 16/17 Es-Dur/D-Dur) mittels gemeinsamer Töne miteinander verbunden sind, und die darauffolgenden Lieder, die dieses Kriterium nicht erfüllen und somit (mit Ausnahme von Nr. 23/24 A-Dur/a-Moll) »greater harmonic variety and distance« implizieren. In Bezug auf wiederkehrende musikalisch-poetische Topoi (z. B. das Unisono als Symbol für die »inability of the protagonist to affect his own fate« in den Liedern Nr. 14, 15, 16, 18[51]) folgert Suurpää: »the cycle includes moments of both poetic and musical discontinuity, yet such apparent fragmentariness takes place within a deeper-level unified scheme.«[52] Diese gezielte Öffnung der Deutung des Zyklus wird am Ende der Studie nochmals hervorgehoben: »any unequivocal assessment of the precise meaning of death in Winterreise is, in the end, impossible. From here on, interpretation of the cycle and its ending belongs to individual listeners, scholars, and performers.«[53]
All diesen Deutungen ist letztlich gemeinsam, dass sie so gut wie keine Aussagen über die Relevanz der entwickelten Kategorien für die klangliche Interpretation machen. Dies ist gewiss in vieler Hinsicht problematisch, ganz besonders hinsichtlich der tonartlichen und tonalen Kohärenz des Zyklus, ist doch, wie zu zeigen sein wird, die Verwendung von transponierten Fassungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel in Konzert wie Tonstudio, was eine grundlegende Revision dieses so oft angeführten Aspekts zwingend erscheinen lässt (vgl. 3.). Im Zusammenspiel dieser makroharmonischen Gestaltung, die also von den Interpret*innen gleichsam mitkomponiert wird, und der Disposition der 24 Lied-Dauern und der mit ihnen verbundenen Temponuancierungen ergibt sich ein unübersehbares Feld von Gestaltungsmöglichkeiten. Die folgende Diskussion wird dabei besonders auf die Markierung und Gewichtung einzelner Lieder oder Liedfolgen und auf kontrastierende und überleitende Gestaltungsmittel (z. B. Einbindung mehrerer Lieder in übergeordnete Tempoverläufe) eingehen und dabei lokale und nicht-lokale Verknüpfungs- oder Kontrastierungstechniken (z. B. analoge oder deutlich kontrastierende Tempoansätze für aufeinander folgende oder voneinander entfernte Lieder) besonders berücksichtigen. Zu fragen wird auch sein, wie Momente oder Eindrücke von ›Offenheit‹ und ›Geschlossenheit‹ im Spannungsfeld mit der formalen Anlage der einzelnen Lieder erzeugt werden und welche semantischen oder narratologischen Facetten durch solche Eindrücke impliziert sein können.
Um die ›Spiel-Räume‹ solcher Gestaltung zu umreißen, werden hier zunächst anhand von drei Tabellen Tempograde, verwendete Metren sowie realisierte Formprinzipien und Schlussbildungen erfasst. Tabelle 1 zeigt die 26 unterschiedlichen Tempobezeichnungen des Zyklus, geordnet vom langsamsten zum raschesten Tempo. Nr. 11 »Frühlingstraum« enthält als einziges Liedes mehr als eine Tempobezeichnung, die drei Tempi »Etwas bewegt« (Formteile A1, A2), »Schnell« (B1, B2) und »Langsam« (C1, C2) folgen im Rahmen einer dreigliedrigen Strophenform (A1B1C1–A2B2C2) kontrastierend aufeinander. Eine Korrelation mit den Metren ergibt sich wohl am deutlichsten für die vier Lieder im 6/8-Takt, die alle zu bewegten Tempi tendieren. Somit wird die Möglichkeit erkennbar, Lieder mit demselben Tempo und demselben Metrum von der Gestaltung her aufeinander zu beziehen,[54] zum anderen wird ein nicht-lineares Beziehungsnetz deutlich: So sind etwa alle fünf mit »Langsam« überschriebenen Lieder auf den ersten Teil des Zyklus begrenzt, während für den zweiten Teil zwischen (vier Mal) »Etwas langsam« und (ein Mal) »Sehr langsam« unterschieden wird. Die wenigen explizit raschen oder schnellen Tempi (Nr. 2, 4, 18, 22 sowie die kontrastierenden B-Teile von Nr. 11) fungieren, auch aufgrund ihrer großenteils kurzen Dauer, als markante Kontrastmomente in einem großformalen Verlauf, der von gemäßigten oder langsamen Tempi bestimmt wird. Eine Schlüsselrolle fällt dabei den vier mit »Mäßig« überschriebenen Liedern zu, von denen drei eine deutlich überdurchschnittliche Dauer und damit eine klare Gliederungsfunktion einnehmen (Nr. 1, 5, 20).
Tabelle 2, in der die Lieder nach metrischen Angaben geordnet sind, bietet insofern noch weitere Perspektiven, als etwa nur einmal vorkommende Metren (Nr. 3: alla breve, Nr. 9: 3/8, Nr. 17: 12/8) möglicherweise auch auf herausstechende Charaktermerkmale (und damit implizit auch Spezifika der Tempo- und Ausdrucksgestaltung) in diesen Liedern hinwiesen. So kann etwa der 3/8-Takt für Nr. 9 »Irrlicht« darauf hinweisen, dass trotz der Tempoanweisung »Langsam« ein (instabil) ›tänzelnder‹, eben ›irrlichternder‹ Charakter hier durchaus angebracht sein mag. Kein Zufall ist es wohl auch, dass Nr. 3 und Nr. 17 zu jenen Liedern gehören, bei denen die in den untersuchten Aufnahmen gewählten Tempi besonders stark divergieren (vgl. 3.).
Tabelle 1: Schubert, Winterreise, 26 Tempobezeichnungen, geordnet von langsamen zu schnellen Tempi (in Klammern [ ]: Bezeichnungen im Autograph)
Tabelle 2: Schubert, Winterreise, 26 metrische Angaben, geordnet nach Metrumtyp
Hinsichtlich nicht-linearer Beziehungen sowie linearer Verbindungen oder Kontraste zu vorangehenden oder folgenden Liedern ist zweifellos die formale Anlage der einzelnen Lieder und besonders die Art ihrer Schlussbildung (Tab. 3) von Bedeutung. Gegenüber der in der Schönen Müllerin noch dominierenden einfachen Strophenform ist das große Bemühen um Differenzierung der Form in den Liedern der Winterreise stark erkennbar (in der gedruckten Fassung finden sich nur in zwei Liedern, Nr. 1 und Nr. 6, Wiederholungssymbole, die eine Strophe bzw. Doppelstrophe mit anderem Text wiederholen lassen; im Autograph sind solche Wiederholungssymbole auch in den Liedern Nr. 11, 22 und 24 gesetzt). Eine zentrale Rolle nehmen variierte Strophenformen ein, in denen mittels Moll-Dur-Wechseln (Variante der Grundtonart, modal mixture) ein übergeordnetes Variations- oder Ritornellprinzip etabliert wird, wobei die ›Zwischenstrophen‹ in der Varianttonart deutlich als Variationen eines Grundmaterials erkennbar bleiben. Die durch solche Formstrukturen gekennzeichneten Lieder bilden eine übergeordnete Achse, die durch ihre überdurchschnittliche Ausdehnung und ihre markante Stellung im Gesamtzyklus gestützt wird: Nr. 1 »Gute Nacht«, Nr. 5 »Der Lindenbaum«, Nr. 13 »Die Post«, Nr. 20 »Der Wegweiser«, Nr. 21 »Das Wirtshaus« und Nr. 23 »Die Nebensonnen« (Nr. 18 »Der stürmische Morgen« verkürzt, der abrupten Kontrastfunktion dieses Liedes gemäß, den Moll-Dur-Kontrast auf eine viertaktige B-Dur-Phrase zu Beginn der zweiten Strophe).
Die weiteren Formen können vielleicht in Zusammenhang mit ihrer potentiellen ›Offenheit‹ (und damit Anschlussfähigkeit an die kommenden Lieder) charakterisiert werden. So könnte man etwa argumentieren, dass die reihungsartige Doppelstrophe von Nr. 11 »Frühlingstraum« zusammen mit dem verklingenden, diffusen Schluss eine besonders ungewisse Atmosphäre schafft, gleichsam ein Fragezeichen setzt. Ebenso lässt die ungewöhnliche ›Gegenbarform‹ von Nr. 12 »Einsamkeit« die Hörer*innen im Ungewissen darüber, ob das Lied tatsächlich schon zu Ende sein möge, zumal die Rückung von C-Dur nach h-Moll erst vier Takte vor Schluss erfolgt (wenn auch genau analog zum vorangehenden B1-Teil). Im Zusammenspiel von offenen und abgeschlossenen Tendenzen sticht daneben vor allem die Folge der Lieder 13 bis 17 heraus, die sich tatsächlich auch in der Analyse der Tonaufnahmen als die variabelste makroformale Phase erweisen wird (vgl. 3.). Die zyklische Wiederkehr des ins pianissimo reminiszenz- oder echoartig zurückgenommenen Anfangsmotivs in Nr. 14 »Der greise Kopf« (T. 43–44, vgl. T. 3–4) lädt dazu ein, das Motiv zugleich als Schluss von Nr. 14 wie als Eröffnung von Nr. 15 aufzufassen. Dieselbe Beziehung besteht zwischen dem ritornellartigen Schluss von Nr. 9 »Irrlicht« und dem Beginn von Nr. 10 »Rast«, wobei hier das c-Moll durch das in Nr. 9 immer wieder angestrebte C-Dur vorbereitet wird (und tatsächlich kann in der Einleitung von Nr. 10 das fortgesetzte Vagieren zwischen c-Moll und C-Dur wie ein Echo des C-Dur aus Nr. 9 erscheinen). In Nr. 16 »Letzte Hoffnung« ermöglicht die Barform im Kontext des permanent nach es-Moll vagierenden Es-Dur mit seinen chromatischen Wechselnoten (fes-es, ces-b etc.) einen unmerklichen Übergang in die rollenden Basstriller der Nr. 17 »Im Dorfe«, zumal die zweimalige Ausweichung nach B-Dur am Ende dieses Liedes (T. 36–37, 41–42) als Echo des dominantisch inszenierten Es-Dur von Nr. 16 verstanden werden kann.
Tabelle 3: Schubert, Winterreise, Formprinzipien (Moll-Dur-Wechsel innerhalb eines Formteils sind nicht erfasst) und Schlussbildungen
Diese bewusst nur angerissene Diskussion soll lediglich andeuten, welchen potenziellen Beziehungsreichtum der Zyklus für die Ausführenden anzubieten vermag. Dass in Verbindung mit dem poetischen Gehalt der gesungenen Gedichte zudem eine Fülle möglicher Narrative an solche grundlegenden Parameter angebunden werden kann, ist dabei zweifellos wesentlich. So wäre es etwa denkbar, ausgehend von der Moll-Dur-Polarität als besonders klar ›markiertem‹ Gegensatz,[55] ein narratives Konzept des Zyklus im Sinne von alternierenden ›kalten‹ und ›warmen‹ Zuständen zu entwickeln, denen freilich weniger eindeutige ›reflexive‹ Zustände zur Seite gestellt werden müssten. So umfasst das erste Lied im Sinne einer ersten Situationsbeschreibung sowohl ›kalte‹ Zustände (die »trübe« Welt, der Weg »gehüllt in Schnee«) als auch ›warme‹ (der »Traum« in der letzten Dur-Strophe), kann aber insgesamt vor allem als eine Reflexion der Ausgangssituation verstanden werden. In der Folge ist der erste Teil des Zyklus weithin durch ›kalte‹ Situationen dominiert, wobei einzig in Nr. 5 »Der Lindenbaum« und Nr. 11 »Frühlingstraum« halluzinierte ›warme‹ Atmosphären auftreten, während in Liedern wie Nr. 7 »Auf dem Flusse«, Nr. 8 »Rückblick« oder Nr. 10 »Rast« eine reflexive Ebene angedeutet ist. Diese nimmt im zweiten Teil des Zyklus deutlich an Bedeutung zu (Nr. 14–16, 20 und 22 können als vorrangig reflexiv verstanden werden), ebenso wie die ›warmen‹ musikalisch-poetischen Situationen in Liedern wie Nr. 17, 19, 21 und 23 eine eigene (Unter-)Gruppe von halluzinierten Wärmezuständen bilden. Dass solche nicht-linearen Beziehungen ein Schlüssel für das Verständnis der klingenden Interpretation sein können, werden die folgenden beiden Abschnitte zeigen.
3. Klanglandschaften in Aufnahmen der Winterreise (1): makroformale Dimensionen
Beschreibung des untersuchten Korpus
Der folgenden Diskussion liegt die Auswertung von 106 Gesamtaufnahmen der vollständigen Fassung von Schuberts Winterreise in originaler Besetzung aus dem Zeitraum 1928 bis 2020 zugrunde. Damit sind 25,98 % der zuletzt im August 2021 insgesamt diskographisch erfassten 408 Gesamtaufnahmen berücksichtigt.[56] Großenteils ist diese Diskographie auf kommerziell veröffentlichte Aufnahmen begrenzt, wobei einzelne ›private releases‹ und Konzertmitschnitte sowie ein im Rahmen des Forschungsprojekts PETAL entstandener nicht-veröffentlichter Mitschnitt (Zenkl+Breinl 2020, vgl. 5.) einbezogen sind.[57] Die Diskographie in Tabelle 4Ea enthält Basisdaten zu Interpret*innen, Stimmgattung/Instrument, Jahr der Aufnahme, Label etc. aller 408 erfassten Aufnahmen, Tabelle 4Eb bietet eine vereinfachte Darstellung der 106 analysierten Aufnahmen. Die Tabellen 4Ec und 4Ed führen Statistiken an, die die Aufnahmen nach Interpret*innen, Stimmgattungen, Jahrzehnt etc. ordnen. Mit den 408 Gesamtaufnahmen sind 317 verschiedene Sänger*innen und 322 verschiedene Pianist*innen diskographisch erfasst, analysiert wurden mit den 106 Aufnahmen die Interpretationen von 71 verschiedenen Sänger*innen und 83 verschiedenen Pianist*innen. Für die weiter unten erörterten statistischen Verfahren (Korrelations- und Faktorenanalyse) wurde das Korpus auf 71 Aufnahmen reduziert, wobei hier jede/r Sänger*in nur einmal vertreten ist, um statistische Ungenauigkeiten auszuschließen.[58] In Bezug auf die Gesamtdramaturgie des Zyklus müssen zudem die Aufnahmen Wilson-Johnson+Norris 1984, Holl+Lutz 2001 und Golser+Delaney 2004 weitgehend ausgeklammert werden, da sie die 24 Lieder in veränderten Anordnungen präsentieren und somit ihre makroformale Konzeption letztlich nicht vergleichbar ist mit jener der anderen 103 Aufnahmen, die der von Schubert festgelegten Reihenfolge folgen.[59]
Die Zahlen der Tabellen 4Ec und 4Ed erlauben einen ersten groben Blick auf die Aufnahmegeschichte. Über die Hälfte der erfassten Aufnahmen (210 von 408) entstand ab dem Jahr 2000. Dominierend sind insgesamt Aufnahmen in der Baritonlage (47,06 %), eine Entwicklung, die bereits im 19. Jahrhundert mit Johann Michael Vogl und Julius Stockhausen einsetzt,[60] wobei Dietrich Fischer-Dieskaus 14 erfasste Aufnahmen (im Zeitraum 1948–90) von weiteren Mehrfachaufnahmen durch Hermann Prey (6), Matthias Goerne (4), Thomas Bauer, Florian Boesch, Wolfgang Holzmair, Jorma Hynninen und Bernard Kruysen (je 3) ergänzt werden sowie durch die nicht weniger einflussreichen Einspielungen von Bassstimmen (Robert Holl und Hans Hotter, je 6).[61] Immerhin liegt mit 35 Einspielungen ein Prozentanteil von 8,58 % an Aufnahmen mit weiblicher Stimme vor,[62] dazu zwei (2013 und 2019 veröffentlichte) Aufnahmen durch Countertenöre. Unter den Aufnahmen sind auch 17 Videoaufnahmen, von denen zehn in das Korpus der 106 analysierten Aufnahmen aufgenommen wurden. Darunter ist nur eine Produktion, die originär für das Medium Film konzipiert ist (Fassbaender+Rieger 1995, Regie: Peter Weigl, 1995), die weiteren sind Mitschnitte von Konzertsituationen, wobei zum Teil intermediale oder szenische Ebenen ergänzend hinzutreten.[63]
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab04Ea.pdf
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab04Eb.pdf
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab04Ec.pdf
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab04Ed.pdf
Tabelle 4E: Schubert, Winterreise; a. diskografisches Verzeichnis von 408 Gesamtaufnahmen (das Korpus der 106 für diese Studie vermessenen Aufnahmen ist durch ein ›x‹ in der ersten Spalte markiert; die 71 für statistische Messungen ausgewählten Aufnahmen sind zusätzlich in der zweiten Spalte mit einem ›x‹ gekennzeichnet; die fett gesetzten Dauern in der Spalte ›durations‹ wurden im Rahmen der hier präsentierten Studie gemessen, die anderen Dauern wurden aus der Diskographie von Iain C. Phillips übernommen); b. vereinfachtes Verzeichnis der 106 vermessenen Aufnahmen ohne Detailinformationen; c. Übersicht über die mit den Aufnahmen erfassten Sänger*innen und Pianist*innen mit Anzahl der erfassten und analysierten Aufnahmen pro Interpret*in; d. Statistiken zu Stimmgattungen, Geschlecht der Sänger*innen und zu den Tasteninstrumenten in erfassten und analysierten Aufnahmen sowie Anzahl der Aufnahmen und mittlere Dauern pro Jahrzehnt
Der Vollständigkeit halber sind auch Informationen zum Lebensalter der Interpret*innen zum Zeitpunkt der Aufnahme erhoben worden, wobei hier keine vollständigen Daten vorlagen: Das Durchschnittsalter der Sänger*innen zum Zeitpunkt der Aufnahme betrug 46,66 Jahre (Alter: 23–78 Jahre,[64] dabei wurden für 357 der 408 Aufnahmen [87,5 %] die Geburtsjahre der Sänger*innen erfasst), jenes der Pianist*innen 48,02 Jahre (Alter: 22–80 Jahre, bei erfassten Geburtsjahren für 333 Aufnahmen [81,62 %]). Der jüngste diskographisch erfasste Sänger ist Dietrich Fischer-Dieskau (erste Aufnahme Fischer-Dieskau+Billing 1948, Alter: 23 Jahre), der älteste Henk Smit (Smit+Hoogland 2010, Alter: 78 Jahre; unter den gemessenen Aufnahmen Heinz Zednik, Zednik+Vorzellner 2015, Alter: 75 Jahre), der jüngste erfasste Pianist Olive Emil Wetter (Eggimann+Wetter 2002, Alter: 22 Jahre; unter den gemessenen Aufnahmen Hanns Udo Müller, Hüsch+Müller 1933, Alter: 28 Jahre), der älteste Gilbert Kalish (Scarlata+Kalish 2015, Alter: 80 Jahre; unter den gemessenen Aufnahmen Yūji Takahashi, Hatano+Takahashi 2017, Alter: 79 Jahre). Ein eventuell vermutbarer Zusammenhang zwischen Lebensalter und Tempowahl oder -konzeption besteht indes weder bei Sänger*innen noch bei Pianist*innen: Nach Alter gruppierte Mittelwerte der Gesamtdauern zeigen eher eine gegenteilige Tendenz: 1:11:45 (98 erfasste Aufnahmen mit Sänger*innen unter 40 Jahren), 1:10:07 (46 erfasste Aufnahme mit Sänger*innen über 59 Jahren), 1:11:23 (90 erfasste Aufnahmen mit Pianist*innen unter 40 Jahren) und 1:11:15 (59 erfasste Aufnahme mit Pianist*innen über 59 Jahren) im Vergleich zum Mittelwert aller erfassten 408 Aufnahmen von 1:11:30. Dieser eher anekdotische Exkurs zeigt immerhin, dass ältere Interpret*innen sich keineswegs mehrheitlich zu einer Art von Sentimentalität bei der Deutung des Zyklus verleiten lassen, ebenso wie keine Mehrheit der jüngeren mit einer Art ›Sturm-und-Drang-Konzeption‹ an den Zyklus herangeht.
Die folgenden Punktediagramme (Diag. 1a und 1b) zeigen zusammen mit den Durchschnittsgesamtdauern pro Jahrzehnt (Tab. 4Ed, rechte Spalte) ein überraschend ausgewogenes Bild, das anders als in vergleichbaren Untersuchungen von Werken des Orchester- oder Klavierrepertoires[65] keine signifikanten übergeordneten Entwicklungen hin zu längeren oder kürzeren Dauern anzeigt. Allerdings ist es unverkennbar – und diese Tendenz wurde in vielen anderen Studien bereits beobachtet und diskutiert –, dass mit einer zunehmenden Vergrößerung des Tonträgermarktes und einer damit wachsenden Anzahl von Aufnahmen auch die Spannweite der Dauern erheblich zunahm, was unschwer an der fächerartigen Öffnung beider Diagramme in den 1980er und 90er Jahren erkennbar wird. Tendenzen einzelner Interpret*innen sind bei mehreren berücksichtigten Aufnahmen aus Diagramm 1a gut ablesbar: So oszillieren die elf gemessenen Aufnahmen Fischer-Dieskaus um den Mittelwert 1:11:04 (vier liegen darüber, sieben darunter, wobei einzig die erste Aufnahme des 23-Jährigen aus dem Jahr 1948 mit 1:15:20 um deutlich mehr als zwei Minuten vom Mittelwert abweicht), während vier der fünf gemessenen Aufnahmen Holls und die vier gemessenen Aufnahmen Hotters durchweg zu langen, manchmal extrem langen Dauern tendieren. Der Einfluss der Pianist*innen muss dabei gewiss als grundlegend eingeschätzt werden (Holls Aufnahmen mit Oleg Maisenberg tendieren besonders deutlich zu extrem langen Dauern), wenn es auch auffällige Unterschiede selbst bei identischen Duos gibt (etwa Schmidt+Jansen 1990: 1:10:33 und Schmidt+Jansen 2000: 1:04:22).
Diagramm 1: Schubert, Winterreise; a. chronologisch geordnetes Punktdiagramm der Gesamtdauern aller 106 gemessenen Aufnahmen; b. chronologisch geordnetes Punktdiagramm der Gesamtdauern aller 408 diskographisch erfassten Aufnahmen; zur besseren Lesbarkeit ist dieses Diagramm auch als zweiseitige PDF-Datei verfügbar (https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Diag01.pdf)
Tonartendisposition und makroharmonische Strukturen
Wie oben ausgeführt (vgl. 2.) ist die tonale Anlage der 24 Lieder der Winterreise oft als Grundlage eines Nachweises zyklischer Kohärenz angenommen worden. Die gängige Praxis unregelmäßiger Transposition wurde dabei nicht berücksichtigt und generell liegen keine systematischen Untersuchungen zur Transpositionspraxis für diesen Zyklus vor. Dieser Abschnitt ist mithin ein notwendiger Exkurs, der den folgenden Ausführungen zu Tempo- und Dauernwerten vorangehen muss, will man die Dimension der makroharmonischen Dramaturgie nicht aus der Betrachtung ausklammern.
Die 24 Lieder von Schuberts Zyklus umfassen in der 1828 in zwei Bänden bei Haslinger erschienenen Erstausgabe insgesamt zwölf der 24 Tonarten auf acht Grundtönen,[66] darunter fünf Dur- und sieben Moll-Tonarten, wobei die Grundtonarten von 16 Liedern in Moll-Tonarten, von acht Liedern in Dur-Tonarten stehen (Grundtöne, auf denen Dur- und Moll-Tonarten gebildet werden, sind fett hervorgehoben):
c-Moll (4x)
g-Moll, A-Dur (je 3x)
a-Moll, e-Moll, d-Moll, h-Moll, Es-Dur (je 2x)
F-Dur, D-Dur, E-Dur, f-Moll (je 1x).
Von fünf Liedern (Nr. 6, 10, 12, 22, 24) existieren frühere Fassungen in anderen Tonarten (die allesamt höher liegen als die am Ende im Druck erschienenen Tonarten[67]). Berücksichtigt man diese frühen Fassungen, ergibt sich folgende Verteilung von 13 verschiedenen Tonarten auf neun Grundtönen (fis-Moll tritt hier als einzige Tonart zusätzlich zu den oben genannten auf):
d-Moll (4x)
c-Moll, A-Dur (je 3x)
a-Moll, g-Moll, h-Moll, Es-Dur (je 2x)
e-Moll, F-Dur, D-Dur, fis-Moll, E-Dur, f-Moll (je 1x).
Nun entsteht gewiss durch die Abfolge der Tonarten – im Spannungsfeld zu und in Korrespondenz mit Text, Inhalt, Symbolik, Tempo und Charakter der einzelnen Lieder – eine abwechslungsreiche Dramaturgie, die für die ästhetische Erfahrung des Zyklus grundlegend ist,[68] wobei hier jedenfalls drei wichtige Einschränkungen zu treffen sind:
(1) Wie in musikpsychologischen Studien wiederholt erörtert,[69] wird der Faktor makroformaler harmonischer Kohärenz von der Musiktheorie traditionell überschätzt. In harmonisch komplex angelegten Werken ist es selbst für Expert*innen oft nicht möglich, harmonische Verläufe durchgehend auf eine Grundtonart zu beziehen. Dies muss umso mehr gelten, wenn die Grundtonart fortgesetzt wechselt und zudem, wie in der Winterreise, auch innerhalb der Lieder mitunter rückungsartige und unkonventionelle Modulationen auftreten. Andererseits geht man sicher nicht ganz fehl, wenn man lokale Übergänge, Rückungen und Versetzungen des tonalen Zentrums als wichtigen Schlüssel einer hörenden Erfahrung des Zyklus postuliert.
(2) Die makroformale harmonische Anlage darf nicht nur auf die Grundtonarten bezogen werden, sondern muss ›sekundäre‹ harmonische Regionen innerhalb der Lieder mitberücksichtigen. Ist damit einerseits die Komplexität der zu erfassenden harmonischen Prozesse erhöht, so wird durch diese zusätzlichen Regionen der tatsächlich beim Hören erfahrbare Reichtum an Beziehungen und Kontrasten adäquater erfasst. Dieser Aspekt muss zusammengedacht werden mit jenem der Gestaltung von Zäsuren zwischen und innerhalb der Lieder in einer Aufführung. Es ist keineswegs unrealistisch zu postulieren, dass einzelne Aufführungen Zäsuren innerhalb der Lieder stärken, um lokale Kontrastwirkungen zu verstärken (etwa in der sechsteiligen Struktur von Nr. 11 »Frühlingstraum« mit ihren fortgesetzten Dur-Moll-Wechseln), während zwischen den Liedern fließende Übergänge ohne jegliche Stille-Zäsur durchaus gängig sind – etwa wenn dieselbe Tonart oder derselbe Grundton über mehrere Lieder hinweg fortgesetzt wird (so etwa in der Erstausgabe in Nr. 5–7: E-Dur, e-Moll, e-Moll sowie Nr. 14–15: c-Moll, c-Moll, Nr. 17–18: D-Dur, d-Moll und Nr. 23–24: A-Dur, a-Moll).
(3) Von Beginn der Aufführungsgeschichte an waren Transpositionen (im Liedgesang allgemein und somit natürlich auch in Interpretationen der Winterreise) weit verbreitet, wobei ›regelmäßige‹ Transpositionen, in denen sämtliche Lieder um dasselbe Intervall transponiert werden, ausgesprochen selten auftreten. Somit muss davon ausgegangen werden, dass die vorgegebene Tonartenarchitektur in den häufigsten Fällen, zum Teil in drastischer Weise, durch eine transponierte Fassung modifiziert wird. Tatsächlich zeigt die Erhebung der in den 106 untersuchten Aufnahmen verwendeten Transpositionen, dass in nur neun Aufnahmen die Tonarten der Erstausgabe, in nur fünf Aufnahmen (von drei Sängern) die Tonarten des Autographs vorliegen und nur in einer einzigen eine streng ›regelmäßige‹ Transposition der Tonarten der Erstausgabe realisiert wird (Schwarz+Schornsheim 2018 transponieren sämtliche Lieder um einen Ganzton tiefer). Somit wird, umgekehrt betrachtet, in 91 der 106 Aufnahmen (85,85 %) die Tonartenarchitektur durch Transpositionen verändert.[70]
Dabei ist bekanntlich der oft abrupte Dur-Moll-Wechsel ein weithin festgehaltenes Grundprinzip von Schuberts Personalstil, das in diesem Zyklus – innerhalb und zwischen den Liedern – in ganz besonderer Weise mit Bedeutungen aufgeladen erscheint: Dur als die Sphäre des Traums, der Illusionen und Halluzinationen und Moll als die Sphäre der Kälte, der Wirklichkeit und der feindlichen Umwelt.[71] Dazu kommen rückungsartige Verschiebungen innerhalb und zwischen den Tongeschlechtern, ein Phänomen auf das bereits die erste Rezension des Werkes im Oktober 1829 von Gottfried Wilhelm Fink in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung hinwies,[72] so etwa das prekäre ›Verrutschen‹ von e-Moll nach dis-Moll in Nr. 7 »Auf dem Flusse«, von h-Moll nach C-Dur in Nr. 9 »Irrlicht« und Nr. 12 »Einsamkeit« oder auf makroformaler Ebene die ungewöhnliche Folge h–A–a–h–Es–c in den Liedern 9–14. Dass solche mittels engstufiger Stimmführung erklärbaren Tonartenbeziehungen im Zuge der ja ganz besonders von Schuberts harmonischer Sprache ausgehenden Neo-Riemannian Theory als besonders signifikant erscheinen, könnte die gängige Praxis unregelmäßiger Transpositionen durchaus in einem problematischen Licht erscheinen lassen. Andererseits bereichern diese Transpositionen gerade auch unter solchen neuen Gesichtspunkten den Beziehungsreichtum des Werkes.
Diese Spannungsfelder sollen nun anhand der erhobenen Daten zur Transposition in den untersuchten Aufnahmen vertieft werden.[73] Hierzu bieten vier Tabellen (Tab. 5E, 6E, 7 und 8) und ein Notenbeispiel (Bsp. 1) Orientierung. Tabelle 5E ordnet die 106 Aufnahmen gemäß der Transposition der 24 Lieder, wobei die Erstausgabe als Maß gilt und Transpositionen in Halbtonschritten angegeben werden. Die farbliche Abstufung der Werte erleichtert ein Erkennen von Mustern in den Transpositionsvarianten. Diese werden in Tabelle 6E in Typen unterteilt. Nur neun Transpositionskombinationen treten mehrfach in insgesamt 57 Aufnahmen auf. Im untersuchten Korpus sind somit 58 unterschiedliche (neun mehrfach auftretende und 49 einmalige) Transpositionskombinationen erfasst. Die neun mehrfach vertretenen Grundtypen lassen sich auf fünf Grundmodelle a–e reduzieren, denen auch die 49 einmaligen Varianten zugeordnet werden können. Dabei unterscheiden sich Varianten mitunter nur sehr geringfügig durch die gewählte Transposition in ein oder zwei Liedern:
a. Autograph (hoher Tenor/Sopran) 5x (11x inkl. Varianten): Die Variante Bostridge (2x) realisiert nur vier der fünf von der Erstausgabe abweichenden Tonarten des Autographs und wählt für Nr. 12 »Einsamkeit« die Tonart h-Moll der Erstausgabe. Für die vier weiteren Varianten gilt Ähnliches. Dabei sind die zwei Varianten von Peter Schreier (Schreier+Richter 1985, Schreier+Schiff 1991) besonders auffällig, da sie (bei unterschiedlicher Orientierung an den Autograph-Tonarten) als einzige der untersuchten Aufnahmen Nr. 9 »Irrlicht« (Erstausgabe und Autograph: h-Moll) um einen Halbton nach oben transponieren (c-Moll).
b. Erstausgabe (Tenor/Sopran) 9x (10x inkl. Variante): Araiza+Lemaire 1993 versetzen Nr. 15 (c-Moll d-Moll) und 22 (g-Moll a-Moll) einen Ganzton nach oben, wobei nur für Nr. 22 diese Höhertransposition durch das Autograph überliefert ist.
c. mittlere Stimme (hoher Bariton/Mezzosopran)[74] 14x (50x inkl. Varianten): Es überwiegt eine Transposition um einen Ganzton nach unten in zehn Liedern (−2), sechs Lieder erklingen in der Originaltonart (Nr. 5, 12, 17–19, 21), fünf Lieder (Nr. 10, 14–16, 22) werden eine kleine Sekund nach unten (−1), drei Lieder (Nr. 3, 4, 13) eine kleine Terz nach unten (−3) versetzt. Die Variante Fischer-Dieskau (4x) versetzt Nr. 8 um eine große Terz (−4) statt einer großen Sekunde nach unten. Die Variante Prey+Kollo (3x)[75] unterscheidet sich nur dadurch, dass sie die Originaltonart von Nr. 22 »Mut« (g-Moll) beibehält. 29 weiteren Varianten können von der Lage her diesem Modell zugeordnet werden, wobei wie erwähnt nur ein einziges Mal eine regelmäßige Transposition auftritt (Schwarz+Schornsheim 2018: alle Lieder sind um eine große Sekund nach unten transponiert). Die Aufnahme Hatano+Takahashi 2017 weicht nur in einem Lied von dieser regelmäßigen Transposition ab (Nr. 22 »Mut« wird in der Tonart g-Moll der Erstausgabe gesungen, alle anderen Lieder sind eine große Sekund tiefer transponiert).
d. tiefe Stimme (Bariton/Mezzosopran/Alt[76]) 14x (28x inkl. Varianten): Hier besteht die Tendenz zur Transposition eine große Terz tiefer (−4), wobei nahezu alle Tonarten des Modells c einen (zusätzlichen) Ganzton nach unten transponiert werden. Ausnahmen sind Nr. 3 (−3), Nr. 13 (−4) und Nr. 22 (−2). Die Variante Holl (4x) belässt daneben Nr. 4 (−3) und Nr. 23–24 (−2) wie in Modell c.
e. sehr tiefe Stimme (Bass/Countertenor) 2x (7x inkl. Varianten[77]): In den Basstranspositionen dominiert tendenziell eine Transposition um eine Quart tiefer (−5). In dem zwei Mal von Hans Hotter realisierten Modell sind alle Tonarten des Modells d einen weiteren Halbton nach unten transponiert, mit Ausnahme von Nr. 5 (bleibt bei −2), Nr. 15 (bleibt bei −3) und Nr. 20 (bleibt bei −4) (dass der verhältnismäßig ›höheren‹ Lage dieser drei Lieder die Intention einer emphatischen Hervorhebung zugrunde liegt, kann gewiss mit einigem Recht angenommen werden). Die Aufnahme Czerwenka+Schneider 1981 realisiert mit der Ausnahme eines einzigen Liedes (Nr. 22: −3) eine regelmäßige Quarttransposition (−5 in allen anderen Liedern).
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab05E.pdf
Tabelle 5E: Schubert, Winterreise, Transpositionen in den 106 analysierten Aufnahmen, sortiert nach Abweichung von Tonarten der Erstausgabe
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab06E.pdf
Tabelle 6E: Schubert, Winterreise, Transpositionen in den 106 analysierten Aufnahmen, sortiert nach Grundtypen
Tabelle 7 schließlich zeigt eine Statistik der Transpositionen anhand der einzelnen Lieder. Deutlich ist hier die Tendenz zu einer Bewahrung der Tonarten der Erstausgabe besonders in den Nummern 5, 17–19 und 21.
Tabelle 7: Schubert, Winterreise, Transpositionen in den 106 analysierten Aufnahmen, geordnet nach den 24 Liedern; in der rechten Spalte sind die Tonarten der Erstausgabe fett gesetzt und eingerahmt, abweichende Tonarten des Autographs kursiv gesetzt und häufige Transpositionen fett gesetzt.
In Beispiel 1 werden nun die fünf Grundmodelle in Notenform dargestellt. Im Zusammenhang mit der folgenden Diskussion makroformaler Dramaturgien ist zu berücksichtigen, dass durch die Wahl der Transpositionen bereits eine gewisse Vorentscheidung bzgl. einer Markierung oder Gewichtung bestimmter Lieder oder Übergänge getroffen wird. Die mit einer erweiterten Terminologie der Neo-Riemannian Theory annotierte Folge tonaler Regionen in Modell b (Erstausgabe) zeigt an einigen Stellen besonders nachhaltige Wirkungen durch ›spektakuläre‹ Tonartenfolgen. Dies gilt besonders für die beiden hexatonic poles (H, durch drei chromatische Schritte verbundene Akkorde/Tonarten wie C-Dur – as-Moll, Verbindungen, die oft mit dem Topos des Unheimlichen oder Übersinnlichen verbunden sind[78]) zwischen den Liedern Nr. 4 »Erstarrung« und Nr. 5 »Der Lindenbaum« (c-Moll – E-Dur[79]) und Nr. 12 »Einsamkeit« und Nr. 13 »Die Post« (h-Moll – Es-Dur). Eine vergleichbare Wirkung erzeugt die PRP-Transformation[80] c-Moll – A-Dur von Nr. 10 »Rast« zu Nr. 11 »Frühlingstraum«.
In allen drei Fällen wird durch die Entfernung der unmittelbar aufeinanderfolgenden Tonarten der Charakter der Dur-Lieder Nr. 5, 11 und 13 besonders stark mit dem Vorangehenden kontrastiert und damit in eine ›neue Sphäre‹ (des Traums, der Halluzinationen) entrückt. Zum anderen gilt dies für rückungsartige Verschiebungen der Tonarten, die hier durch die Kürzel ›x‹ (Verschiebung im Abstand einer kleinen Sekunde) und ›y‹ (Verschiebung im Abstand einer großen Sekunde) bezeichnet sind. Hier sind in Modell b besonders die x-Übergänge von Nr. 9 »Irrlicht« (h-Moll) zu Nr. 10 »Rast« (c-Moll), von Nr. 16 »Letzte Hoffnung« (Es-Dur) zu Nr. 17 »Im Dorfe« (D-Dur) sowie die symmetrisch angelegten y-Übergänge der Lieder 19–23 (A-Dur – g-Moll – F-Dur – g-Moll – A-Dur) zu nennen. Betrachtet man die weiteren Übergänge, die vorwiegend auf die konventionelleren Transformationen P, R, L und N[81] und ihre maximal zweifachen Kombinationen begrenzt sind, so entsteht allein durch die Anlage der Tonarten eine klare Klang-Architektur, in der die Dur-Lieder Nr. 5, 11, 13, 19 und 23 als Scharniere dienen, deren Wirkung sich durch die vorangehenden und/oder folgenden Tonarten nachhaltig im Hörerlebnis manifestieren kann.
Beispiel 1: Schubert, Winterreise, Tonartenbeziehungen in den fünf Grundmodellen: a. Autograph, b. Erstausgabe, c. mittlere Stimme, d. tiefe Stimme, e. sehr tiefe Stimme
Was davon bleibt in den Transpositionen erhalten bzw. welche neuen Strukturen treten in diesen hinzu? In der autographen Fassung (Modell a) tritt anstelle des zweiten hexatonic pole (Nr. 12/13) eine x-Rückung (d-Moll – Es-Dur) auf, die durch die Ausweichung nach Es-Dur innerhalb von Nr. 12 vorweggenommen ist und somit vielleicht weniger überraschend, gleichsam ›vorbereitet‹ erscheint (Bostridge behält in seiner Variante die H-Beziehung bei, indem er für Nr. 12 die Tonart h-Moll von Modell b übernimmt). Bekanntlich ist in Modell a die Orientierung an einer übergeordneten Zentraltonart d-Moll [Dur] (Nr. 1, 10, 12, [17], 18) weit deutlicher erkennbar als in Modell b. Andererseits können die y-Rückungen von Nr. 19–23 in Modell b inklusive Nr. 24 »Der Leiermann« (a-Moll) durchweg auf d-Moll bezogen werden (V, iv, III, iv, V, v) und bilden so mit den auf d aufgebauten Nr. 17 »Im Dorfe« (D-Dur) und Nr. 18 »Der stürmische Morgen« (d-Moll) gleichsam eine tonal beruhigte Fläche (zumal hier auch Rückungen und Ausweichungen in der Binnenstruktur der Lieder seltener sind als im ersten Teil des Zyklus). Im Gegensatz dazu steigt in Modell a das letzte Lied einen Ganzton nach oben (Nr. 23: A-Dur – Nr. 24: h-Moll) und destabilisiert so ein durch das a-Moll von Nr. 22 und das A-Dur von Nr. 23 suggeriertes ›Festhalten‹ am Grundton a im Sinne eines offenen Schlusses.
Modell c weist demgegenüber noch weit grundlegendere Veränderungen in der Architektur der Tonarten auf. Mit einer Ausnahme handelt es sich dabei durchweg um Änderungen, die gegenüber Modell b weit konventionellere Tonartenbeziehungen herstellen und somit die effektvolle makrotonale Dramaturgie von Modell b nicht unwesentlich abschwächen – aber auch durch neue Facetten bereichern. Die Folge der Lieder Nr. 3 bis 6 erscheint hier als konventionelle a-Moll-Region in Folge eines die Lieder 1 bis 5 umfassenden Quintstiegs (Nr. 1–6: c–g–d–a–E–d), die Wirkung des ersten hexatonic pole geht damit ganz verloren. Die x-Rückung von Nr. 9 zu Nr. 10 (h-Moll – c-Moll) ist durch eine weniger frappierende y-Rückung (a-Moll – h-Moll) ersetzt, die PRP-Transformation von Nr. 10 zu Nr. 11 (c-Moll – A-Dur) durch eine konventionelle L-Transformation (h-Moll – G-Dur). Im Übergang zum zweiten Teil des Zyklus (Nr. 12–13) bleibt zwar nicht der hexatonic pole, aber immerhin die x-Rückung von Modell a (d–Es) erhalten (h–C), verliert durch ihre Spiegelung (Nr. 12–15: h–C–h–h) aber ihren herausgehobenen Charakter. Auch das bedeutsame ›Abrutschen‹ von Nr. 16 zu 17 (Es–D) ist in diesem Modell zugunsten einer lokalen Stabilisierung getilgt (Nr. 14–19: h–h–D–D–d–A). Hingegen werden am Ende des Zyklus zwei entscheidende neue Verhältnisse eingeführt: Ein neuer hexatonic pole verbindet Nr. 19 und Nr. 20 (A–f) anstelle der y-Rückung A–g und die Folge Nr. 21–23 wird als [P-]S-x[-P] ([f-Moll] – F-Dur – fis-Moll – G-Dur – [g-Moll]) weit spektakulärer gestaltet als in den originalen Fassungen. Man kann somit annehmen, dass bereits mit einer Entscheidung für Modell c eine stärker final orientierte Gewichtung vorgenommen wird (Nr. 20 »Der Wegweiser« wird durch die H-Relation besonders herausgehoben, die S-Rückung von Nr. 22 lässt den Kontrastmoment von »Mut« kurz vor Ende des Zyklus besonders ›aufleuchten‹), während bis auf einen mittels x-Rückung herausgehobenen Beginn des zweiten Zyklusteils (Nr. 12/13/14) die vorangehende Strukturierung der Tonarten weit konventioneller und somit ›flächiger‹ erscheint.
In vieler Hinsicht gilt dies auch für die Modelle d und e, die ja, wie erwähnt, nur in vereinzelten Liedern Modifikationen des Modells c vornehmen. In Modell d wird der halbtönige Kontrast der Lieder Nr. 12–14 durch die weichere y-Rückung (a–H–a) gegenüber der x-Rückung von Modell c (h–C–h) etwas abgeschwächt, die Slide-Wirkung bei Nr. 22 entfällt, sodass die Folge der Schlusstonarten nach dem hexatonic pole G–es weniger überraschungsreich wirkt (Nr. 20–24: es–Es–f–F–f). Hans Hotters Modell bringt durch die Modifikation des Schemas hier mehr Variabilität ein, wobei der hexatonic pole zu Beginn der Schlussphase entfällt und durch eine unauffälligere R-Transformation ersetzt wird (Nr. 19–24: Fis/Ges–es–D–e–E–e). Ungewöhnlich und selten (in nur acht der 106 Aufnahmen dokumentiert) ist die unregelmäßige Transposition der Lieder 14 »Der greise Kopf« und 15 »Die Krähe« (beide in den Modellen a und b in c-Moll). Hotter singt in zwei Aufnahmen Nr. 14 in as-Moll, Nr. 15 in a-Moll (und erreicht so hier den markanten Spitzenton e2), wodurch eine zusätzliche x-Beziehung eingeführt wird, die den Beginn des zweiten Zyklusteils deutlich destabilisiert (Nr. 12–16: as–B–as–a–H; die ›Wechselnote‹ für die Tonartenfolge Nr. 12–14 wird dabei aus Modell d übernommen).
Solche Beobachtungen weisen darauf hin, dass die Präferenz bestimmter Transpositionen gewiss nicht immer nur gesangstechnische Gründe hat, sondern auch Facetten eines ›mitkomponierenden‹ Gestaltens makroharmonischer Dramaturgien oftmals eine Rolle spielen dürften. Wie Tabelle 8 zeigt, ist die Wahl der Transpositionen auch innerhalb einer Sängerlaufbahn keinesfalls konstant, selbst wenn Fischer-Dieskaus Bevorzugung geringfügiger Varianten vermutlich eher gesangstechnische als konzeptionelle Gründe gehabt haben dürfte.[82]
Tabelle 8: Schubert, Winterreise, Transpositionen in den elf untersuchten Aufnahmen mit Dietrich Fischer-Dieskau
Tendenzen der zyklischen Dramaturgie: Dauern- und Tempoverhältnisse
Eine Differenzierung der erhobenen Daten zu Tempo und Dauer in den 106 Aufnahmen muss sich hier auf wenige Grundaspekte beschränken. Ziel der Diskussion ist es insgesamt, die große Variabilität der Form-Landschaften der Winterreise, wie sie durch die Ausführenden auch ohne das Vorstoßen in neue (oder alte), historische oder historisch informierte Aufführungsformate, -kontexte und -situationen hervorgebracht werden können, zu umreißen und damit auch Kriterien für eine Diskussion von besonders auffälligen, ›exzentrischen‹ Deutungen zu bieten. Der Tendenz quantitativer Forschung, vor allem die Extreme ins Auge zu fassen, soll hier durch eine differenzierende Analyse der Daten und die Diskussion von einzelnen Fallbeispielen entgegengewirkt werden. Andererseits ist es unbestreitbar, dass gerade extreme Deutungen, wie eingangs anhand von Wilson-Johnson+Norris 1984 ausgeführt, bestimmte Facetten der Interpretationsgeschichte und -ästhetik besonders deutlich verhandeln und hörbar werden lassen. Dabei steht in diesem Abschnitt gezielt eine ›globale‹ Sicht auf den Korpus im Vordergrund, die in Abschnitt 4 dann durch detaillierte Perspektiven auf einzelne Deutungen vertieft wird.
Ausgangspunkt kann die absolute Dauer der Aufnahmen sein, die bereits oben anhand der Punktediagramme (Diag. 1a und b) grobflächig erörtert wurde.[83] Dass die Gesamtdauern der vorliegenden Gesamtaufnahmen sich um bis zu fast einer halben Stunde unterscheiden, macht deutlich, wie konträr mitunter die Herangehensweisen ausfallen konnten (Minimaldauer Wilson-Johnson+Norris 1984: 0:57:16; Maximaldauer Araiza+Lemaire 1993: 1:26:33). Dabei liegt der von Araiza+Lemaire 1993 erreichte Spitzenwert nahezu fünf Minuten über der zweitlängsten Aufnahme (Holl+Maisenberg 1987: 1:21:54) und auch umgekehrt sind die Abstände zwischen den kürzesten Aufnahmen deutlich größer als jene im dicht strukturierten Mittelfeld. Eine erste Einteilung kann anhand eines Balkendiagramms (Diag. 2E) vorgenommen werden, das die Gesamtdauern in sortierter Folge darstellt. Markiert sind hier insgesamt sechs Gruppen, die unterschiedlich stark vom Mittelwert 1:11:04 abweichen:
oberhalb des Mittelwerts: (a) > +5 min., (b) ≤ +5 min. ∧ > +1 min., (c) ≤ +1 min.
unterhalb des Mittelwerts: (d) ≥ –1 min., (e) < –1 min. ∧ ≥ –5 min., (f) < −5 min.
Somit entsteht eine relativ kleine eng um den Mittelwert liegende Gruppe (c: 7 und d: 13) von 20 Aufnahmen, ein breites Mittelfeld (b: 28 und e: 30) von 58 Aufnahmen und eine wiederum kleinere Gruppe von sehr langen (a: 15) und sehr kurzen (f: 13) Aufnahmen (gesamt 28). Insgesamt liegen 50 Aufnahmen über, 56 Aufnahmen unter dem Mittelwert.
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Diag02E.pdf
Diagramm 2E: Schubert, Winterreise, Gesamtdauern der 106 Aufnahmen als sortiertes Balkendiagramm mit Markierung der sechs Gruppen a–e
Da in der folgenden Diskussion Daten zu Dauern und Tempowerten gemeinsam diskutiert werden, soll zunächst das Spektrum der gemessenen Werte für beide Parameter in Form von Kurvendiagrammen veranschaulicht werden. Die Diagramme 3 und 4 bieten Werte für die Dauer (Diag. 3) und das Initialtempo (Diag. 4) jedes Liedes, wobei hier nur Mittel-, Maximal- und Minimalwerte angegeben sind. Ergänzend dazu zeigen die großen (und schwer lesbaren) Diagramme 5E und 6E Kurvendarstellungen derselben Werte für alle 106 Aufnahmen. Die Tabellen 9E und 10E geben diese Werte in Form von farblich abgestuften Tabellenfeldern wieder (Abstufung der Werte je Lied: rot: hohe Werte, gelb: mittlere Werte, grün: niedrige Werte).
Diagramm 3: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Dauern der 24 Lieder, Mittel-, Maximal- und Minimalwerte
Diagramm 4: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Initialtempi der 24 Lieder, Mittel-, Maximal- und Minimalwerte
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Diag05E.pdf
Diagramm 5E: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Dauern der 24 Lieder, Werte aller 106 Aufnahmen und Mittelwerte
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Diag06E.pdf
Diagramm 6E: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Initialtempi der 24 Lieder, Werte aller 106 Aufnahmen und Mittelwerte
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab09E.pdf
Tabelle 9E: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Dauern der 24 Lieder und Gesamtdauer, chronologisch geordnet mit farblicher Abstufung der Werte je Lied
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab10E.pdf
Tabelle 10E: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Initialtempi der 24 Lieder, chronologisch geordnet mit farblicher Abstufung der Werte je Lied
Dauern- und Tempowerte verhalten sich natürlich grundsätzlich komplementär zueinander: Hohe Tempowerte führen zu kürzeren Dauern und umgekehrt. Dennoch ist die zusätzliche Erhebung der Tempowerte aufschlussreich, besonders in Bezug auf die Binnengestaltung der einzelnen Lieder, auf die hier durch die Werte der Temposchwankung bzw. -variabilität verwiesen wird. Aufgrund der großen Datenmenge wurden für die Messung der Tempowerte generell nur Durchschnittswerte zugrunde gelegt. Dabei bildet die Grundlage das Initialtempo, der Tempomittelwert einer ersten mittleren musikalischen Formeinheit, der als Richtwert für ein ›Grundtempo‹ des Liedes angenommen werden kann.[84] Zudem wurde für jedes Lied ein arithmetischer Tempomittelwert in Bezug auf die Gesamtdauer des Liedes erhoben, also das mittlere Tempo (mean tempo).[85] Aus dem Verhältnis von Initialtempo und mittlerem Tempo wird der Grad der Temposchwankung berechnet, der darüber Auskunft gibt, wie stabil ein Initialtempo im Verlauf eines Liedes bleibt (alle Temposchwankungswerte sind in Tabelle 11E erfasst). So liegt etwa das Initialtempo von Nr. 1 »Gute Nacht« in der Aufnahme Fischer-Dieskau+Moore 1955a, berechnet auf Grundlage der Takte 1 bis 14, bei 52,1 bpm,[86] das mittlere Tempo hingegen, berechnet auf Grundlage der Gesamtdauer des Liedes in dieser Aufnahme (330,16 Sek.) über 273 Viertel, bei 49,6 bpm. Die Temposchwankung wird definiert als Differenz von Initialtempo und mittlerem Tempo (52,1−49,6 = 2,5 bpm), ausgedrückt als Prozentanteil des mittleren Tempos: 2,5/49,6 x 100 = 5,0 %. Ein positiver Wert zeigt an, dass das Tempo nach der Initialphase (hier ab Takt 15) tendenziell abnimmt, was insgesamt (nicht nur für dieses Lied) die Regel ist, da von den meisten Interpret*innen (vor allem zum Schluss eines Liedes hin) das Tempo meist verlangsamt wird (für Nr. 2 »Die Wetterfahne« oder Nr. 4 »Erstarrung« etwa findet sich unter den 106 Aufnahmen kein einziger Negativwert). Den Maximalwert der Temposchwankung für Nr. 1 erreichen Christine Schäfer und Eric Schneider 2003 (10,01 %), die hier ein Konzept realisieren, in dem jede der vier Strophen ein anderes, zunehmend langsames Tempo erhält.[87] Grundsätzlich weisen besonders hohe oder niedrige Werte (über +10 % und unter −10 %) auf stärkere, auffällige Temposchwankungen hin.[88] Diagramm 7 zeigt die Mittelwerte der Temposchwankungen der 106 Aufnahmen für jedes Lied. Während sich die hohen Werte für Nr. 8 »Rückblick« (19,62 %) und Nr. 13 »Die Post« (10,31 %) durch eine allgemeine Tendenz zur Temporeduktion in den (dynamisch und harmonisch) kontrastierenden (Mittel-)Abschnitten erklären lassen (Nr. 8: T. 28–48, Nr. 13: T. 27–46, 72–94[89]), ist bei Nr. 16 »Letzte Hoffnung« (15,77 %) eine Korrespondenz mit der insgesamt fast improvisatorisch freien, gestischen Grundstruktur des Liedes anzunehmen, das als eines der wenigen praktisch ganz auf einen durchgehenden Bewegungsgestus verzichtet.
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab11E.pdf
Tabelle 11E: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Temposchwankungswerte der 24 Lieder, chronologisch geordnet mit farblicher Abstufung der Werte pro Lied
Diagramm 7: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Mittelwerte der Temposchwankung pro Lied
Nun kann für jede Aufnahme ein Mittelwert der 24 Absolutwerte der Temposchwankung in den einzelnen Liedern berechnet werden, der hier als ›Tempovariabilität‹ bezeichnet ist. Dieser Wert kann als allgemeines Maß für die globale Tendenz einer Aufnahme zum Rubato verstanden werden. Diagramm 8 zeigt diese Werte für alle 106 Aufnahmen in Form eines chronologischen Balkendiagramms. Überraschend ist dabei zunächst vielleicht, dass nicht vorrangig, wie vermutet, Beispiele aus der früheren Aufnahmegeschichte (vor den 1950er Jahren) besonders hohe Werte aufweisen. Vielmehr liegen einige dieser frühen Aufnahmen (Rothmüller+Gyr 1944: 6,22, Hüsch+Müller 1933: 6,28) sogar unter dem Mittelwert (6,51). Deutlich erkennbar wird ein Zusammenhang der Tempovariabilität mit der absoluten Dauer: Aufnahmen mit besonders langer Dauer zeichnen sich durch besonders hohe Variabilitätswerte aus (von der 15 längsten Aufnahmen der Gruppe a liegen 14 über dem Mittelwert, sechs dieser Aufnahmen sind unter den acht höchsten Variabilitätswerten); umgekehrt sind sehr kurze Aufnahmen durch eine sehr geringe Variabilität charakterisiert (elf der 13 kürzesten Aufnahmen der Gruppe f liegen unter dem Mittelwert, fünf dieser Aufnahmen sind unter den acht niedrigsten Variabilitätswerten). Man kann folgern, dass ein hohes Tempo insgesamt weniger Schwankungen, ein weniger ausladendes Phrasierungsrubato impliziert und damit dieser ›Reise‹ eine insgesamt stärker ›zielgerichtete‹ Grundtendenz verleiht.
Diagramm 8: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Tempovariabilität (Durchschnittswert aus allen 24 Absolutwerten der Temposchwankung in den einzelnen Liedern für jede Aufnahme)
Daneben kann für jedes Lied sowohl für die Dauern- als auch für die Tempowerte eine relative Standardabweichung bestimmt werden (angegeben als Prozentanteil des Mittelwertes).[90] Damit wird der unterschiedliche Kurvenverlauf der Diagramme 3 und 4 (bzw. 5E und 6E) erklärt, der bereits darauf hindeutet, dass bei manchen Liedern die Maximal- und Minimalwerte weit deutlicher auseinanderstreben als bei anderen. Diagramm 9 zeigt die relativen Standardabweichungen der Dauern (a) und des Initialtempos (b) für jedes Lied. Die auf starke Divergenzen zwischen den gemessenen Interpretationen verweisende besondere Häufung hoher Werte im zweiten Teil des Zyklus (Nr. 15, 16, 19, 21, 23, 24) legt nahe, dass diesen Liedern für die ›schwankenden‹ Dramaturgien eine Schlüsselrolle zufallen dürfte. Ganz besonders gilt dies für den in beiden Diagrammen herausstechenden Wert von Nr. 15 »Die Krähe«, ein Lied für das besonders divergierende Deutungen angeführt werden können (vgl. 4.). Die Diagramme legen auch nahe, dass in den Liedern mit raschen Tempi (Nr. 4, 8, 13, 18, 22) die Interpretationen deutlicher konvergieren. Beide Beobachtungen zusammen verweisen auf die große Bedeutung des zweiten Zyklusteils für die Gesamtdramaturgie.
Diagramm 9: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, relative Standardabweichung vom Mittelwert (in Prozent) a. der Dauern, b. der Initialtempi je Lied
Um nun eine erste Einteilung makroformaler Strategien vornehmen zu können, hat sich eine Arbeit mit Prozentanteilen bewährt.[91] Erhoben wurde dabei der Anteil einzelner Lied-Dauern an der Gesamtdauer der jeweiligen Aufnahme (ein Lied von 6:00 Dauer hätte einen Prozentanteil von 10 % an einer Gesamtdauer von 60:00). Tabelle 12E bietet eine Gesamtübersicht über alle erhobenen Prozentanteile der einzelnen Lieder in den 106 Aufnahmen. Der Vergleich der Prozentanteile bietet ein von den absoluten Dauern unabhängiges Kriterium der Gewichtung der einzelnen Lieder innerhalb einer Gesamtdramaturgie. Freilich werden auch hier, wie im Falle der Tempovariabilität, Zusammenhänge mit absoluter Dauer und Tempogestaltung aber stets im Auge zu behalten sein.
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab12E.pdf
Tabelle 12E: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Prozentanteile der 24 Lieder an der jeweiligen Gesamtdauer der Aufnahme, chronologisch geordnet mit farblicher Abstufung der Werte pro Lied
Dauern, Prozentanteile und Initialtempi werden in Tabelle 13 in einen Zusammenhang gebracht, wobei hier nun neben Mittel-, Maximal- und Minimalwerten (und jenen Aufnahmen, die die beiden letzteren Werte erreichen) auch die relative Standardabweichung und die relative Schwankungsbreite von Initialtempi und Dauern verzeichnet sind. Außerdem sind in der Tabellensequenz 14E.1–24 (24 Tabellen) alle vier Grundwerte (Dauer, Prozentanteil, Initialtempo, Temposchwankung) für jedes Lied nach Dauernwerten geordnet zu finden. Eine vollständige Auswertung dieser Daten kann hier nicht erfolgen, es wird aber vereinzelt auf sie zurückgegriffen werden.
Wenig verwunderlich ist, dass die ›extremen‹ Tendenzen der kürzesten und der längsten Aufnahme auch in der Auswertung vieler einzelner Lieder sichtbar sind. So erreichen Wilson-Johnson+Norris 1984 in zehn Liedern Maximalwerte des Initialtempos und in acht Liedern Minimalwerte der Dauer (hingegen keinen einzigen Minimal- oder Maximalwert bei den Prozentanteilen, was für eine verhältnismäßig durchgängige Verteilung des ›raschen‹ Zugangs spricht). Entsprechend finden sich für Araiza+Lemaire 1993 acht Maximalwerte der Dauer und drei Minimalwerte des Initialtempos (dieser niedrigere Wert lässt darauf schließen, dass sich die langen Dauern in dieser Aufnahme oft erst im Verlauf der jeweiligen Lieder, etwa durch ein kontinuierliches Retardieren, ergeben) sowie ebenfalls keine Extremwerte im Bereich der Prozentanteile.
Der Blick auf Standardabweichungen und Schwankungsbreiten lässt hier besonders die extremen Werte bei Nr. 15 »Die Krähe« herausstechen (die Schwankungsbreiten von Initialtempo und Dauer betragen hier jeweils über 100 %, die rascheste Deutung ist also mehr als doppelt so schnell bzw. weniger als halb so lang wie die langsamste). Ein Blick auf Tabelle 14E.15 (gesammelte Werte für Nr. 15 »Die Krähe«) zeigt die bereits angedeuteten großen Schwankungen zwischen den kürzesten Aufnahmen (Czerwenka+Schneider 1981: 1:15/2:01, 71,9/46,4 bpm, Schreier+Richter 1985: 1:20/2:01, 65,5/46,4 bpm) und den längsten (Lehmann+Ulanowsky 1941: 2:58/2:01, 30,2/46,4 bpm, Bostridge+Adès 2018: 3:32/2:01, 24,9/46,4 bpm), aus der die hohen Standardabweichungen resultieren (Dauern: 16,68 %, Initialtempi: 16,51 %). Dabei macht ein Vergleich der Werte deutlich, dass es sich vor allem bei den beiden längsten Aufnahmen um Sonderfälle (›outliers‹) handelt. Rechnet man diese beiden Aufnahmen aus den Werten heraus, ergeben sich (für die verbleibenden 104 Aufnahmen) Standardabweichungen von 14,53 % (Dauern) und 15,52 % (Initialtempi) sowie Schwankungsbreiten von 72,32 % (Dauern) und 82,66 % (Initaltempi) – immer noch hohe Werte, aber keine ähnlich herausstechenden Maxima. Letztlich bieten aber gerade solche Extremwerte in einzelnen Liedern Anhaltspunkte für ›zugespitzte‹ Dramaturgien, die bestimmte allgemeine Tendenzen nur in besonders auffallender Weise exemplifizieren.
Tabelle 13: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Mittel-, Maximal- und Minimalwerte von Dauern, Prozentanteilen und Initialtempi mit Identifikation der entsprechenden Aufnahmen sowie Standardabweichung und Schwankungsbreite von Initialtempo und Dauer
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab14E.1-24.pdf
Tabelle 14E.1–24: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Dauer, Prozentanteil, Initialtempo und Temposchwankung für jedes Lied, geordnet nach Dauernwerten
Die Tabellen 15E bis 17E dokumentieren statistische Berechnungen zu den gemessenen Dauernwerten, die mit der Software SPSS durchgeführt wurden. Zweck dieser Messungen ist ein Vergleich der globalen Verläufe der Lieddauern (Tempowerte fanden hier keine Berücksichtigung). Die statistischen Berechnungen wurden sowohl für das reduzierte Korpus von 71 Aufnahmen durchgeführt, in dem jede*r Sänger*in nur einmal vertreten ist, als auch für alle 106 Aufnahmen. Dabei wurden relative Abweichungen vom Mittelwert der Dauer jedes Liedes als Grundlage genommen. So weicht etwa die Dauer von Nr. 1 »Gute Nacht« in der Aufnahme Hotter+Raucheisen 1942 (6:30 bzw. 389,72 Sek.) vom Mittelwert M71 (5:35 bzw. 335,00 Sek.) um den Faktor 1,1633 (= 389,72/335,00) ab, liegt also 16,33 % über dem Mittelwert. Im Falle des vollständigen Korpus der 106 Aufnahmen beträgt dieser Faktor 1,1527 (bei einem Mittelwert M106 von 5:38 bzw. 338,09 Sek.). Auf der Basis dieser Werte wurden Korrelationskoeffizienten zwischen allen Aufnahmen berechnet (Pearson-Korrelation) und eine Faktorenanalyse durchgeführt, wobei die fünf wichtigsten Faktoren berücksichtigt wurden.
Auch diese Daten können hier nicht vollständig ausgewertet werden, sie dienen aber in Abschnitt 4 bei der Diskussion der makroformalen Modelle als Grundlage einer Auswahl von Vergleichsaufnahmen. Die großformatige Tabelle 15E zeigt die Korrelationskoeffizienten für das vollständige Korpus der 106 Aufnahmen. Für die Aufnahme Duhan+Foll 1928 ergibt sich hierbei etwa eine maximale positive Korrelation mit der Aufnahme Bogtman+Nobel 1954 (+0,657) und eine minimale negative Korrelation mit der Aufnahme Goerne+Hinterhäuser 2014 (−0,741), was auf eine gegenläufige Dramaturgie hindeutet (Goerne und Hinterhäuser nehmen tendenziell also das Tempo jener Lieder schneller, die bei Duhan und Foll eher langsam interpretiert werden, und umgekehrt). Mit Aufnahmen wie Boesch+Martineau 2011 (0,006) oder Quasthoff+Barenboim 2005 (0,007) lässt sich für Duhan+Foll 1928 de facto gar keine Korrelation nachweisen.
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab15E.pdf
Tabelle 15E: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Korrelationsmatrix auf der Basis der Abweichungen der 24 Lieddauern von den jeweiligen Mittelwerten. Die Matrix enthält Korrelationskoeffizienten, die den Grad der Korrelation (Ähnlichkeit) zwischen zwei Aufnahmen anzeigen (maximale positive Korrelation 1,000, minimale Korrelation 0,000, minimale negative Korrelation –1,000).
Die in Tabellen 16E und 17E dargestellten fünf Faktoren können in Abschnitt 4 teilweise im Zusammenhang mit den makroformalen Modellen interpretiert werden. Sie stehen für gemeinsame Tendenzen im Gesamtverlauf der 24 Lied-Dauern in den verschiedenen Einspielungen, wobei hier die Daten für das reduzierte Korpus der 71 Aufnahmen aufgrund der geringeren Streuung aussagekräftiger sind.[92] Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass Aufnahmen, die hohe Werte für denselben Faktor erreichen, ähnliche globale Tendenzen im Dauernverlauf ausprägen. Der rechten Spalte von Tabelle 16E etwa lässt sich entnehmen, dass Aufnahmen mit hohen Werten für Faktor 5 (etwa größer als 0,405) alle eine gemeinsame Tendenz aufweisen, die auf Grundlage einer Analyse der Prozentanteile als Tendenz zu einem Eröffnungsmodell konkretisiert werden kann (vgl. 4., Tab. 22).
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab16E.pdf
Tabelle 16E: Schubert, Winterreise, 71 Aufnahmen (jede/r Sänger*in ist nur einmal vertreten), Faktorenanalyse, Patternmatrix. Die Aufnahmen sind für jeden der fünf wichtigsten Faktoren den Werten entsprechend geordnet.
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab17E.pdf
Tabelle 17E: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Faktorenanalyse, Patternmatrix. Die Aufnahmen sind für jeden der fünf wichtigsten Faktoren den Werten entsprechend geordnet.
4. Klanglandschaften in Aufnahmen der Winterreise (2): Makroformale Modelle der Zyklusgestaltung
Vor dem Hintergrund dieser globalen Betrachtungen sollen nun konkret und ausführlich einzelne klangliche Deutungen der Winterreise betrachtet und mittels Tabellen, Diagrammen und Audiobeispielen veranschaulicht werden. Als Vergleichsbasis dient dabei vor allem die Gesamtdramaturgie, wie sie durch die Prozentanteile der einzelnen Lieder repräsentiert wird. Zur besseren Vergleichbarkeit wurden Prozentanteile für großformale ›Phasen‹ des Zyklus berechnet, denen eine pragmatische Gliederung der 24 Lieder in vier Abteilungen (I–IV) zu 5–7–7–5 Liedern zugrunde liegt. Diese Gliederung lässt sich durch eine Vielzahl von musikalisch-formalen Überlegungen rechtfertigen, nicht zuletzt durch die oben dargestellten makroharmonischen Strukturen (freilich mit unterschiedlichen Nuancen je nach Transposition). Grundsätzlich können die ja eng mit dem Schaffensprozess zusammenhängende, musikalisch markant inszenierte Zweiteiligkeit mit der Zäsur Nr. 12/13, die herausragende Stellung der Nr. 5 »Der Lindenbaum« (als Abschluss einer Eröffnungsphase) und die Reprisen- und Conclusio-Funktion der Nr. 20 »Der Wegweiser« (als Beginn einer Schlussphase) durchaus als plausible makroformale ›Pfeiler‹ der zyklischen Form vorausgesetzt werden, wobei, wie erwähnt, Nr. 20 mittels der »journeying figure« auf Nr. 1 zurückverweist.[93] Diese Gliederung kann unschwer mit den unter Abschnitt 2 erörterten narrativen Grundstrukturen verbunden werden: I. Eröffnung: kalte Wirklichkeit bis zum ersten Traumbild (Lindenbaum), II. Kälte und Konfrontation mit der abweisenden Umwelt, weitere Halluzinationen, III. verstärkte Halluzinationen und Todesahnung, Zunahme der reflexiven Ebene, IV. transzendente Bilder, offener Schluss mit Rückkehr zur Wirklichkeit.
Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass – auch bei Beibehaltung der Reihenfolge Schuberts – nicht zahlreiche andere Gliederungsprinzipien denkbar sind und auch tatsächlich in den Aufnahmen realisiert wurden. So steht diese Gliederung etwa quer zur bereits oben erwähnten Kontinuität des Grundtons in Transpositionsmodell b (Erstausgabe) in den Liedern 5–7 (E-Dur – e-Moll – e–Moll). Somit wird die Option sichtbar, eine erweiterte ›Eröffnungsphase‹ bis inklusive dem siebten Lied zu konzipieren – eine Option, die besonders in Konzeptionen plausibel wird, in denen die Lieder 6 und 7 mit Nr. 5 in eine übergeordnete Tempostruktur eingebunden sind, die ggf. bereits zuvor, etwa in Nr. 4 »Erstarrung«, einsetzen kann (vgl. hierzu einige Beispiele des Finalmodells unten). Die Annahme einer Vierteiligkeit dient in jedem Fall vorerst lediglich als ein pragmatischer Vergleichsrahmen.
Auf der Basis sortierter Daten lassen sich makroformale Modelle gut differenzieren. Die Mittelwerte M106 der Prozentanteile der vier Phasen sind 24,46–32,00–20,77–22,76 %. Tabelle 18E zeigt einen Gesamtüberblick über Dauern und Prozentanteile der vier Phasen in allen 106 Aufnahmen mit farblich graduell abgestuften Werten, wobei die Abweichungen vom Mittelwert der Prozentanteile zusätzlich angegeben sind. Aus der Tabelle 19 lassen sich darüber hinaus auch die Aufnahmen ablesen, die Minimal- und Maximalwerte erreichen bzw. die geringsten Abweichungen von den Mittelwerten aufweisen. Dabei wurden die Werte der Aufnahme Wilson-Johnson+Norris 1984 nicht berücksichtigt (eingeklammerte Werte der Minimaldauern in Phasen II und IV), da hier aufgrund der geänderten Reihenfolge keine adäquate Vergleichbarkeit hinsichtlich der Gliederung des Zyklus gegeben ist.
https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Tab18E.pdf
Tabelle 18E: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Dauern und Prozentanteile der vier Phasen sowie Abweichungen der Prozentanteile von den Mittelwerten
Tabelle 19: Schubert, Winterreise, 106 Aufnahmen, Mittel-, Maximal- und Minimalwerte sowie Standardabweichung und Schwankungsbreite von Dauern und Prozentanteilen der vier Phasen mit Angabe der entsprechenden Aufnahmen (die eingeklammerten Werte in der Spalte ›Minimum‹ sind der Aufnahme Wilson-Johnson+Norris 1984 zuzuordnen, die hier aufgrund der geänderten Reihenfolge der Lieder in dieser Aufnahme nicht berücksichtigt wird)
Ausgehend von diesen Werten können nun fünf Modelle unterschieden werden. Grundlage hierfür sind über- oder unterdurchschnittliche Werte in der Verteilung der Prozentanteile der vier Phasen.[94] Beim Rahmenmodell haben die Phasen I+IV überdurchschnittliches Gewicht (> 48,5 % bei Maximalwert 49,32 % und Mittelwert 47,22 [24,46+22,76] %). Diesem Modell kann das Binnenmodell gegenübergestellt werden, das als Gegenpol zum Rahmenmodell die Gewichtung auf die Binnenphasen II+III legt (I+IV < 46,0 % bei Minimalwert 44,22 % und Mittelwert 47,22 %). Das Rahmenmodell kann differenziert werden in ein Eröffnungsmodell, bei dem die erste Phase gegenüber der vierten besonders stark gewichtet ist (I > 25,0 % bei Maximalwert 26,26 % und Mittelwert 24,46 % und I–IV > 3,5 % bei Maximalwert 6,12 % und Mittelwert 1,70 %), und in ein Finalmodell, das umgekehrt den Zyklusschluss gegenüber dem Anfang besonders stark heraushebt (IV > 23,5 % bei Maximalwert 25,14 % und Mittelwert 22,76 %; I–IV < 0,0 % bei Minimalwert −2,86 % und Mittelwert 1,70 %). Beim Balancemodell schließlich nähern sich alle vier Phasen den Mittelwerten an (Abweichung aller vier Mittelwerte ≤ 0,4 % und Mittelwert der vier Abweichungen ≤ 0,3 %).
Die folgende Diskussion wird jedes der fünf Modelle anhand eines Beispiels genauer charakterisieren, das den Eingrenzungskriterien am besten entspricht, wobei insgesamt drei weitere Aufnahmen zum Abgleich zusätzlich betrachtet werden: Eine weitere Aufnahme, die den Eingrenzungskriterien entspricht, aber eine deutlich unterscheidbare absolute Dauer aufweist, sowie zwei weitere Aufnahmen, die den Eingrenzungskriterien nicht entsprechen müssen, aber die höchsten positiven Korrelationen mit den zwei ausgewählten Aufnahmen erreichen. Dabei werden durch Detailbetrachtungen einzelner Lieder oder Liedsequenzen auch der Zusammenhang von Detail und Ganzem und damit die Konsequenzen der makroformalen Modelle für die narrative Gestaltung des Zyklus angesprochen. Jedes der Modelle wird anhand von Diagramm und Tabelle mit den charakteristischsten Vertretern des Modells sowie anhand von Kurven der Dauern, der Abweichungen von den Dauernmittelwerten und der Initialtempi veranschaulicht.
Rahmenmodell und Binnenmodell
Sechs Aufnahmen entsprechen den Kriterien des Rahmenmodells (Diag. 10, Tab. 20). Plausibel ist, dass fünf dieser sechs Aufnahmen eine überdurchschnittliche Gesamtdauer haben (Gruppen a–c): Um den ›Rahmen‹ des Zyklus entsprechend gewichten zu können, bedarf es gewiss (auch) einer zeitlichen Dehnung der Rahmenphasen, die freilich mit einer Verknappung der Binnenphasen II und/oder III einhergehen kann bzw. muss, wie besonders anhand der Aufnahme Schreier+Richter 1985 deutlich wird, die in Phase III (Lieder 13–19) den minimalen Prozentanteil (17,91/20,77) erreicht. Die Einspielung Fassbaender+Rieger 1995 fällt hier durch ihre kurze Gesamtdauer auf (1:05:48/1:11:04). Es handelt sich dabei um die einzige Aufnahme, die mehr als einem Modell zugeordnet werden kann: Zwar erreicht sie einen sehr hohen Wert für die Rahmenphasen (48,86/47,22), die aber sehr ungleich verteilt sind (der Wert für Phase IV liegt mit 22,60/22,76 unter dem Mittelwert). Aufgrund der sich so ergebenden hohen Differenz zwischen den Phasen I und IV (3,66 %) bieten Fassbaender und Rieger also eher ein geeignetes Beispiel für das Eröffnungsmodell. Daher soll hier nicht diese Aufnahme, sondern jene von Padmore+Lewis 2008 vergleichend herangezogen werden (sie hat eine nur um 3:23 kürzere Gesamtdauer als Schreier+Richter 1985, prägt aber das Modell deutlicher aus als Fassbaender+Rieger 1995).
Diagramm 10: Schubert, Winterreise, Aufnahmen, deren Prozentanteile den Kriterien des Rahmenmodells entsprechen (I+IV > 48,5 %; kursiv gesetzte Werte rechts neben den Balken), und zwei maximal positiv korrelierende Aufnahmen mit Gesamtdauer, Gruppenzugehörigkeit in Bezug auf die Gesamtdauer (vgl. Diag. 2E); maximale und minimale Gesamtdauern der Rahmenmodell-Aufnahmen sind fett hervorgehoben.
Tabelle 20: Schubert, Winterreise, Aufnahmen, deren Prozentanteile den Kriterien des Rahmenmodells entsprechen (I+IV > 48,5 %); Korrelationen und Faktoren: angegeben sind die maximal positiv und minimal negativ korrelierenden Aufnahmen (vgl. Tab. 15E) sowie die maximal positive / minimal negative Korrelation mit den fünf Faktoren (sowohl für das reduzierte Korpus von 71 als auch das vollständige Korpus der 106 Aufnahmen; Aufnahmen bei denen das Feld ›Faktor 71‹ leer bleibt, sind im reduzierten Korpus nicht enthalten). Falls der maximale positive Korrelationskoeffizient durch eine Aufnahme mit (einem/einer oder zwei) identischen Interpret*innen vertreten wird (was oft der Fall ist), wird stattdessen der höchste Wert einer Aufnahme mit anderen Interpret*innen angegeben. Werte über 0,7 und unter −0,7 sind fett hervorgehoben.
Diagramm 11: Schubert, Winterreise, Rahmenmodell: a. Schreier+Richter 1985 / Padmore+Lewis 2008; b. Schreier+Richter 1985 / Holl+Grubert 1995; c. Padmore+Lewis 2008 / Bostridge+Drake 1997; jeweils Dauern (oben), relative Abweichungen der Dauern vom Mittelwert (Mitte), Initialtempi (unten); zur besseren Lesbarkeit ist dieses Diagramm auch als dreiseitige PDF-Datei verfügbar (https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Diag11a-c.pdf).
Betrachten wir nun also die Aufnahmen Schreier+Richter 1985 und Padmore+Lewis 2008 (Diag. 11a) zusammen mit den jeweils maximal positiv korrelierenden Aufnahmen Holl+Grubert 1995 (Diag. 11b) und Bostridge+Drake 1997 (Diag. 11c) anhand der absoluten Lied-Dauern, der Kurve der Abweichungen von der mittleren Dauer jedes Liedes, die den statistischen Auswertungen zugrunde liegt, sowie der Kurve der Initialtempi.
Die Dehnung der Eröffnungsphase (26,14/24,46) erreichen Peter Schreier und Sviatoslav Richter durch lange Dauern in Nr. 1 »Gute Nacht« (6:22/5:38) und besonders in den langsamen Liedern 3 »Gefror’ne Tränen« und 5 »Der Lindenbaum«, die zu den Maximalwerten tendieren (Nr. 3: 2:58/2:27 bei Maximalwert 3:22; Nr. 5: 5:33/4:43 bei Maximalwert 5:47). Betrachtet man die entsprechenden Werte der Initialtempi, ist die starke Gewichtung dieser beiden Lieder sogar noch deutlicher (Nr. 3: 37,1/45,3 bei Minimaltempo 33,0; Nr. 5: Minimaltempo 40,6/53,0, Audiobsp. 1a; vgl. auch Tab. 14E.3 und 14E.5). Dies weist darauf hin, dass Schreier und Richter das Tempo im Verlauf von Nr. 5 relativ deutlich steigern, was auch durch den negativen Temposchwankungswert von –8,43 bestätigt wird. Hinzu kommt der ebenfalls sehr hohe Dauernwert von Nr. 6 »Wasserflut« (4:53/4:10 bei Maximalwert 5:14, Initialtempo 35,7/45,0 bei Minimum 35,3). In Zusammenhang mit dem von Schreier und Richter gewählten modifizierten Transpositionsmodell a (Autograph) ist zu betonen, dass Nr. 6 hierbei als eines von zwei Liedern nicht in der Autographtonart (fis-Moll), sondern in jener des Erstdrucks (e-Moll) gegeben wird. Somit entsteht durch das langsame Tempo und den gemeinsamen Grundton eine starke Kontinuität zwischen erster und zweiter Phase (Nr. 5–7: E–e–e, wobei die Dauer von Nr. 7 »Auf dem Flusse« nahe dem Mittelwert liegt: 3:28/3:33). Dadurch wird der ›vordere‹ Rahmen gedehnt und in die zweite Phase hinein verlängert. Somit wird auch die zweite Phase etwas verbreitert (32,77/32,00) und dabei das Tempo einiger Lieder stark zurückgenommen, besonders Nr. 9 »Irrlicht« (3:09/2:42; 42,0/53,1) – ein scharfer Kontrast zum rasenden Tempo von Nr. 8 »Rückblick«, wo das Initialtempo (127,1/112,9) dem Maximalwert (137,8) nahekommt (die hohe Temposchwankung von 32,54/19,82 verweist darauf, dass die Interpreten hier den Mittelteil noch deutlicher zurücknehmen als ein Großteil der anderen Interpret*innen). Die so entstehende Markierung der Zäsur Nr. 8/9 wird durch die ungewöhnliche Hochtransposition des »Irrlicht« nach c-Moll zusätzlich verstärkt (Audiobsp. 1b). Ebenso wird Nr. 12 »Einsamkeit« stark zurückgenommen (31,3/39,3 bei Minimalwert 30,4; 3:13/2:41 bei Maximalwert 3:24), was zusammen mit dem leicht erhöhten Tempo von Nr. 13 (96,9/91,1; 2:14/2:17) eine klare Zäsur zwischen den beiden Teilen des Zyklus bewirkt.
Dass trotz der unter allen Aufnahmen stärksten Gewichtung der Rahmenphasen auch der Prozentanteil der Phase II über dem Durchschnitt liegt, macht deutlich, wie sehr die Rahmendramaturgie hier durch die extreme Verknappung der Phase III erreicht wird. Besonders aus Diagramm 11a (Mitte) wird deutlich, dass die Dauern dieser Aufnahme in der dritten Phase fast alle unter dem Mittelwert liegen, mit Ausnahme der wenig darüber angesetzten Nr. 14 »Der greise Kopf« (3:06/2:58) und Nr. 19 »Täuschung« (1:34/1:22). Die extreme Gestaltung der Lieder Nr. 15 »Die Krähe« und Nr. 16 »Letzte Hoffnung« ist anhand von Diagramm 11a (Mitte) evident: Einen Dauernminimalwert erreichen Schreier+Richter bei Nr. 16 (01:34/2:10), der Wert von Nr. 15 ist der zweitkürzeste Wert (1:20/2:01, Minimalwert 1:15 bei Czerwenka+Schneider 1981); auch die Prozentanteile von Nr. 15 (1,78/2,84) und Nr. 16 (2,09/3,05) markieren Minimalwerte (vgl. Tab. 14.15). Es ist klar, dass durch dieses rasende Tempo der Lieder 15 und 16 (Audiobsp. 1c) mittels Kontrastierung auch die getragene Feierlichkeit der Lieder 20 und 21 in der Schlussphase gestärkt wird, selbst wenn hier Dauer und Tempo nur geringfügig über den Mittelwerten liegen. Die Symmetrie der Schlussphase wird auch erreicht durch die nachhaltige Dehnung von Nr. 20 »Der Wegweiser« und Nr. 24 »Der Leiermann« (Audiobsp. 1d) bei geringerer Dehnung der Lieder 21 und 23 und einer Annäherung an den Mittelwert in Nr. 22 »Mut« (1:22/1:23) (hierdurch wird also gleichsam ein zweiter Rahmen innerhalb der finalen Phase erzeugt, was anhand der Kurve in Diagramm 11a/b, Mitte sehr gut sichtbar ist).
Audiobeispiel 1: Schubert, Winterreise, Schreier+Richter 1985: a. Nr. 5 »Der Lindenbaum«, Beginn (minimales Initialtempo 40,6); b. Nr. 8 »Rückblick« (hohes Initialtempo 127,1 und Temposchwankung von 32,54) und Nr. 9 »Irrlicht«, Beginn (niedriges Initialtempo 42,0); c. Nr. 15 »Die Krähe«, Nr. 16 »Letzte Hoffnung« (sehr kurze bzw. minimale Dauern); d. Nr. 20 »Der Wegweiser«, Beginn und Nr. 24 »Der Leiermann«, Beginn
(Schubert, Winterreise, Peter Schreier, Sviatoslav Richter, CD Philips 416 194-2, 1985, © Phonogram International B.V., Tracks 5 [0:00–1:47], 8 [0:00–0:50], 9 [0:00–1:46], 15, 16, 20 [0:00–1:18], 24 [0:00–1:34])
Ohne Zweifel wird durch diese Dramaturgie eine spezifische Art der ›Geschlossenheit‹ bewirkt, die im Modell des Rahmens ja angelegt ist. Dazu tragen die Gewichtungen der Außenphasen und besonders der beiden ›Außen-Lieder‹ Nr. 1 (Prozentanteil 8,46/7,92) und Nr. 24 (5,48/5,18) bei, in Verbindung mit der zweiten Modifizierung der Tonarten von Transpositionsmodell a: »Der Leiermann« wird in der Tonart der Erstausgabe a-Moll gesungen (und nicht im h-Moll des Autographs), somit ergibt sich (zusammen mit der Autograph-Tonart für Nr. 22: a-Moll statt g-Moll) eine starke Kontinuität zum Ende hin (Nr. 20–24: g–F–a–A–a). Dabei ist für die Charakterisierung dieser historisch so einflussreichen Live-Einspielung[95] gewiss kein Begriff so ungeeignet wie jener der ›Ausgeglichenheit‹: Das Rahmenmodell wird durch einzelne extreme Tempi erreicht, in die zugleich außerordentliche Gesangs- und Klaviertimbres eingebettet sind. So entfaltet die ›krächzende‹, immer wieder ins Sprechen umschlagende Stimmgebung Schreiers bei Erwähnung der Krähe(n) in Nr. 8 und Nr. 15 im Rahmen des hohen Aktionstempos eine besonders verstörende Wirkung, im Sinne von Barthes’ Genogesang und fern aller Parodie, während die nahezu zerfallende Klangstruktur in den darauffolgenden Liedern 9 und 16 trefflich die Verwirrung des lyrischen Ichs angesichts des ›Irrlichts‹ (Nr. 9) ausdrückt und in Nr. 16 Richters rollende (Klavier-)Stürme mit beträchtlicher Kraft die letzten Blätter der Hoffnung vom Baum fegen. Es ergibt sich so ein Narrativ des Bedrohlichen, dem die gedehnten Ruhephasen in den Rahmenteilen gleichsam stoisch, aber doch ›betroffen‹, gegenüberstehen.
Im Vergleich dazu ist das Rahmenmodell bei Mark Padmore und Paul Lewis weit weniger markant ausgeprägt. Es wird in einer sehr eng um die Mittelwerte oszillierenden Dauernstruktur kaum nachhaltig bemerkbar: Bis auf zwei Lieder (Nr. 16: –11,88 %; Nr. 23: +12,82 %) weichen alle Dauern in dieser Aufnahme um weniger als 10 % vom Mittelwert ab. Dabei ist eine Tendenz zur Verknappung in den Binnenphasen II und III deutlich, wobei neben Nr. 16 einige deutlichere Verkürzungen von knapp –10 % in den Liedern Nr. 8 »Rückblick«, Nr. 13 »Die Post« und Nr. 19 »Täuschung« erreicht werden. Hingegen liegen in den Rahmenphasen bis auf die schnellen Lieder Nr. 2 (–1,36 %) und Nr. 22 (–6,10 %) alle Dauern über dem Mittelwert mit Schwerpunkten auf Nr. 1 (+8,51 %), Nr. 23 (+12,82 %) und Nr. 24 (+8,91 %). Die ›Rahmung‹ ergibt sich also durch eine Kontrastdramaturgie des ›äußeren Rahmens‹ 1–23/24 mit Binnenkontrasten vor allem bei den raschen Liedern 8–13–16–19, ergänzt durch lokal kontrastierende Gegensätze in den Liedern Nr. 2 und Nr. 22, die den äußeren Rahmen hervortreten lassen. Dabei ist jedoch in den meisten Liedern die Tempowahl so gemäßigt, dass sich kaum nachhaltige Kontrastwirkungen im Sinne makroformaler ›Marker‹ einstellen.
Natürlich zeigen die beiden hier zusätzlich herangezogenen Aufnahmen mit maximal positiver Korrelation in ihren Prozentanteilen ebenfalls leichte Tendenzen zum Rahmenmodell (Werte für Phasen I+IV: Holl+Grubert 1995: 47,27 %, Bostridge+Drake 1997: 48,07 % bei Schwellenwert 48,5 % und Mittelwert 47,22 %). Dabei fällt die Aufnahme von Holl und Grubert – bei einem unverkennbaren Parallelismus der Kurven zu jenen von Schreier+Richter 1985 (Diag. 11b) – letztlich aber dadurch aus dem Rahmenmodell heraus, dass in den ersten drei Phasen immer wieder extreme Werte aufgesucht werden: in Phase I bei Nr. 4 »Erstarrung« (maximales Initialtempo 202,1/166,2, zweitkürzeste Dauer 2:26/2:53, Audiobsp. 2a), in Phase II bei Nr. 6 »Wasserflut« (36,9/45,0 bei Minimalwert 35,3; 5:11/4:10 bei Maximalwert 5:14, Audiobsp. 2b), Nr. 8 »Rückblick« (maximales Initialtempo 137,8/112,8, drittkürzeste Dauer 1:51/2:13 bei Minimalwert 1:47, Audiobsp. 2c), Nr. 10 »Rast« (34,1/41,2 bei Minimalwert 32,9; 3:56/3:19) und in Phase III bei Nr. 14 »Der greise Kopf« (36,5/45,5 bei Minimalwert 33,4; 3:30/2:58 bei Maximalwert 3:40, Audiobsp. 2d).[96] Letztlich pendelt sich die Gewichtung der vier Phasen durch diesen Wechsel extremer Werte nahe an den Mittelwerten ein (24,17/24,46–32,46/32,00–20,27/20,77–23,09/22,76). Die Gemeinsamkeit zwischen Holl+Grubert 1995 und Schreier+Richter 1985 lässt sich als Orientierung an einer Kontrastdramaturgie beschreiben, die zwar unterschiedliche Spitzen- und Tiefpunkte aufsucht, aber in ihrem Verlauf dennoch einige grundlegende Parallelen aufweist, wobei diese Dramaturgie sich nur bei Schreier+Richter wirklich zu einem schlüssigen großformalen Modell zusammenfügt.
Audiobeispiel 2: Schubert, Winterreise, Holl+Grubert 1995: a. Nr. 4 »Erstarrung«, Beginn (maximales Initialtempo 202,1); b. Nr. 6 »Wasserflut« (niedriges Initialtempo 36,9), Beginn; c. Nr. 8 »Rückblick« (maximales Initialtempo 137,8), Beginn; d. Nr. 14 »Der greise Kopf« (niedriges Initialtempo 36,5), Beginn (Schubert, Winterreise, Robert Holl, Naum Grubert, CD Challenge Classics 72010, ℗&© 1995, Tracks 4 [0:00–0:57], 6 [0:00–1:08], 8 [0:00–0:46], 14 [0:00–1:18])
Die Aufnahme Bostridge+Drake 1997 könnte für Padmore und Lewis durchaus eine gewisse Orientierung geboten haben, was die hohe Korrelation der beiden Aufnahmen erklären könnte. Die Kurven weisen eine sehr starke Ähnlichkeit miteinander auf, wobei evident ist, wie Bostridges frühe Aufnahme gerade das Rahmenmodell meidet: Weder Nr. 1 (5:42/5:38 im Vergleich zu Padmore+Lewis 2008: 6:07/5:38) noch Nr. 23 (2:50/2:45 im Vergleich zu Padmore+Lewis 2008: 3:05/2:45) und Nr. 24 (3:23/3:41 im Vergleich zu Padmore+Lewis 2008: 4:01/3:41) sind in einer vergleichbaren Weise gedehnt. Die unablässigen Bemühungen Ian Bostridges, mit unterschiedlichen Klavierpartnern dem Zyklus Schuberts immer neue Dimensionen abzugewinnen, zeigt sich treffend darin, dass seine drei vorliegenden Einspielungen maximal positive Korrelationswerte mit Vertreter*innen dreier unterschiedlicher makroformaler Modelle aufweisen: Neben dem Rahmenmodell sind dies das Binnenmodell (hohe positive Korrelation von Bostridge+Adès 2018 zu Lehmann+Ulanowsky 1941, eine Aufnahme die allerdings nur leicht zum Binnenmodell tendiert, vgl. unten, Tab. 21) und das Balancemodell (sehr hohe positive Korrelation von Bostridge+Andsnes 2004 zu Price+Dewey 1997, vgl. unten, Tab. 24).
Das Binnenmodell wird von acht Aufnahmen vertreten (Diag. 12, Tab. 21), wobei eine Häufung von (Schellack-)Aufnahmen vor 1950 zu verzeichnen ist (drei der acht Aufnahmen). Es könnte somit die Gewichtung der Binnenphasen II und III mit einer (auch) medienbedingten Verkürzung ›langer‹ Lieder in den Rahmenphasen wie Nr. 1 »Gute Nacht« oder Nr. 20 »Der Wegweiser« zusammenhängen oder umgekehrt bei auffallend langsamen Tempi in technisch anspruchsvolleren Liedern der Binnenphasen wie Nr. 8, 13 oder 16 eventuell auch Folge einer gewissen ›Vorsicht‹ der Interpret*innen und einem Mangel an Erfahrung mit der Aufnahmesituation sein. Dass die früheste Aufnahme Duhan+Foll 1928 für dieses Modell besonders repräsentativ ist, zeigt zum einen der besonders niedrige Wert für die Prozentanteile der Phasen I+IV (das Minimum 44,22 liegt über einen Prozentpunkt unter dem zweitniedrigsten Wert von Haefliger+Dähler 1980), zum anderen war diese Aufnahme bereits oben in Tabelle 20 in drei Fällen ausgewiesen als minimal negativ korrelierender Wert zu den drei am deutlichsten das Rahmenmodell vertretenden Aufnahmen. Anhand der Prozentanteile der vier Phasen wird deutlich, dass Duhan+Foll 1928 (hierin direkt als Gegenpol zu Schreier+Richter 1985 fungierend) die Gewichtung der Binnenphasen vor allem durch den Maximalwert in Phase III erreichen (23,48/20,77), während Phase II nur wenig oberhalb des Mittelwerts liegt (32,30/32,00). Hierin kontrastiert die Aufnahme mit jenen von Haefliger+Dähler 1980 und Schmitt-Walter+Leitner 1941 mit Maximalwerten für Phase II (34,46 bzw. 33,81/32,00) und Annäherungen an den Mittelwert in Phase III. Die meisten anderen Aufnahmen haben für beide Binnenphasen deutlich überdurchschnittliche Werte, einzig bei Egmond+Immerseel 1989 sind die Werte dem von Duhan und Foll realisierten Prinzip vergleichbar. Hinsichtlich der absoluten Dauer gibt es in dieser Gruppe keine deutlichen Tendenzen, innerhalb der acht Aufnahmen sind mit Ausnahme von Gruppe c fünf der sechs Gruppen a–f mindestens einmal vertreten.
Diagramm 12: Schubert, Winterreise, Aufnahmen, deren Prozentanteile den Kriterien des Binnenmodells entsprechen (I+IV < 46,0 %; kursiv gesetzte Werte rechts neben den Balken), zwei maximal positiv korrelierende Aufnahmen und Aufnahme Lehmann+Ulanowsky 1941 mit Gesamtdauer, Gruppenzugehörigkeit in Bezug auf die Gesamtdauer (vgl. Diag. 2E); maximale und minimale Gesamtdauern der Binnenmodell-Aufnahmen sind fett hervorgehoben.
Tabelle 21: Schubert, Winterreise, Aufnahmen, deren Prozentanteile den Kriterien des Binnenmodells entsprechen (I+IV < 46,0 %), und Aufnahme Lehmann+Ulanowsky 1941, Korrelationen und Faktoren (Angaben wie in Tabelle 20)
Diagramm 13: Schubert, Winterreise, Binnenmodell: a. Duhan+Foll 1928 / Lehmann+Ulanowsky 1941; b. Duhan+Foll 1928 / Bogtman+Nobel 1954; c. Lehmann+Ulanowsky 1941 / Bostridge+Adès 2018; jeweils Dauern (oben), relative Abweichungen der Dauern vom Mittelwert (Mitte), Initialtempi (unten); zur besseren Lesbarkeit ist dieses Diagramm auch als dreiseitige PDF-Datei verfügbar (https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Diag13a-c.pdf)
Als Vergleichsaufnahme zu Duhan+Foll 1928 (Gruppe b, Gesamtdauer 1:13:55) soll hier mit der Aufnahme von Lotte Lehmann und Paul Ulanowsky 1941 (Gruppe e, Gesamtdauer 1:09:42, Diag. 13a) eine Deutung diskutiert werden, die zwar die quantitativen Kriterien des Modells nicht ganz erfüllt, sondern eher im Übergang von Binnen- und Balancemodell zu verorten ist (Prozentanteile: 23,94/24,46, 32,50/32,00, 20,93/20,77, 22,62/22,76; I+IV: 46,56/47,22), aber neben unterschiedlichen Schwerpunkten auch besonders signifikante Gemeinsamkeiten mit Duhan und Foll aufweist. Der eklatanteste Moment in beiden Aufnahmen ist gewiss die verstörend langsame Deutung von Nr. 15 »Die Krähe« (Duhan+Foll: 2:42/2:01, 33,3/46,4; Lehmann+Ulanowsky: 2:58/2:01, 30,2/46,4, Audiobsp. 3c), die nur bei Duhan und Foll auch von einer gleichermaßen langsamen Deutung der Nr. 16 gefolgt wird (maximale Dauer 3:08/2:10, minimales Initialtempo 49,8/76,9, Audiobsp. 3d). Lehmann und Ulanowsky hingegen stellen der quälend langsam kreisenden Krähe in Nr. 10 eine ermattete »Rast« gegenüber (4:00/3:19, 33,2/41,2 bei Minimalwert 32,9, Audiobsp. 3b), während sie in Phase III nach der »Krähe« ein hohes Tempo beibehalten (mit Nähe zu den Extremwerten in Nr. 18 »Der stürmische Morgen« 0:43/0:50, 112,1/96,6).
In den Rahmenabschnitten verknappen beide Aufnahmen insbesondere die Nr. 1 »Gute Nacht« durch ein recht zügiges ›Schritttempo‹ (Duhan+Foll: 5:13[4:02]/5:38, 55,8/50,8; Lehmann+Ulanowsky: 5:28[4:15]/5:38, 53,8/50,8, Audiobsp. 3a) und einen eher lakonisch-unsentimentalen »Leiermann« in Nr. 24 (Duhan+Foll: 3:10/3:41, 59,5/53,8; Lehmann+Ulanowsky: 3:16/3:41, 60,2/53,8, Audiobsp. 3e) – mit relativ deutlicher Verlangsamung im zweiten Teil des Liedes. Gerade der ›äußere Rahmen‹, der bei Schreier+Richter so pointiert hervorgehoben ist, wird hier stark verknappt. Demgegenüber fallen die bei Duhan und Foll in den Rahmenphasen auftretenden Maximalwerte für die Dauern der ›virtuosen‹ Lieder Nr. 2 »Die Wetterfahne« (2:14/1:43) und Nr. 22 »Mut« (1:45/1:23) für die Gewichtung der Phasen weniger ins Gewicht, sie minimieren aber die im Rahmenmodell und in korrelierenden Aufnahmen (besonders bei Holl+Grubert 1995) konstatierten Kontrastwirkungen bzw. kehren diese in ihr Gegenteil um. Ein Grund für diese breiten Tempi in den ›virtuosen Stücken‹ (bei Duhan+Foll auch auffallend in Nr. 8, 13, 18 und 19) könnte im überdeutlichen Bemühen nach Textverständlichkeit liegen, die beide Aufnahmen auszeichnet (aber freilich von Lotte Lehmann etwa in Nr. 2 »Die Wetterfahne« auch mit einem raschen, deutlich über dem Mittelwert liegenden Tempo realisiert wird). Insgesamt zeigt die große Volatilität der Kurven eine für die Aufführungspraxis vor 1950 charakteristische Variabilität der Tempogestaltung, die sich kaum als eine intentionale ›Strategie‹ makroformaler Formgestaltung ansprechen lässt, auch von den bereits erörterten medienhistorischen Aspekten abgesehen (vgl. 2.).
Audiobeispiel 3: Schubert, Winterreise, Duhan+Foll 1928 / Lehmann+Ulanowsky 1941: a. Nr. 1 »Gute Nacht«, Beginn; b. Nr. 10 »Rast«, Beginn; c. Nr. 15 »Die Krähe«, Beginn; d. Nr. 16 »Letzte Hoffnung«, Beginn; e. Nr. 24 »Der Leiermann«, Beginn
(Schubert, Winterreise, Hans Duhan, Ferdinand Foll, Lene Orthmann [Nr. 16], His Master’s Voice (HMV) ES 383, ER 271, ER 274, Gramola ES 392, ER 376, 1928, https://archive.org/details/HansDuhan18901971SchubertWinterreiseFirstRecording1928; Schubert, Winterreise, Lotte Lehmann, Paul Ulanowsky, Columbia Masterworks, M-466-1, 466-5, RCA Victor M 692-3, Columbia Masterworks, M-466-3, M 587-6, 1940/41, CD Pearl GEM 0033, Tracks 1 [0:00–0:41], 10 [0:00–1:49], 15 [0:00–0:57], 16 [0:00–0:35], 24 [0:00–1:29])
Die maximale positive Korrelation von Duhan+Foll 1928 mit der Aufnahme von Laurens Bogtman und Felix de Nobel (1954) ist aus dem mittleren Graph von Diagramm 13b gut ablesbar, wobei die kürzere Dauer bei Bogtman+Nobel 1954 (1:02:59, eine der kürzesten Dauern der gesamten Aufnahmegeschichte) dazu beiträgt, dass sich das Binnenmodell nicht nachhaltig etablieren kann (die Verschiebung der Prozentanteile der vier Phasen gegenüber den Mittelwerten ist einzig in Phase III etwas auffallend, was für die Korrelation mit Duhan und Foll wesentlich ist (24,90/24,46, 31,03/32,00, 22,59/20,77, 21,48/22,76). Bogtman und Nobel erreichen in Nr. 6 »Wasserflut« eine minimale Dauer bzw. ein nahezu maximales Initialtempo (3:06/4:09, 57,5/45,0 bei Maximum 58,9) und nähern sich bei mehreren weiteren Liedern diesen Extremwerten an, etwa in Nr. 12 »Einsamkeit« (1:58/2:41, 51,0/39,4; das hohe Tempo macht hier deutlich, dass es sich bei dem Grundrhythmus dieses Liedes auch um eine Variante der mit Nr. 1 »Gute Nacht« etablierten ›journeying figure‹ handelt, ein Aspekt, der in den dominierenden langsamen Deutungen dieses Liedes in der Regel kaum vermittelt wird) und Nr. 14 »Der greise Kopf« (2:26/2:58, 59,6/45,5). Im Rahmen dieser raschen Deutung ist die Rücknahme des Tempos in den Liedern 15 und 16, analog zu Duhan und Foll, auffallend, wenn sie auch weit weniger extrem ausfällt und die Dauer der »Krähe« unter dem Mittelwert liegt (Nr. 15: 1:51/2:01, 48,7/46,4; Nr. 16: 2:36/2:10, 56,1/77,1). Schließlich sind drei der fünf Lieder der finalen Phase IV stark komprimiert, was wesentlich die Tendenz zum Binnenmodell begründet: Nr. 21 »Das Wirtshaus« (3:15/4:17, 39,1/28,9), Nr. 23 »Die Nebensonnen« (2:07/2:44, 47,9/37,2) und Nr. 24 »Der Leiermann« (2:54/3:41, 66,8/53,8).
Eine Orientierung der Aufnahme von Ian Bostridge und Thomas Adès (2018) an älteren Aufnahmen der Winterreise ist wahrscheinlich, auch wenn von Bostridge selbst im CD-Booklet die Arbeit der Interpreten mit dem Autograph hervorgehoben ist.[97] Das herausstechende Merkmal, die weitaus längste und langsamste Aufnahme der »Krähe« unter allen gemessenen 106 Aufnahmen (3:32/2:01, 24,9/46,4, Audiobsp. 4b), ist für sich genommen schon ein besonderes Erlebnis: Das langsame Tempo sollte nicht als ein effekthascherisches Schielen nach exzeptioneller Wirkung verstanden werden, sondern als Resultat eines Narrativs, das jenes bei Lehmann und Ulanowsky angelegte variiert und pointiert (vgl. Diag. 11c, Mitte): Das Lied wird – nicht zuletzt auch mittels spektakulären Kehlkopf-Stimmeffekten in der tiefen Lage als Zuspitzung der Tradition ›krähender‹ Stimmgebung, wie sie etwa bei Peter Schreier angelegt ist (vgl. Audiobsp. 4b, 2:16) – als Klimax eines kontrastierenden Verlaufs in den Binnenphasen aufgefasst, dem in den Rahmenphasen eher eine balancierte Disposition gegenübersteht. Allerdings wird dieser kontrastierende Verlauf im Einzelnen von Bostridge und Adès – bei auch hier vorliegender Evidenz der Korrelation im Graphen – mit deutlich von Lehmann und Ulanowsky unterscheidbaren Facetten versehen: Für den Prozentanteil der Binnenphase II erreichen Bostridge und Adès einen Minimalwert (29,97/32,00), was neben der großen Gewichtung von Nr. 15 und Nr. 17 »Im Dorfe« (3:41/3:08, 53,6/67,0, Audiobsp. 4c[98]) in Phase III vor allem auch durch überdurchschnittliche Tempi nahezu aller Lieder der Phase II erreicht wird. Besonders sticht dabei Nr. 8 »Rückblick« heraus (Minimalwert 1:47/2:12, 130,1/112,9, Audiobsp. 4a), ein Kontrastmoment, das in allen drei Aufnahmen Bostridges besonders herausgearbeitet wird (alle drei Aufnahmen befinden sich unter den zehn kürzesten Dauern von Nr. 8) und das so gleichsam einen Gegenpol zu Nr. 15 etabliert. Demgegenüber ist der ›äußere Rahmen‹ ähnlich ausgeglichen gewichtet wie bei Lehmann und Ulanowsky (Nr. 1: 5:29/5:38, 51,3/50,8; Nr. 24: 3:43/3:41, 52,5/53,8), sodass sich insgesamt keine klare Tendenz zu einem Binnenmodell ergibt, sondern vielmehr die ›Disproportionalität‹ der beiden Binnenphasen im Überblick deutlich heraussticht: 23,88/24,46–29,97/32,00–22,38/20,77–23,77/22,76.
Audiobeispiel 4: Schubert, Winterreise, Bostridge+Adès 2018: a. Nr. 8 »Rückblick«, Beginn; b. Nr. 15 »Die Krähe«; c. Nr. 17 »Im Dorfe«, Beginn
(Schubert, Winterreise, Ian Bostridge, Thomas Adès, CD Pentatone PTC 5186 764, ©&℗ 2019 Pentatone Music B.V., Tracks 8 [0:00–0:45], 15, 17 [0:00–1:25])
Eröffnungsmodell und Finalmodell
Hinsichtlich der bislang noch nicht genauer berücksichtigten Faktorenanalyse bieten Eröffnungsmodell und Finalmodell – im Gegensatz zu den bislang besprochenen Modellen – gut greifbare Anhaltspunkte. Fünf der acht Aufnahmen, die den Kriterien des Finalmodells (vgl. unten, Tab. 23) entsprechen, weisen Höchstwerte für den Faktor 1 auf (bei Reduktion des Korpus auf 71 Aufnahmen wird daraus eine leicht erhöhte Korrelation zum Faktor 5-negativ), während umgekehrt sieben der neun Aufnahmen, die den Kriterien des Eröffnungsmodells entsprechen, minimale negative Werte für Faktor 1 aufweisen (bzw. maximale Positivwerte für Faktor 5 bei Reduktion auf 71 Aufnahmen, Tab. 22). Eine relativ deutliche Tendenz kann außerdem für beide Modelle in Bezug auf die Gesamtdauer ausgemacht werden: Während die Aufnahmen des Eröffnungsmodells zu kurzen Dauern tendieren (Gruppe f ist drei Mal, Gruppe e vier Mal vertreten, daneben stehen zwei längere Aufnahmen aus den Gruppen c und a), herrschen bei den Aufnahmen des Finalmodells eindeutig längere Dauern vor (vier Mal Gruppe a, je ein Mal Gruppe b und c; daneben zwei im Gegensatz zu dieser Tendenz besonders kurze Aufnahmen der Gruppe f). Ein weiteres für diese Modelle auffälliges Merkmal ist, dass überwiegend maximale positive Korrelationen zu solchen Aufnahmen bestehen, die ebenfalls dem jeweiligen Modell zugeordnet werden können – was bei den beiden oben diskutierten Modellen nicht der Fall war (vgl. oben, Tab. 20 und 21). Beim Eröffnungsmodell besteht eine maximale positive Korrelation von drei Aufnahmen mit jener von Equiluz+Fussi 1988, die ebenfalls den Kriterien des Modells entspricht, beim Finalmodell korrelieren die Aufnahmen Shirai+Höll 1990 und Skovhus+Vladar 2016 sowie Moll+Garben 1982 und Vickers+Parsons 1983 besonders stark. Pointiert wird der Gegensatz der beiden Modelle auch an den minimalen negativen Korrelationen erkennbar: Unter den minimal negativ korrelierenden Aufnahmen des Eröffnungsmodells sind vier Aufnahmen des Finalmodells und dasselbe gilt umgekehrt für die minimal negativ korrelierenden Aufnahmen des Finalmodells.
Diagramm 14: Schubert, Winterreise, Aufnahmen, deren Prozentanteile den Kriterien des Eröffnungsmodells entsprechen (I > 25,0 % und I–IV > 3,5 %; kursiv gesetzte Werte rechts neben den Balken) und eine maximal positiv korrelierende Aufnahme mit Gesamtdauer, Gruppenzugehörigkeit in Bezug auf die Gesamtdauer (vgl. Diag. 2E); maximale und minimale Gesamtdauern der Eröffnungsmodell-Aufnahmen sind fett hervorgehoben.
Tabelle 22: Schubert, Winterreise, Aufnahmen, deren Prozentanteile den Kriterien des Eröffnungsmodells entsprechen (I > 25,0 % und I–IV > 3,5 %); Korrelationen und Faktoren (Angaben wie in Tabelle 20)
Diagramm 15: Schubert, Winterreise, Eröffnungsmodell: a. Zednik+Vorzellner 2015 / Hotter+Raucheisen 1942; b. Zednik+Vorzellner 2015 / Equiluz+Fussi 1988; c. Hotter+Raucheisen 1942 / Furlanetto+Tchetuev 2011; jeweils Dauern (oben), relative Abweichungen der Dauern vom Mittelwert (Mitte), Initialtempi (unten); zur besseren Lesbarkeit ist dieses Diagramm auch als dreiseitige PDF-Datei verfügbar (https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Diag15a-c.pdf).
Das Eröffnungsmodell wird am eindeutigsten von der Aufnahme von Heinz Zednik und Markus Vorzellner (2015) vertreten (Diag. 14, Tab. 22). Ähnlich wie im Falle von Duhan+Foll 1928 ist der Abstand zur ›zweitgereihten‹ Aufnahme dieses Modells beträchtlich (Differenz Phasen I–IV: 6,12/1,70, der zweithöchste Wert bei Hotter+Raucheisen 1942 beträgt mit 4,62 bereits 1,5 Prozentpunkte weniger). Damit korrespondiert der minimale Prozentanteil dieser Aufnahme für Phase IV (20,07/22,76) und ein nur sehr knapp unter dem Maximalwert befindlicher Anteil für Phase I (26,19/24,40 mit Maximum 26,26 bei Fassbaender+Rieger 1995). Im Rahmen der insgesamt sehr raschen Deutung (1:04:24, Gruppe f) bedeutet das auch in Hinblick auf die absoluten Dauern notwendigerweise ein Angrenzen an Minimalwerte in den fünf Liedern der Phase IV, wobei Nr. 22 auffallend von dieser Tendenz ausgenommen ist: Nr. 20: 3:33/4:06, 48,7/43,4, Nr. 21: 3:03/4:17 (Minimalwert 3:02), 39,5/28,9 (Maximalwert 40,0) (Audiobsp. 5b), Nr. 22: 1:27/1:23, 90,7/95,3, Nr. 23: Minimalwert 1:56/2:44, Maximalwert 50,1/37,2 (Audiobsp. 5c), Nr. 24: 2:57/3:41 (Minimalwert 2:47), 66,1/53,8. In der Eröffnungsphase liegen demgegenüber die Dauern um den Mittelwert – Nr. 4 etwas darüber, Nr. 5 etwas darunter, in eine besonders auffallend rasche Nr. 6 »Wasserflut« hinleitend (3:15/4:09, bei Minimalwert 3:06, 57,2/45,0). Auch wenn in weiterer Folge die meisten Lieder der Binnenphasen unter den Mittelwerten liegen, werden die Extreme der Schlussphase doch nicht erreicht. Auffällig ist im Gegensatz dazu das starke Abbremsen des Tempos in den virtuosen Liedern Nr. 4, 8 (Initialtempo 91,6/112,9 bei Minimum 90,4, Audiobsp. 5a), 13, 18 und 22, was deren Kontrastfunktion zusätzlich minimiert und zugleich die ›sprechende‹ Textverständlichkeit dieser Deutung – in Analogie zu den frühen Aufnahmen – optimiert. Man mag die Verknappung des Schlusses in dieser Deutung auch als Hinweis auf die oben angesprochene ›Offenheit‹ des Zyklusschlusses verstehen, die der Sänger im Gespräch am Rande einer Aufnahmesitzung thematisierte.[99]
Audiobeispiel 5: Schubert, Winterreise, Zednik+Vorzellner 2015: a. Nr. 8 »Rückblick«, Beginn; b. Nr. 21 »Das Wirtshaus«, Beginn; c. Nr. 23 »Die Nebensonnen«, Beginn
(Schubert, Winterreise, Heinz Zednik, Markus Vorzellner, CD Bock Productions BP004-1, ©&℗ 2015 by Bock Productions, Tracks 8 [0:00–1:04], 21 [0:00–1:05], 23 [0:00–0:54])
Dass die berühmte, am entgegengesetzten Ende des Tempospektrums liegende Aufnahme von Hans Hotter und Michael Raucheisen (1942) eine verwandte Dramaturgie aufweist, wird aus dem Vergleich der Diagramme unschwer deutlich (Diag. 15a, Mitte), wobei die Schwerpunkte zum Teil anders gesetzt sind. Dies betrifft insbesondere Hotters und Raucheisens äußerst getragene Deutung der Nr. 3 »Gefror’ne Tränen« (maximale Dauer 3:22/2:27, minimales Tempo 33,0/45,4, Audiobsp. 6a), was zusammen mit den ebenfalls breit angelegten Liedern 1, 2 und 4 ein Plateau zu Beginn des Zyklus etabliert. Der von Žižek angesprochene prekäre politische Kontext dieser Interpretation (vgl. 2.) ist gerade in diesem Lied vernehmbar: Auch wenn das Stocken der Deutung anfangs durchaus Assoziationen mit Verzweiflung, zumindest aber mit einer Reflexion von Sinn- oder Hoffnungslosigkeit wachrufen kann, so zelebriert doch der sich nach Dur ›vorkämpfende‹ Schluss (»ihr dringt doch aus der Quelle / der Brust so glühend heiss, / als wolltet ihr zerschmelzen / des ganzen Winters Eis«) gerade in der inszenierten Tempo-Breite ein im Kontext der Zeitgeschichte kaum überhörbares Bild eines vermeintlichen ›Triumphes‹ über alle Widerstände. Im weiteren Verlauf ist der scharfe Kontrast von Nr. 6 »Wasserflut« (im Verhältnis zu den anderen Liedern recht zügig bei Initialtempo 44,7/45,0 genommen, Audiobsp. 6b) und der wieder außerordentlich breiten Nr. 7 »Auf dem Flusse« auffällig (4:24/3:33 bei Maximalwert 4:45, Minimaltempo 30,6/42,5, Audiobsp. 6c), sodass man auch hier durchaus den Eindruck gewinnen kann, dass das Plateau der Eröffnungsphase bis zu Nr. 7 hin ausgedehnt ist. Im weiteren Verlauf dann ist parallel zu Zednik+Vorzellner 2015 eine deutliche Temporücknahme vor allem bei den virtuosen Liedern 8, 13, 16, 18 und 22 zu bemerken, während auch hier die Lieder der Schlussphase im Gegensatz dazu deutlich verknappt sind (sie liegen mit Ausnahme der langsamen Nr. 22 »Mut« eng um den Mittelwert, was im Kontext dieser langsamen Deutung eine starke Reduktion der Proportion der Schlussphase insgesamt bedeutet).
Audiobeispiel 6: Schubert, Winterreise, Hotter+Raucheisen 1942: a. Nr. 3 »Gefror’ne Tränen«, Beginn; b. Nr. 6 »Wasserflut«, Beginn; c. Nr. 7 »Auf dem Flusse«, Beginn
(Schubert, Winterreise, Hans Hotter, Michael Raucheisen, Deutsche Grammophon Gesellschaft, 1942/43, CD Deutsche Grammophon Dokumente 1992, ℗ 1943 Polydor International GmbH, Hamburg, Tracks 3 [0:00–1:12], 6 [0:00–0:55], 7 [0:00–0:47])
Die enge Korrelation der Aufnahme von Kurt Equiluz und Margit Fussi (1988, Gesamtdauer 1:06:28) mit Zednik+Vorzellner 2015 ist evident, zumal aufgrund der ähnlichen Gesamtdauer, und bedarf kaum eingehenden Kommentars. Der Verlauf der Kurven ist bei Equiluz und Fussi allerdings weniger volatil und dynamisch. Anders als bei Zednik und Vorzellner wird in Nr. 8 »Rückblick« das Tempo nicht wesentlich reduziert, während die langsame Nr. 13 »Die Post« ebenso wie bei der korrelierenden Vergleichsaufnahme als Markierung des Beginns der zweiten Zyklushälfte aufgefasst werden kann. Besonders auffällig ist, dass auch hier die Verknappung der Schlussphase vor allem durch ein rasches Tempo in den Liedern 21 und 23 erreicht wird (Diag. 15b, Mitte).
In Bezug auf Hotter+Raucheisen 1942 soll hier die Korrelation der Aufnahme von Feruccio Furlanetto und Igor Tchetuev (2011, Korrelation 0,589) statt der noch höher korrelierenden Aufnahme Anders+Raucheisen 1945 (0,875) besprochen werden, da dieser hohe Wert durch die Identität des Pianisten und den geringen zeitlichen Abstand von drei Jahren zwischen den beiden Aufnahmen leicht erklärbar ist. Furlanetto und Tchetuev legen ja jene Aufnahme unter den 106 analysierten vor, die insgesamt von der Lage her am tiefsten angelegt ist (wie es einem berühmten Interpreten des Sparafucile zukommt, vgl. 3., Tab. 5E). Ein getragenes Tempo scheint also schon vom Charakter der Stimme Furlanettos her naheliegend zu sein.[100] Als eine der längsten erfassten Aufnahmen (1:21:36/1:11:04) ist die Affinität zu Hotters Deutung aber auch über die absoluten Dauern hinaus in der Gestaltung der Makroform offensichtlich (Diag. 15c, Mitte). Dennoch prägen Furlanetto und Tchetuev kein Eröffnungsmodell aus, sondern erreichen ausgesprochen ausgeglichene Werte in den Prozentanteilen der vier Phasen, befinden sich also eher in Nähe des Balancemodells (24,34/24,46–32,87/32,00–20,28/20,77–22,50/22,76). Die Kurve der Abweichungen von den mittleren Dauern ist in der Eröffnungsphase weit flacher als bei Hotter und Raucheisen und verbleibt auch im weiteren Verlauf nur innerhalb eines sehr engen Ambitus: eine ganz auf die dunkle Farbe der Stimme im getragenen Tempo setzende Deutung ohne markante formale Gewichtungen.
Diagramm 16: Schubert, Winterreise, Aufnahmen, deren Prozentanteile den Kriterien des Finalmodells entsprechen (IV > 23,5 % und I–IV < 0,0 %; kursiv gesetzte Werte rechts neben den Balken) mit Gesamtdauer, Gruppenzugehörigkeit in Bezug auf die Gesamtdauer (vgl. Diag. 2E); maximale und minimale Gesamtdauern der Finalmodell-Aufnahmen sind fett hervorgehoben.
Tabelle 23: Schubert, Winterreise, Aufnahmen, deren Prozentanteile den Kriterien des Finalmodells entsprechen (IV > 23,5 % und I–IV < 0,0 %); Korrelationen und Faktoren (Angaben wie in Tabelle 20)
Diagramm 17: Schubert, Winterreise, Finalmodell: a. Shirai+Höll 1990 / Moll+Garben 1982; b. Shirai+Höll 1990 / Skovhus+Vladar 2016; c. Moll+Garben 1982 / Vickers+Parsons 1983; jeweils Dauern (oben), relative Abweichungen der Dauern vom Mittelwert (Mitte), Initialtempi (unten); zur besseren Lesbarkeit ist dieses Diagramm auch als dreiseitige PDF-Datei verfügbar (https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Diag17a-c.pdf).
Das Finalmodell ist bei Mitsuko Shirai und Hartmut Höll (1990) und Bo Skovhus und Stefan Vladar (2016) gleichermaßen mit einem Maximalwert für den Prozentanteil der Phase IV (25,14/22,76) ausgeprägt, allerdings wiederum auf zwei markant unterschiedlichen Tempoebenen (1:17:08 vs. 1:05:43, Gruppen a und f, Diag. 16, Tab. 23). Festzuhalten ist, dass das Modell im langsamen Tempo insofern noch stärker zur Geltung kommt, als die Verbreiterung der Tempi zum Schluss hin wohl erst ab einer gewissen Grenze als Überschreitung konventioneller Schlussgestik und damit als spezifisches Konzept erkennbar wird. Hierin liegt besonders auch die Differenz zur Aufnahme von René Kollo und Oliver Pohl (2003), deren insgesamt sehr rasche Deutung (1:03:14) auf eine Verknappung der ersten Phase zielt (Minimalwert des Prozentanteils 21,82/24,46), wobei insbesondere die extreme Deutung von Nr. 1 »Gute Nacht« (minimale Dauer 3:41/5:38, maximales Initialtempo 78,9/50,8) von Kollo durch eine narrative Lesart durchaus plausibel begründet wird.[101] Hinsichtlich der makroformalen Gestaltung sollte hier aber vielleicht weniger von einem ›Finalmodell‹ als von einer Interpretation mit gezielt flüchtigem Beginn gesprochen werden. Die Interpreten unterschreiten in allen Liedern bis auf Nr. 8 »Rückblick« und Nr. 21 »Das Wirtshaus« die Mittelwerte, besonders nachhaltig aber in den Phasen I und III (sechstniedrigster Prozentanteil von 19,61/20,77). Besonders die äußerst raschen Interpretationen von Nr. 15 »Die Krähe« (1:23/2:01 bei minimaler Dauer 1:15), Nr. 17 »Im Dorfe« (minimale Dauer 2:22/3:08) und Nr. 19 »Täuschung« (1:03/1:22 bei minimaler Dauer 1:00) lassen eher ein Zwei-Phasen-Modell erkennen, in dem erste und dritte Phasen extrem verknappt werden und die Phasen II und IV im Sinne beruhigender Kontemplation den Mittelwerten angenähert werden, wobei das »Wirtshaus« als Telos erscheint.
Bei Shirai+Höll 1990 ist hingegen ein finalistisches Narrativ insofern klar erkennbar, als – in pointierter Umkehrung von Zednik+Vorzellner 2015 – die Lieder der Schlussphase mit Tendenz zu Dauernmaxima in den Liedern 21, 23 und 24 besonders zelebriert werden (Diag. 17a und b). Damit korrespondiert hier eine insgesamt sehr klare zyklische Tempoarchitektur, die mit den Minimaltempi in Nr. 12 »Einsamkeit« (30,4/39,4, drittlängste Dauer 3:14/2:41 bei Maximum 3:24, Audiobsp. 7b) und Nr. 24 »Der Leiermann« (38,4/53,8, zweitlängste Dauer 4:55/3:41 bei Maximum 5:13, Audiobsp. 7d) nachhaltig die Schlusslieder beider Zyklushälften inszeniert und diese Schlussbildungen jeweils durch klare Kontrastdramaturgien besonders wirkungsvoll gestaltet: So wird der rasche B-Teil (›Schnell‹) von Nr. 11 »Frühlingstraum« mit einem scharfen Tempokontrast ausgestattet (78,7/65,9, zweitschnellstes Tempo bei Maximum 80,6), insbesondere zum – in Vorbereitung von Nr. 12 – äußerst getragenen C-Teil (›Langsam‹, 28,5/33,4), und auch das nahe dem Mittelwert liegende Initialtempo von Nr. 22 »Mut« (91,7/95,3) kann im Rahmen der sehr getragenen Tempi der umgebenden Lieder der Schlussphase als abrupter Bruch erscheinen (Nr. 20–24: 39,1/43,4—21,0/28,9—91,7/95,3—30,1/37,2—38,4/53,8). Dabei sind in negativer Korrelation zu den besprochenen Interpretationen des Eröffnungsmodells neben dem Schlusslied Nr. 21 »Das Wirtshaus« und Nr. 23 »Die Nebensonnen« durch besondere Breite herausgehoben (Nr. 21: 5:30/4:17 bei Maximaldauer 5:46, Nr. 23: 3:11/2:44 bei Maximaldauer 3:47, Audiobsp. 7c und d) sowie, gleichsam ›vorbereitend‹, Nr. 19 »Täuschung« (1:43/1:22 bei Maximaldauer 1:45). Die feierliche Grundstimmung mit satztechnischen und topischen Anspielungen auf Kondukt (»Das Wirtshaus«) und vierstimmigen Posaunenchor (»Die Nebensonnen«), also auf gemeinschaftliche Formen des Musizierens,[102] wird durch den klangvollen Klavierton Hölls dabei besonders herausgearbeitet und erweist sich, in Kombination mit der zurückgenommenen klanglichen Kargheit des Leiermanns, als Schlüssel zu dieser Auffassung des Finalmodells. Die ›ausfransende‹ Wirkung dieses (offenen) Schlusses mag dadurch gestärkt werden, dass die Transpositionsvariante besonders weit voneinander entfernte Tonarten aneinanderreiht, wobei vor allem die beiden letzten Lieder durch die sehr selten gewählten Transpositionen As-Dur/as-Moll[103] herausfallen (Nr. 16–24: D–D–d–A–fis–E–g–As–as). Besonders prägnant sind im Gegensatz dazu die Eröffnungslieder der Phasen I (Nr. 1 »Gute Nacht«) und III (Nr. 13 »Die Post«) hervorgehoben: In beiden Fällen liegt ein deutlich überdurchschnittliches Tempo vor (Nr. 1: 57,2/50,8, Nr. 13: 101,2/91,3), was pointiert mit der sonst fast durchweg unterhalb der Mittelwerte liegenden Tempokonzeption kontrastiert (für Nr. 13 erreichen Shirai und Höll damit den insgesamt niedrigsten Prozentanteil von 2,55/3,21); besonders in Nr. 1 ist dabei auch die ›stampfende‹ Artikulation der zunächst portato, dann zunehmend staccato genommenen Klavierachtel auffallend (Audiobsp. 7a), was auch diesem Beginn den Charakter des Rastlosen und Aufbegehrenden verleiht, wenn auch weniger drastisch als bei Kollo und Pohl.
Audiobeispiel 7: Schubert, Winterreise, Shirai+Höll 1990: a. Nr. 1 »Gute Nacht«, Beginn; b. Nr. 12 »Einsamkeit«, Beginn; c. Nr. 21 »Das Wirtshaus«, Beginn; d. Nr. 23 »Die Nebensonnen«, Beginn, Nr. 24 »Der Leiermann«
(Schubert, 2x Winterreise, Mitsuko Shirai, Hartmut Höll, CD Capriccio 10382/83, ℗ 1991, CD 2, Tracks 1 [0:00–1:13], 12 [0:00–1:25], 21 [0:00–2:02], 23 [0:00–1:18], 24)
Die in mancher Hinsicht vergleichbare finalistische Auffassung von Kurt Moll und Cord Garben (1982) unterscheidet sich von Shirai und Höll besonders in der Gestaltung der beiden Binnenphasen (Diag. 17a). Hierbei stechen die zunehmend getragenen Tempi ab Nr. 4 »Erstarrung« über Nr. 6 »Wasserflut« (Minimaltempo 35,3/45,0, 5:03/4:09) und Nr. 7 »Auf dem Flusse« (Maximaldauer 4:45/3:33, 31,7/42,5 bei Minimaltempo 30,6, Audiobsp. 8a) – letzteres sehr wahrscheinlich an der Aufnahme Hotter+Raucheisen 1942 orientiert – sowie in Nr. 14–17 heraus (etwa Nr. 14 »Der greise Kopf«, 3:37/2:58 bei Maximalwert 3:40, 33,5/45,5 bei Minimaltempo 33,4, Audiobsp. 8b). Die äußerst breite, bisweilen statische Tempokonzeption in diesen Liedern lässt die finalistische Konzeption hier weniger zwingend erscheinen, selbst wenn diese Statik zum Ende hin, besonders im Schlusslied, noch einmal ganz besonders zelebriert wird (mit 4:40/3:41, 45,1/53,8 ist die Deutung des »Leiermann« von Moll und Garben hier nur geringfügig ›fließender‹ als jene von Shirai und Höll, Audiobsp. 8c).
Audiobeispiel 8: Schubert, Winterreise, Moll+Garben 1982: a. Nr. 6 »Wasserflut«, Beginn, Nr. 7 »Auf dem Flusse«, Beginn; b. Nr. 14 »Der greise Kopf«, Beginn; c. Nr. 24 »Der Leiermann«, Beginn
(Schubert, Winterreise, Kurt Moll, Cord Garben, Orfeo (2) S 042832 H 1983, CD Orfeo (2) C 042 832 H 1984, ℗ 1983 ORFEO Classic Schallplatten und Musikfilm GmbH, München, CD 1, Tracks 6 [0:00–1:13], 7 [0:00–1:18], CD 2, Tracks 3 [0:00–1:48], 13 [0:00–2:02])
Die Korrelation von Skovhus+Vladar 2016 mit Shirai+Höll 1990 ist aus dem Diagramm (Diag. 17b, Mitte) wieder gut ersichtlich. Dabei sind neben der (freilich entscheidenden) unterschiedlichen absoluten Tempoanlage zwei Abweichungen in der makroformalen Konzeption auffallend und zwar in jenen zwei Liedern, in denen Skovhus und Vladar die Dauernmittelwerte überschreiten: Zum einen wird ein klarer Moment des Innehaltens in Nr. 6 »Wasserflut« inszeniert (4:37/4:09 bei Maximalwert 5:14, 40,6/45,0, Audiobsp. 9a), zum anderen kommt hier die Gewichtung der finalen Phase ganz besonders durch eine im Verhältnis zum Vorangehenden äußerst verlangsamte Deutung des »Leiermanns« zustande (4:37/3:41 bei Maximalwert 5:13, 42,7/53,8, Audiobsp. 9c). Diese eng an jenen von Moll+Garben 1982 liegenden Werte für das Schlusslied führen dazu, dass dieses bei Skovhus+Vladar im Rahmen der insgesamt zügigen Tempokonzeption den höchsten Prozentanteil unter allen 106 Aufnahmen erreicht (7,01/5,18). Noch deutlicher als bei Shirai+Höll wird zudem die (relative) Dehnung der Schlussphase durch eine grundsätzlich zügig genommene dritte Phase (Prozentanteil 18,96/20,77) kontrastierend zur Wirkung gebracht, wobei erneut Nr. 15 »Die Krähe« als besonders turbulent auffällt (1:26/2:01, bei Minimaldauer 1:15, 62,9/46,4 bei Maximaltempo 71,9, Audiobsp. 9b). Es ergibt sich somit ein sehr deutliches Finalmodell, dessen Varianten zu jenem von Shirai und Höll klar die wichtige Bedeutung der Wechselwirkung zwischen absolutem Tempo und der Ausprägung der Modelle zeigt.
Audiobeispiel 9: Schubert, Winterreise, Skovhus+Vladar 2016: a. Nr. 6 »Wasserflut«, Beginn; b. Nr. 15 »Die Krähe«, Beginn; c. Nr. 24 »Der Leiermann«, Beginn
(Schubert, Winterreise, Bo Skovhus, Stefan Vladar, CD Capriccio C5291, ©&℗ 2017 CAPRICCIO, 1010 Vienna, Austria, Tracks 6 [0:00–1:01], 15 [0:00–0:28], 24 [0:00–2:06])
Eine durch den hohen Korrelationswert ausgedrückte Affinität der Aufnahmen Moll+Garben 1982 und Jon Vickers und Geoffrey Parsons (1983) ist nicht nur in der breiten Gesamtkonzeption und der Orientierung am Finalmodell, sondern auch in weiteren Details der makroformalen Dramaturgie leicht erkennbar (Diag. 17c). Als wesentliche Differenz erscheint die im minimalen Dauernwert (2:19/2:52, 191,4/166,3) resultierende ›überstürzte‹ Deutung von Nr. 4 »Erstarrung« (Audiobsp. 10b) bei Vickers und Parsons, die umso effektvoller ist, als sie nachhaltig – und gewiss intentional – mit der äußerst zurückgenommenen Tempowahl für Nr. 1 »Gute Nacht« kontrastiert (6:47/5:38, 45,4/54,4, Audiobsp. 10a; in der im selben Jahr entstandenen Aufnahme mit Peter Schaaf erreicht Vickers die Maximaldauer von Nr. 1 von 7:36). Das Finalmodell von Moll und Garben wird hier insofern variiert, als deren maximale Gewichtung auf das Schlusslied auf die ›Penultima‹ Nr. 23 »Die Nebensonnen« verschoben wird (3:28/2:44, 31,1/37,2, Audiobsp. 10c). Letztlich bewirken aber auch hier, wie bei Moll und Garben, die breiten Tempoplateaus in den ersten drei Phasen eine leichte Abschwächung des Finalmodells.
Audiobeispiel 10: Schubert, Winterreise, Vickers+Parsons 1983: a. Nr. 1 »Gute Nacht«, Beginn; b. Nr. 4 »Erstarrung«, Beginn; c. Nr. 23 »Die Nebensonnen«
(Schubert, Winterreise, Jon Vickers, Geoffrey Parsons, EMI 1731973 1983, CD Warner Classics 0825646031573 2015, ℗ 1984 Warner Music France, a Warner Music Company, Tracks 1 [0:00–1:48], 4 [0:00–0:58], 23)
Das Finalmodell ist in der Interpretationsgeschichte zu einer besonders naheliegenden Option in der Deutung der Winterreise geworden. Dies drückt sich darin aus, dass jene dem Finalmodell zugeordneten Aufnahmen in der Faktorenanalyse fast durchgehend eine hohe Übereinstimmung mit dem wichtigsten Faktor aufweisen, man also davon ausgehen kann, dass in einer Vielzahl der untersuchten Aufnahmen eine verwandte Tendenz angelegt ist. Dies lässt sich natürlich nicht zuletzt auf die Häufung langsamer Tempi in der Schlussphase und damit auf die kompositorische Anlage zurückführen. Schubert unterbrach diese Folge zwar gezielt durch das Tempo »Ziemlich geschwind, kräftig« in Nr. 22 »Mut« und versah die Tempoangaben der beiden Schlusslieder mit einschränkenden Bezeichnungen, die wohl ein allzu getragenes Tempo am Zyklusende verhindern sollten (Nr. 23: »Nicht zu langsam«, Nr. 24: »Etwas langsam«). Gerade in den besprochenen Deutungen des Finalmodells ist aber auch deutlich geworden, dass unterschiedliche makroformale Akzentuierungen mit dieser ›naheliegenden‹ Option verknüpft sind und so durchaus spezifische, individuelle Strategien hervortreten können.
Balancemodell
Ähnliches gilt freilich auch für das Balancemodell, dessen Charakteristik sich kaum darauf beschränken kann, überall den Mittelwerten möglichst nahe zu kommen. Somit bietet dieses Modell besonders die Gelegenheit zu diskutieren, wie sich die quantitativen Erhebungen von Dauern- und Tempowerten mit einer qualitativen Diskussion verbinden müssen. Wenig verwunderlich ist, dass extreme Gesamtdauern sich in jenen Aufnahmen, die den Kriterien des Modells entsprechen, nicht finden. Unter den sieben Aufnahmen liegen fünf in Gruppe b, zwischen 1:28 (Price+Dewey 1997) und 4:38 (Gerhaher+Huber 2001) über dem Mittelwert der Gesamtdauer, zwei in Gruppe d und e, 0:21 (Holl+Richter 1980) und 3:06 (Hampson+Sawallisch 1997) unter diesem Mittelwert.
Diagramm 18: Schubert, Winterreise, Aufnahmen, deren Prozentanteile den Kriterien des Balancemodells entsprechen (Abweichung aller vier Mittelwerte ≤ 0,4 % und Mittelwert der vier Abweichungen ≤ 0,3 %; kursiv gesetzte Werte rechts neben den Balken) und eine maximal positiv korrelierende Aufnahme mit Gesamtdauer, Gruppenzugehörigkeit in Bezug auf die Gesamtdauer (vgl. Diag. 2E); maximale und minimale Gesamtdauern der Balancemodells-Aufnahmen sind fett hervorgehoben.
Tabelle 24: Schubert, Winterreise, Aufnahmen, deren Prozentanteile den Kriterien des Balancemodells entsprechen (Abweichung aller vier Mittelwerte ≤ 0,4 % und Mittelwert der vier Abweichungen ≤ 0,3 %); Korrelationen und Faktoren (Angaben wie in Tabelle 20)
Diagramm 19: Schubert, Winterreise, Balancemodell: a. Price+Dewey 1997 / Hampson+Sawallisch 1997; b. Price+Dewey 1997 / Hüsch+Müller 1933; c. Hampson+Sawallisch 1997 / Goerne+Johnson 1996; jeweils Dauern (oben), relative Abweichungen der Dauern vom Mittelwert (Mitte), Initialtempi (unten); zur besseren Lesbarkeit ist dieses Diagramm auch als dreiseitige PDF-Datei verfügbar (https://storage.gmth.de/zgmth/media/1132/Utz_Winterreise_Diag19a-c.pdf)
Die Aufnahme von Margaret Price und Thomas Dewey (1997) entspricht den Kriterien des Modells am besten. In Bezug auf eine ca. fünf Minuten kürzere Gesamtdauer werden hier vergleichend die Aufnahmen von Thomas Hampson und Wolfgang Sawallisch (1997, Diag. 19a) sowie Gerhard Hüsch und Hanns Udo Müller (1933, Diag. 19b) herangezogen. Dabei ist zu beachten, dass nur Price+Dewey 1997 und Hüsch+Müller 1933 auch eine hohe Korrelation zueinander aufweisen (0,602), während die Korrelation von Price+Dewey 1997 und Hampson+Sawallisch 1997 unspezifisch bleibt (−0,120). Die höchste Korrelation mit Hampson+Sawallisch 1997 erreicht die Aufnahme von Matthias Goerne und Graham Johnson aus dem Jahr 1996 (0,589, Diag. 19c), eine Aufnahme die hinsichtlich der makroformalen Modelle unauffällig ist und keines dieser Modelle spezifisch ausprägt.
Price und Dewey setzen im Rahmen des mittleren Tempos, das Grundlage einer äußerst innigen und mannigfaltig klangfarblich schattierten Interpretation ist, durchaus Gewichtungen, die durchweg die vierteilige Gliederung stärken: das zurückgenommene Tempo von Nr. 12 »Einsamkeit« (34,4/39,4 bei Minimum 30,4) lässt den ersten Teil des Zyklus ausklingen und schafft einen klaren Kontrast mit dem präzis-forschen Tempo der Nr. 13 »Die Post« am Beginn des zweiten Teils (95,8/91,3; mit einer die Mollkontraste nachhaltig markierenden Temposchwankung von 14,53/10,31) (Audiobsp. 11c). Der Übergang von Phase I zu Phase II wird durch leicht zurückgenommene Tempi der Nr. 5 »Der Lindenbaum« (47,7/53,0) und Nr. 6 »Wasserflut« (42,2/45,0) markiert (Audiobsp. 11a), jener von Phase III zu Phase IV durch den Kontrast zwischen einer fließend genommenen Nr. 19 »Täuschung« (70,8/69,3) und einem ›gemessenen‹ Schritt in Nr. 20 »Der Wegweiser« (41,4/43,4). Am Ende ist die Nr. 23 »Die Nebensonnen« durch eine Tempoverbreiterung als Penultima etwas stärker herausgehoben als das Schlusslied, was dessen ins Offene weisenden Kontinuumcharakter stärkt (Nr. 23: 32,8/37,2; Nr. 24: 50,6/53,8, Audiobsp. 11d).
Solche leichten Tempogewichtungen innerhalb des Balancemodells lassen auch die ungewöhnliche Tonartendisposition dieser Aufnahme stark hervortreten: Basis ist eine Tieftransposition um einen Halbton in 14 der 24 Lieder, während sechs Lieder in der Originaltonart verbleiben (Nr. 5 und 17–21), drei einen Halbton höher gesetzt sind (Nr. 6, 10, 22) und eines einen Ganzton höher gegeben wird (Nr. 12). Damit entsteht einerseits (analog zum d-Moll der autographen Fassung) eine übergeordnete cis-Moll-Rahmung des ersten Teils (Nr. 1, 10, 12), die im zweiten Teil zunächst einer Orientierung am Grundton D weicht (Nr. 13–18: D–h–h–D–D–d), am Ende aber nach As/Gis verschoben wird (Nr. 22–24: as–As–as), also gleichsam (in Bezug auf den ersten Teil) ›halbschlüssig‹ endet. Besonders an den Phasenübergängen entstehen so ungewöhnliche Tonartenbeziehungen, die sich so zum Teil in kaum einer anderen Aufnahme finden: Nr. 4–9: h–E–f–es–fis–b (also mit S-Verhältnis der Lieder 5 und 6), Nr. 10–14: cis–As/Gis–cis–D–h (das x-Verhältnis von Nr. 12 und 13 entspricht jenem des Autographmodells a [d–Es]), Nr. 18–24: d–A–g–F–as–As–as (die ›Stabilisierung‹ der Grundtons As in den letzten drei Liedern gleicht das ungewöhnliche Tritonusverhältnis zum Grundton D am Beginn des zweiten Teils aus, das freilich jenem der Erstausgabe entspricht [Es–a]).
Hampson und Sawallisch setzen im Rahmen ihrer grundsätzlich etwas fließender angelegten Deutung andere Akzente, wobei vor allem der Beginn der dritten Phase (Nr. 13–15) und das Ende des Zyklus (Nr. 21–24) von Price und Dewey abweichen: Die pointiert langsame Nr. 15 »Die Krähe« (38,5/46,4, 2:20/2:01) ist als (auch dynamisch zurückgenommener) ›innerer Monolog‹ wirkungsvoll eingerahmt von zügigen Interpretationen der Nr. 14 »Der greise Kopf« (50,3/45,5, 2:34/2:58) und Nr. 16 »Letzte Hoffnung« (80,6/76,9, 1:59/2:10), deren dramatische Momente herausgearbeitet werden. Der Attraktionspunkt der Schlussphase ist Nr. 21 »Das Wirtshaus« (4:35/4:18, 25,9/28,9), dessen verinnerlicht-zurückgenommener ›Erschöpfung‹ eine besonders rasche, fast tänzerische Nr. 23 »Die Nebensonnen« entgegengesetzt wird (2:12/2:45 bei Minimalwert 1:56, 44,8/37,2), wobei die so etablierte ›anti-sentimentale‹ Grundstimmung in das Schlusslied hinein verlängert wird (3:30/3:41, 58,6/53,8).
Die hohe Korrelation von Hüsch+Müller 1933 mit Price+Dewey 1997 verwundert vielleicht zunächst, wenn man die deutlich größeren Ausschläge dieser Aufnahme in Diagramm 19b (Mitte) betrachtet. Tatsächlich kann die Deutung von Hüsch und Müller wohl so verstanden werden, dass jene bei Price und Dewey subtil eingesetzten Temponuancierungen hier – auf dem Temponiveau von Hampson und Sawallisch – deutlicher konturiert werden. So sind dieselben Übergangsbereiche um die Lieder Nr. 5/6 (Audiobsp. 11a), 12/13 und 19/20 (sowie 23/24) durch eine analoge Tempodisposition herausgehoben. Dabei fallen besonders die stark beschleunigten Deutungen von Nr. 9 »Irrlicht« (Minimaldauer 2:08/2:42, 65,4/53,1, bei Maximaltempo 67,9, Audiobsp. 11b) und Nr. 13 »Die Post« (1:43/2:17 bei Minimaldauer 1:37, 112,0/91,3, Audiobsp. 11c) auf, welche die dazwischen liegenden Schlusslieder der Phase II als Ruhepunkte erscheinen lassen, obwohl auch sie meist unterhalb der mittleren Dauern liegen (Nr. 11 liegt mit 4:13/4:11 zwei Sekunden darüber). Ähnlich gestalten Hüsch und Müller den Übergang zur Schlussphase, wobei in Nr. 18 (0:43/0:50 bei Minimaldauer 0:41, maximales Initialtempo 112,5/96,6) und Nr. 19 (1:07/1:23, 79,7/69,3) besonders rasche Tempi gewählt werden. Nachhaltig ist schließlich die Hervorhebung der Penultimafunktion der Nr. 23 »Die Nebensonnen« bei Price+Dewey 1997 durch Hüsch und Müller verstärkt: Der sehr breiten, mit ›feierlichen‹ Punktierungsfiguren im Klavier durchaus den ›Posaunenchor‹ evozierenden Deutung[104] (3:07/2:45, 30,4/37,2) steht eine im scharfen Kontrast dazu besonders flüchtig genommene Nr. 24 »Der Leiermann« gegenüber (3:10/3:41, 64,3/53,8), sodass die bei Price und Dewey angelegte Tendenz zum offenen Schluss hier besonders klar heraustritt (Audiobsp. 11d).
Audiobeispiel 11: Schubert, Winterreise, Price+Dewey 1997 und Hüsch+Müller 1933: a. Nr. 5 »Der Lindenbaum«, Beginn, Nr. 6 »Wasserflut«, Beginn; b. Nr. 9 »Irrlicht«, Beginn; c. Nr. 12 »Einsamkeit«, Beginn, Nr. 13 »Die Post«, Beginn, d. Nr. 23 »Die Nebensonnen«, Beginn, Nr. 24 »Der Leiermann«, Beginn
(Schubert, Winterreise, Margaret Price, Thomas Dewey, CD Forlane 16769, ℗ 1997 UMIP – France, Tracks 5 [0:00–1:32], 6 [0:00–0:58], 9 [0:00–0:54], 12 [0:00–1:17], 13 [0:00–0:33], 23 [0:00–1:12], 24 [0:00–1:47]; Schubert, Winterreise, Gerhard Hüsch, Hans Udo Müller, His Master’s Voice (HMV), D.B. 2040, 2041, 2042, 2044, D.A. 1345. 1933, CD Opus Kura OPK2083 Tracks 5 [0:00–1:21], 6 [0:00–0:58], 9 [0:00–0:42], 12 [0:00–1:06], 13 [0:00–0:28], 23 [0:00–1:17], 24 [0:00–1:24])
Matthias Goerne und Graham Johnson wiederum markieren ihre Deutung gegenüber jener von Hampson und Sawallisch vor allem durch die breitere Anlage der Lieder 4, 11, 15, 17 und 21 (Diag. 19c, Mitte), was insgesamt zu einer deutlich längeren Gesamtdauer führt (1:12:14 gegenüber 1:07:58). Auffallend sind, neben der gegenüber Hampson und Sawallisch noch einmal langsameren Nr. 15 »Die Krähe« (2:30/2:01, 37,2/46,4), vor allem die Gestaltung von Nr. 11 »Frühlingstraum« (5:01/4:11 bei Maximaldauer 5:14, minimales Initialtempo für Teil C 22,8/33,4) und Nr. 17 »Im Dorfe« (3:52/3:08, 50,8/67,0). Die statischen Tempi in den C-Teilen von Nr. 11 heben den traumartigen Charakter dieses Liedes besonders hervor, zumal gleichzeitig der Tempokontrast zum ›schnellen‹ B-Teil maximiert wird (das Verhältnis der Tempi von C-Teil und B-Teil von 33,28 % bedeutet eine maximale Tempodifferenz). Die Deutungen von Robert Holl und Oleg Maisenberg (1987, 1995) weisen ähnliche Plateaus in den Liedern 11 und 17 auf, freilich im Rahmen einer insgesamt noch gedehnteren Tempoanlage. Die reflexive, verinnerlichte Tendenz von Nr. 17 bei Goerne und Parsons hat daneben eine Parallele in den beiden Aufnahmen von Peter Pears und Benjamin Britten, bei denen dieses Lied zum ›geheimen Zentrum‹ des Zyklus wird. Gegenüber Hampson und Sawallisch ist zwar die Nr. 21 »Das Wirtshaus« noch etwas verbreitert (4:55/4:18, 25,5/28,9), allerdings wird auf eine stärker kontrastierende Tempogebung in den weiteren Liedern der Schlussphase verzichtet. Ein Vergleich mit den beiden späteren Deutungen Goernes (Goerne+Brendel 2003 und Goerne+Hinterhäuser 2014) zeigt, dass die Plateaus auf den Liedern 15 und 21 beibehalten werden, während die Hervorhebung von Nr. 11 weniger ausgeprägt ist und jene von Nr. 17 ganz wegfällt. Während sich sonst die Aufnahme mit Alfred Brendel insgesamt durch eine gemäßigtere Tempoanlage auszeichnet, sucht die spätere Deutung mit Markus Hinterhäuser wiederholt Extremwerte auf (Maximaldauern von Nr. 5 »Der Lindenbaum« 5:47/4:42 und Nr. 21 »Das Wirtshaus« 5:46/4:17 begründen diese Aufnahme als einen der repräsentativsten Vertreter des Rahmenmodells) bei insgesamt sehr breiter Tempoanlage (mit 1:16:06 über fünf Minuten über dem Mittelwert).[105]
Die Detailbetrachtung zeigt deutlich, dass Nuancierungen von Tempo und Dauer auch im Balancemodell eine wichtige Grundfunktion im Hervorbringen von Form einnehmen. Sie sind Grundlage für im Detail vielfältig divergierende Interpretationen, in denen der ›mit großem Pinsel‹ entworfenen Basisstruktur der anderen vier Modelle und deren überdurchschnittlichen Gewichtungen einzelner Phasen eine differenzierte Binnenstruktur gegenübersteht; darin wird das Prinzip einer im Klang hervorgebrachten Struktur ganz besonders sinnfällig. Als gemeinsamer Faktor der zum Balancemodell tendierenden Aufnahmen lässt sich vielleicht eine gewisse Tendenz zum offenen Schluss herausstellen, was eine wesentliche Differenz besonders zu Final- und Rahmenmodell bezeichnet.
5. Offene Enden
Eine Zusammenfassung und Abwägung der in Abschnitt 4 eingehender besprochenen Deutungen soll hier zunächst gar nicht versucht werden. Es scheint müßig, über die bereits ausführlich erörterten Konvergenzen und Divergenzen hinaus eine Art ›Masterplan‹ im Hintergrund der Interpretationsgeschichte der Winterreise suchen zu wollen. Vielmehr sollte wohl die mehr als offensichtliche Vielstimmigkeit dieser Geschichte akzeptiert und als Qualität an sich gewürdigt werden, auch wenn damit eine Diskussion über Kriterien ›gelungener‹ Interpretation nicht ad acta gelegt werden muss. Die qualitative Diskussion soll hier abschließend noch anhand von zwei Aufnahmen präzisiert und zum Teil von anderen Perspektiven aus geführt werden. Hierbei dienen die Aufnahme Dietrich Fischer-Dieskaus mit Mauricio Pollini (1978) und der Mitschnitt der Aufführung durch Stefan Zenkl und Joseph Breinl (PETAL-Workshop Graz, 11.3.2020), der eine Podiumsdiskussion mit den beiden Interpreten folgte, als Fallbeispiele.
Die statistische ›Unauffälligkeit‹ der Winterreise-Aufnahmen Fischer-Dieskaus ist bereits mehrfach angedeutet worden, in den besprochenen Modellen waren nur die früheste Aufnahme mit Klaus Billing (1948) als Vertreter des Balancemodells und der Live-Mitschnitt mit Alfred Brendel (Amsterdam 1984) als Vertreter des Finalmodells inkludiert. In der Faktorenanalyse erreicht die für den reduzierten Korpus von 71 Aufnahmen gewählte Aufnahme Fischer-Dieskau+Moore 1971 nur unauffällige Werte, diese Aufnahme prägt also keinen der fünf Faktoren besonders aus. In der Faktorenanalyse, die alle 106 Aufnahmen berücksichtigt, zeigt sich eine gewisse Tendenz der Fischer-Dieskau-Aufnahmen zu Faktor 5 (fünf der elf Aufnahmen liegen hier über 0,3, zusammen u. a. mit Duhan+Foll 1928 und Prey+Moore 1959) und besonders zu einem hohen Negativwert für Faktor 2 (sechs Aufnahmen mit Fischer-Dieskau sind unter den elf geringsten Werten, darunter die drei niedrigsten Werte), was insgesamt eine leichte, aber nicht sehr spezifische Tendenz zum Binnenmodell andeutet. Ein detaillierter Blick auf die Abweichungen der elf Aufnahmen von den Dauernmittelwerten (Diag. 20, Mitte) zeigt dennoch eine beträchtliche Variabilität in der Herangehensweise. Die Spitzen der frühen Deutungen Fischer-Dieskau+Billing 1948 und Fischer-Dieskau+Reutter 1952 in Nr. 3 »Gefror’ne Tränen«, Nr. 6 »Wasserflut«, Nr. 7 »Auf dem Flusse«, Nr. 15 »Die Krähe«, Nr. 17 »Im Dorfe« und Nr. 23 »Die Nebensonnen« lassen sich vermutlich großenteils aus einer Orientierung des jungen Interpreten am Maßstab der Aufnahme von Hotter und Raucheisen 1942 verstehen.
Die Aufnahme mit Mauricio Pollini (Live-Mitschnitt, Salzburger Festspiele 1978, 1:10:33/1:11:04) wurde deshalb gewählt, weil hier die Abweichungen von den Mittelwerten besonders minimal sind: Die durchschnittliche Abweichung vom Mittelwert in den 24 Liedern beträgt 0,9994, die Standardabweichung innerhalb dieser Abweichungen 0,056 (Minimalwert bei Price+Dewey 1997 0,0427, Maximum Bostridge+Adès 2018 0,1857). Dennoch ist diese Aufnahme kein typischer Vertreter des Balancemodells (die Abweichungen von den mittleren Prozentanteilen der vier Phasen sind relativ deutlich: −0,85, −0,67, +1,04 und +0,47). Auffällige Korrelationswerte mit anderen Aufnahmen bestehen kaum, die drei höchsten Werte betreffen andere Aufnahmen Fischer-Dieskaus, mit 0,464 zu Goerne+Johnson 1996 ist die höchste Korrelation mit der Interpretation eines anderen Sängers erreicht. Tatsächlich erinnert die breite Deutung der Lieder Nr. 14 »Der greise Kopf«, Nr. 15 »Die Krähe« und Nr. 17 »Im Dorfe« an die Schwerpunkte der Interpretation von Goerne und Johnson und ist wesentlich für eine leichte Tendenz zum Binnenmodell. Ein markanter Tempokontrast ist vor allem in Nr. 11 »Frühlingstraum« vernehmbar, wo das ›schnelle‹ Tempo neben der sängerischen kurz auch pianistische Virtuosität aufblitzen lässt (Audiobsp. 12b), auf die Pollini sonst, auch in den dafür geeigneten Nummern Nr. 18 und 22, weitgehend verzichtet. Eine sehr leichte Finaltendenz deutet das zurückgenommene Tempo des »Leiermann« (51,1/53,8, Audiobsp. 12c) als Gegenstück zum leicht erhöhten Tempo in Nr. 1 »Gute Nacht« (57,8/54,4, Audiobsp. 12a) an. Insgesamt ist die ›neutrale‹ Tendenz dieser Deutung durchaus auch in der Diktion von Fischer-Dieskaus Gesang zu vernehmen, der zwar immer wieder dramatisch forciert mit starken Akzenten artikuliert, um in verinnerlichten Momenten, etwa im C-Teil des »Frühlingstraums« oder im »Leiermann«, ins fast Unhörbare zurückzugehen, insgesamt aber einer stimmlich sehr kontrollierten Darstellung verpflichtet bleibt.
Diagramm 20: Schubert, Winterreise, Fischer-Dieskau+Pollini 1978: Dauern (oben), relative Abweichungen der Dauern vom Mittelwert inkl. zehn weiterer Vergleichsaufnahmen Fischer-Dieskaus (Mitte), Initialtempi (unten)
Audiobeispiel 12: Schubert, Winterreise, Fischer-Dieskau+Pollini 1978: a. Nr. 1 »Gute Nacht«, Beginn; b. Nr. 11 »Frühlingstraum«, Beginn; c. Nr. 24 »Der Leiermann«, Beginn
(Schubert, Winterreise, Dietrich Fischer-Dieskau, Maurizio Pollini, Orfeo C 884 131 B, ℗&© 2013 ORFEO International Music GmbH, München, Tracks 1 [0:00–1:24], 11 [0:00–1:49], 24 [0:00–1:46])
Stefan Zenkls und Josephs Breinls Darbietung der Winterreise am 11. März 2020 im Rahmen eines Workshops an der Kunstuniversität Graz fand – im Rahmen eines stark reduzierten Workshop-Programms unmittelbar vor Beginn des ersten ›Corona-Lockdowns‹ – unter besonders ungünstigen Umständen statt. Die beiden Interpreten hatten den Zyklus schon vielfach mit anderen Interpret*innen gemeinsam erarbeitet und ihre Darbietung in mehreren Proben vorbereitet, waren aber zuvor noch nicht gemeinsam aufgetreten. Volle ›Gültigkeit‹ beansprucht diese Live-Deutung also sicher nicht, soll aber hier doch angesprochen werden, nicht zuletzt, da direkt im Anschluss ein Podiumsgespräch mit beiden Interpreten stattfand, in dem wesentliche Fragen der praktischen Interpretation zur Sprache kamen.[106]
Die Deutung von Zenkl und Breinl weist die höchsten Korrelationen mit Equiluz+Fussi 1988 (0,621), Hotter+Parsons 1976 (0,591) und Zednik+Vorzellner 2015 (0,582) auf (Diag. 21, Mitte), wobei zwei dieser Aufnahmen das Eröffnungsmodell repräsentieren, dem sich Zenkl und Breinl mit den Prozentanteilen leicht annähern: 25,04/24,46—31,86/32,00—21,01/20,77—22,10/22,76 (I–IV: 2,93/1,70). Zu Fischer-Dieskaus Aufnahmen bestehen keine nennenswerten Korrelationen (die elf Werte schwanken zwischen –0,346 und 0,165). Der Vergleich der Kurven der Abweichungen von den mittleren Dauern (Diag. 21, Mitte) legt nahe, dass die Korrelationen vor allem auf der im Verhältnis fließenderen Deutung der Lieder 5/6, 9–12 und besonders 20 (»Der Wegweiser«) und 21 (»Das Wirtshaus«) beruhen (Aspekte, die in den korrelierenden Interpretationen freilich zum Teil extremer gestaltet werden, bei Hotter und Parsons auf einem durchweg deutlich niedrigerem Temponiveau). Die insgesamt sehr zügig angelegte Interpretation von Zenkl und Breinl (1:06:13/1:11:04, Gruppe e – an der Grenze zu Gruppe f) tendiert also zu einer Verknappung vor allem jener ›schweren‹, gewichtigen Lieder, auf denen viele Interpretationen Plateaus bilden. Ein Verzicht auf vordergründige Virtuosität, etwa in Nr. 4 »Erstarrung« und besonders in Nr. 13 »Die Post« (Audiobsp. 13b) führt dazu, dass der fließende Charakter der ›langsamen‹ Lieder umso deutlicher wird. Im Falle von Nr. 20 »Der Wegweiser« ist das zügige Tempo (48,1/43,4, Audiobsp. 13d) hier, nach Aussage von Joseph Breinl, auch der Bemühung geschuldet, an das Tempo von Nr. 1 »Gute Nacht« (56,0/50,8, Audiobsp. 13a) zu erinnern und so die verklammernde Funktion dieser beiden Lieder herauszuarbeiten.[107] Demgegenüber fällt die breite Anlage des Schlussliedes auf (3:58/3:41, 47,2/53,8, Audiobsp. 13e), gerade im Kontext der sonst eher verknappten Schlussphase. Motivation dieser Tempogebung ist wohl u. a. der benötigte Zeit-Raum für das in dieser Form selten zu hörende Vermischen von Vorschlags- und Hauptnote in der Bordunbegleitung des Klaviers (hier cis und d) als schwebende Dissonanz im Pedalklang, die vielleicht als Assoziation an die Drehleierfarbe aufgefasst werden kann. Damit werden Beziehungen zu anderen Momenten dieser Deutung hergestellt, in denen Dissonanzen als prekäre ›Zwischenräume‹ zelebriert werden, so etwa die beiden Vorhalte auf »Bahre« in Nr. 14 »Der greise Kopf«, die im Gesang simultan mit ihrer ›Auflösung‹ im Klavier erklingen (T. 26 und 28, Audiobsp. 13c, 1:18–1:28).
Diagramm 21: Schubert, Winterreise, Zenkl+Breinl 2020: Dauern (oben), relative Abweichungen der Dauern vom Mittelwert mit Vergleichsaufnahmen Hotter+Parsons 1976, Equiluz+Fussi 1988 und Zednik+Vorzellner 2015 (Mitte), Initialtempi (unten)
Audiobeispiel 13: Schubert, Winterreise, Zenkl+Breinl 2020: a. Nr. 1 »Gute Nacht«, Beginn; b. Nr. 13 »Die Post«, Beginn; c. Nr. 14 »Der greise Kopf«; d. Nr. 20 »Der Wegweiser«, Beginn; e. Nr. 24 »Der Leiermann«
(Schubert, Winterreise, Stefan Zenkl, Joseph Breinl, Universität für Musik und darstellende Kunst Graz, 11.3.2020, unveröffentlichter Live-Mitschnitt, Verwendung mit freundlicher Genehmigung)
Die Interpreten betonten im Gespräch die ›vegetativen‹ Voraussetzungen eines Tempos in (Live-)Aufführungen: Es sei abhängig von Faktoren wie Tagesverfassung, Gesundheitszustand, Lebensalter, Raum oder Klima. Beide äußerten Skepsis gegenüber ›extremen‹ Tempodispositionen. Zu beachten seien bei der Tempowahl eine Gewährleistung der Textverständlichkeit und die in Metrum- und Tempobezeichnungen durch die Aufführungspraxis der Schubert-Zeit implizierten Kriterien der Tempogestaltung (so würde das Alla-breve-Metrum in Nr. 3 »Gefror’ne Tränen« etwa ein allzu langsames Tempo ausschließen). Auf der anderen Seite äußerte sich Breinl kritisch zu Tendenzen einer Standardisierung von Interpretationen im Zusammenhang mit einer allzu sehr am Notentext orientierten Herangehensweise und zur Zögerlichkeit vieler Interpret*innen hinsichtlich einer Variation der notierten Strukturen, gerade im Falle von – auch in der Winterreise trotz einer Tendenz zur variierten Strophenform häufigen – wiederholten Formelementen.
Diese Verbindung einer Forderung nach mehr ›historisch informierter‹ Praxis, die über das Notierte hinausgeht, mit einer Orientierung an weiteren Kriterien einer ›angemessenen‹ Interpretation kann gewiss als ein common sense heutiger Interpretationspraxis gelten, die – besonders auch in einem Kontext universitärer Musikausbildung – solche Kriterien nicht aufgeben möchte. Und doch legt unser umfassender Blick auf die Interpretationsgeschichte noch andere Nuancierungen dieser Diskussion nahe. Was etwa das Kriterium der Textverständlichkeit betrifft, könnte – im Sinne von Barthes’ Genogesang – gerade das tautologische Herausarbeiten des Textes, der »Pleonasmus der Absichten« auch als Problem gesehen werden. Deutungen wie Bostridges und Adès’ Zeitlupen-Tempo der »Krähe« dehnen die Silben in einer Weise, die sie zu isolierten Lauten macht, aus denen von allein kaum mehr ein linguistisches Sinngefüge abgeleitet werden kann. Und doch wäre vielleicht gerade solch eine Deutung besonders nahe am Gehalt dieses Liedes, in dem die Langsamkeit des Kreisens die Bedrohlichkeit zum Bersten steigert. Ähnlich wäre vielleicht in Bezug auf das Alla-Breve-Tempo der »Gefror’nen Tränen« zu argumentieren: Die gewiss von einem historisch informierten Modell ausgehende Interpretation von Julius Patzak und Jörg Demus (1964, maximales Initialtempo 58,0/45,4) scheint einer heutigen Hörerfahrung vielleicht historisch ebenso weit entfernt wie Hotters und Raucheisens bei nahezu halbem Tempo ›gefrorener‹ Stillstand (1942, minimales Initialtempo 33,0/45,4). Welche der beiden Interpretationen ›angemessener‹ ist oder dem Lied eher gerecht wird, würde man schwer entscheiden können oder wollen, relevant ist ihre Distanz aber im Sinne eines Potentials, ja als Aufforderung an heutige Deutungen, die allzu sicheren und gewohnten Wege zu verlassen und im Sinne von Leech-Wilkinsons Projekt Challenging Performance neue Wege der Sinnerschließung gerade auch im Bereich des kanonisierten Repertoires zu wagen:
Why are performances of classical scores so alike nowadays? Modern performances of Shakespeare are not nearly so similar to one another. Why should classical music-making be more constrained? Some of the earliest recordings prove that performances were much more varied in the past. Why are performers so much more wary, now, of creativity and innovation?[108]
Anmerkungen
Die in diesem Beitrag dokumentierte Forschung wurde im Rahmen des Forschungsprojekts Performing, Experiencing and Theorizing Augmented Listening (PETAL) (gefördert durch den Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, P 30058-G26, 1.9.2017–31.8.2020) durchgeführt (https://petal.kug.ac.at). Basis der hier vorgelegten Interpretationsanalyse von Schuberts Winterreise ist eine umfangreiche Erhebung zu Tonaufnahmen des Werkes, die in einem Forschungsdossier zusammengefasst ist, das im Open Access verfügbar ist und alle Tabellen und Graphiken dieses Beitrags enthält (https://phaidra.kug.ac.at/o:121742). Einzelne besonders großformatige Tabellen und Diagramme (gekennzeichnet durch das Kürzel ›E‹) sind nicht in das HTML- und PDF-Layout dieses Beitrags eingebunden, können aber sowohl über die im Text angegebenen Links als auch über das Dossier im PDF-Format abgerufen werden. Zudem sind alle hier herangezogenen Datensätze über ein GitHub-Repositorium veröffentlicht (https://github.com/petal2020/petal_schubert_winterreise). Herzlicher Dank geht an Majid Motavasseli, Petra Zidarić Györek und Tomislav Buzič für die Hilfe bei der Messung der Audiodateien und der Zusammenstellung der Daten, an Bruno Gingras für Hinweise zu den statistischen Analysen sowie an Iain C. Phillips für Unterstützung bei der Erstellung der Diskographie. | |
Adorno 1964, 25. | |
AHRC Research Centre for the History and Analysis of Recorded Music (CHARM), 2004–2009, https://www.charm.kcl.ac.uk/index.html. | |
Vgl. Leech-Wilkinson 2009, Kap. 4 (https://charm.rhul.ac.uk/studies/chapters/chap4.html). | |
Ebd., ¶50 (https://charm.rhul.ac.uk/studies/chapters/chap4.html#par50). | |
Vgl. hierzu z. B. Utz/Glaser 2020, 211. | |
Robert Hill in Mahnkopf/Hill 2015, 19. | |
Bostridge 2015. | |
Hierzu hielt Walther Dürr 1979 im Kritischen Bericht des Bandes IV/4b der Schubert-Gesamtausgabe fest: »In den Quellen ist das dritte Triolenachtel und das Sechzehntel der punktierten Figuren jeweils übereinander gesetzt; in T. 3 etwa stehen die Triolenachtel fis' + a' erst nach dem letzten Sechzehntel h'; dies legt nahe, die Triolenachtel und die Sechzehntel dem vorherrschenden Usus der Zeit entsprechend einander rhythmisch anzugleichen – auch dann, wenn die rhythmische Schärfung der punktierten Figuren dem Lied in dem getragenen ›langsamen‹ Tempo vielleicht schärfere Konturen geben könnte.« (Dürr 1979, 307) Interessanterweise ist die Gestaltungsweise dieses Rhythmus auch bei denselben Interpret*innen keineswegs einheitlich. So gleicht Jörg Demus in seiner Aufnahme 1964 mit Julius Patzak Triolenachtel und Sechzehntel (wie von Dürr vorgeschlagen) an, während er sich zwei Jahre später in der Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau für eine ›polyrhythmische‹ Lesart entscheidet. | |
»Leider hat man diese Quellen lange Zeit wenig beachtet. Ausnahmen unter den Interpreten der Vergangenheit waren Julius Patzak mit Jörg Demus, Peter Schreier mit Swjatoslaw Richter und Peter Pears mit Benjamin Britten, die in ihren Aufnahmen allesamt den Rhythmus richtig wiedergeben. Auch die Aufführungen mit Hermann Prey, Dietrich Fischer-Dieskau und Matthias Goerne, an denen ich beteiligt war, hielten sich an den Originaltext.« (Brendel 2015) Eine Aufnahme Brendels mit Hermann Prey ist diskographisch nicht dokumentiert (vgl. 3., Tab. 4E). Der Verweis auf Prey fehlt in der Originalfassung des Textes, die Brendel im selben Jahr in der New York Review of Books veröffentlichte. In den drei hier zugrunde gelegten der insgesamt sechs Aufnahmen mit Prey wird der Rhythmus von Nr. 6 immer ›polyrhythmisch‹ interpretiert (von Gerald Moore 1959, Wolfgang Sawallisch 1973 und Helmut Deutsch 1987). Unter den drei vorliegenden Einspielungen mit Ian Bostridge (mit Julius Drake 1997, Leif Ove Andsnes 2004 und Thomas Adès 2018) gleicht nur Andsnes in der Aufnahme von 2004 die Rhythmen an. | |
Die erste Gesamtaufnahme mit Hammerklavier wurde 1980 von Ernst Haefliger und Jörg Ewald Dähler vorgelegt. Laut der hier zugrunde gelegten Diskographie (vgl. 3., Tab. 4E) wurden bis 2020 29 Gesamtaufnahmen der Winterreise mit Hammerklavier eingespielt, ein Prozentanteil von 7,11 % an den insgesamt 329 in diesem Zeitraum eingespielten Gesamtaufnahmen. Der Mittelwert der Gesamtdauer der Aufnahmen mit Hammerklavier liegt mit 1:09:30 über zwei Minuten unter dem Mittelwert aller erfassten Aufnahmen seit dem Jahr 1980 (1:11:41). | |
Hier wie in weiterer Folge wird der Mittelwert nach dem Schrägstrich angegeben. Dabei ist in Bezug auf die Gesamtdauern zu unterscheiden zwischen dem Mittelwert aus dem hier genauer untersuchten Korpus von 106 Aufnahmen (hier ist der Mittelwert M106 1:11:04) und dem Mittelwert aus allen 408 diskographisch erfassten Aufnahmen (Mittelwert M408 1:11:30) (vgl. hierzu genauer 3.). Im Gegensatz zu den 106 im Rahmen des PETAL-Projekts gemessenen Aufnahmen wurden die Gesamtdauern der 302 weiteren Aufnahmen der Diskographie von Iain C. Phillips (https://winterreise.online) entnommen und nicht anhand eigener Messungen geprüft. In der Regel enthalten diese Dauernangaben auch Pausen am Beginn und am Ende der Lieder sowie ggf. Pausentracks zwischen den Liedern, sodass der Mittelwert von 1:11:04 vermutlich näher an einem Mittelwert liegen dürfte, der eine genaue Messung aller 408 Aufnahmen berücksichtigen würde. (Details zum Messverfahren finden sich in Anm. 83 und 84.) In jedem Fall wird die außerordentliche Anlage von Wilson-Johnson und Norris bereits in dieser starken Abweichung (ca. 14 Minuten unter dem Mittelwert) deutlich. Von den 408 Aufnahmen liegen nur drei (0,73 %) unter einer Gesamtdauer von 1:00:00 und nur 29 (7,11 %) unter 1:05:00. | |
Vgl. zur Entstehungs- und Editionsgeschichte insbesondere Feil 1996, 26–30, Dürr 1979 und 1984, 268–278, Youens 1991, 3–49 und Dürr 2000. Schubert vertonte Müllers Gedichte in zwei zeitlich durch acht Monate getrennten Phasen im Februar und Oktober 1827, wobei er in der ersten Phase nur von zwölf Gedichten Müllers Kenntnis hatte. Er vertonte diese in der Reihenfolge, die er im Urania-Jahrbuch für 1823 vorfand und die der ersten Hälfte des heute bekannten Zyklus (Nr. 1–12) entspricht. Ausgeschlossen werden kann, dass die ersten zwölf Lieder in Hinblick auf eine (mögliche) Fortsetzung komponiert wurden, versah Schubert doch im Autograph die Nr. 12 »Einsamkeit«, das im Februar 1827 zuletzt komponierte Lied, mit dem Vermerk »Fine« (vgl. Digitalisat des Autographs der Morgan Library, http://www.themorgan.org/music/manuscript/115668). Erst danach entdeckte er in einer 1824 erschienenen Publikation Müllers (Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, Bd. 2, Dessau: Ackermann 1824, 75–108) den gesamten Zyklus von 24 Gedichten, die Müller hier in einer gegenüber der ersten Veröffentlichung stark veränderten Reihenfolge präsentierte, indem er zwölf neue Gedichte (von denen zehn bereits 1823 in Band 1 der Deutschen Blätter für Poesie, Litteratur, Kunst und Theater veröffentlicht worden waren, hier fehlten noch »Die Post« und »Täuschung«) an verschiedenen Stellen in den Zyklus einfügte. Schubert behielt dennoch die Reihenfolge der ersten zwölf Lieder bei, brachte damit die zwölf neuen Gedichte in eine eigenständige Folge, die so bei Müller nicht vorgesehen war, und bezeichnete diese als »Fortsetzung der Winterreise« (vgl. Dürr 2000, 302). Dies führte in der Aufführungsgeschichte dazu, prominent etwa bei Julius Stockhausen, der vermutlich 1864 in Hamburg als erster den Zyklus vollständig im Konzert darbot, sich an der Reihenfolge Müllers, nicht an jener Schuberts zu orientieren (vgl. Günther 2016a, 281). Dabei ist in jüngerer Zeit, die sich fast durchweg an Schuberts Reihenfolge hält, die Konzeption Schuberts gerade deswegen gerühmt worden, weil sie der linearen, wenn auch abstrahierten Narrativität Müllers (vgl. Wittkop 1994) die »Ziellosigkeit einer ›Reise nach innen‹« (Günther 2016a, 282), eine »quality of randomness« (Giarusso 2008, 28) entgegengesetzt habe. | |
Vgl. Günther 2016a, Loges 2018, 2020 und 2021. Während Ulrich Hartung (1992) Aufführungen in Müllers Reihenfolge nachdrücklich fordert, wird diese Option von Walther Dürr und Arnold Feil (1991, 137–150) mit Hinweis auf die konzeptionell wichtige Folge der Tonarten in Schuberts Zyklus abgelehnt (vgl. unten 2. sowie Dürr 2000, 302 und Dürr 2004, 138–143). | |
Finch 2006, 55. | |
Žižek 2002, 50. | |
Ebd., 51. | |
Ebd., 52. | |
Barthes 1990a, 272: »Der Genogesang ist das Volumen der singenden und sprechenden Stimme, der Raum, in dem die Bedeutungen keimen, und zwar ›aus der Sprache und ihrer Materialität heraus‹; es ist ein signifikantes Spiel, das nichts mit der Kommunikation, der Darstellung (von Gefühlen) und dem Ausdruck zu tun hat; es ist die Spitze (oder der Grund) der Erzeugung, wo die Melodie tatsächlich die Sprache bearbeitet – nicht, was diese sagt, sondern die Wollust ihrer Laut-Signifikanten, ihrer Buchstaben: wo sie erforscht, wie die Sprache arbeitet und sich mit dieser Arbeit identifiziert. Es ist, mit einem sehr einfachen, aber ernst zu nehmenden Wort: die Diktion der Sprache.« | |
Barthes 1993 (»pléonasme d’intentions«), zit. nach Musil 2018, 27. | |
Ronyak 2017, 33, 39–47. | |
Kramer 2011, 161. | |
Vgl. https://archive.org/search.php?query=Duhan%20Winterreise. Als vereinfachtes Kürzel für diese Aufnahme wird in diesem Text und in den Datensätzen und Tabellen dennoch durchgehend ›Duhan+Foll 1928‹ verwendet. | |
Vgl. Tunbridge 2018, 62 f. Duhan legte im selben Jahr ebenfalls die erste Gesamteinspielung von Schuberts Die schöne Müllerin mit HMV vor. 1927, im Jahr zuvor, hatte Richard Tauber (mit Mischa Spoliansky) zwölf Lieder der Winterreise eingespielt, Elena Gerhardt nahm ebenfalls 1927 acht Lieder des Zyklus mit Conraad Valentijn Bos auf (vgl. ebd. sowie Leech-Wilkinson 2010). | |
10-Zoll-Schellackplatten boten maximal etwas mehr als drei Minuten, 12-Zoll-Schellackplatten etwas mehr als vier Minuten Spielzeit pro Seite. Das längste Lied der Aufnahme Duhan+Foll 1928 ist Nr. 11 »Frühlingstraum« mit 4:11. In fünf frühen Aufnahmen vor 1945 ist die zweite Strophe von Nr. 1 »Gute Nacht« (T. 7–38, seconda volta) schlicht ausgelassen, vermutlich da das Lied in voller Länge nicht auf eine Plattenseite gepasst hätte (Duhan+Foll 1928, Hüsch+Müller 1933, Lehmann+Ulanowsky 1941, Schmitt-Walter+Leitner 1941 und Rothmüller+Gyr 1944, vgl. Anm. 83). | |
Vgl. Günther 2016a, Loges 2018, 2020 und 2021. | |
Vgl. Prégardien+Gees 2015 in 3., Tab. 4E sowie Günther 2016b. | |
Vgl. dazu den Beitrag von Natasha Loges in dieser Ausgabe. | |
Vgl. Sprau 2017 und die dort genannte Literatur sowie Utz 2020, 335. | |
Vgl. Youens 1991, 89 f., 268. | |
Vgl. Anm. 13. | |
Vgl. Zenck 1987, 144. | |
Adorno 1964, 25 (vgl. Anm. 2). | |
Barthes 1990b, 291. | |
Zenck 1987, 143 f. | |
Vgl. Utz 2020, 338–340. | |
Nathan Lay und Brian Chapman bieten auf der CD 1 ihrer 2019 veröffentlichten Doppel-CD, die eine englische Fassung des Zyklus auf Basis einer neuen Übersetzung enthält, einen Track 25 mit einem alternativen Ende des »Leiermanns«, bei dem der a-Moll-Schlussklang entfällt und damit die Offenheit des Endes noch stärker hervorgehoben wird. Allerdings scheinen die Interpreten in ihrer hermeneutischen Deutung im Gegensatz dazu eher von einem ›definitiven‹ Ende auszugehen: »As the vocalist’s final note is held softly, a sudden loud entry of the accompaniment signals the protagonist’s final convulsion – Schubert thus confirms that the long-awaited, fondly sought end has come at last, so answering the protagonist’s two questions; in the English version of this album an alternative response to these question marks is offered.« (Chapman 2019, 29) | |
Youens 1991, 74. | |
Ebd., 74 f., 84–92. | |
Ebd., 75, 108–110. | |
Ebd., 309–311. | |
Dürr 2004, 133. | |
Ebd., 138. | |
Ebd., 138–143. | |
Ebd., 144–148. | |
Ebd., 148. | |
Ebd., 155. | |
Suurpää 2014, 13 f. | |
Ebd., 29. | |
Ebd., 168; vgl. Barthes 1977. | |
Suurpää 2014, 181. | |
Ebd., 190. | |
Ebd., 195. | |
Vgl. hierzu genauer den Beitrag von Kilian Sprau in dieser Ausgabe. | |
Für Robert Hattens Theorie der markedness ist die Dur-Moll-Polarität einer der wichtigsten Faktoren. Vgl. Hatten 1994, 36–43. | |
Bearbeitungen für andere Besetzungen wurden nicht berücksichtigt. Bei der Auswahl der vermessenen Aufnahmen wurde auf ein möglichst ausgewogenes Sample in Bezug auf historische Periode, Stimmgattungen und Geschlecht der Gesangssolist*innen geachtet. Zudem waren die Prominenz der Interpret*innen und die Verfügbarkeit der Aufnahmen Kriterien der Auswahl. | |
Grundlage der hier vorgelegten Diskographie war insbesondere die Datenbank, die die Basis der Webseite https://winterreise.online bildet und mir von Iain C. Phillips freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde (vgl. Anm. 1). Ergänzend wurden eine Zusammenstellung der Hochschule für Musik Weimar (https://www.hfm-weimar.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Bibliothek/Winterreise_Bestandskatalog_fuer_Auslage.pdf), ein Verzeichnis der Winterreise-Aufnahmen von Sängerinnen von Janet Wasserman (2017, http://winterreise.online/wp-content/uploads/2019/03/Wasserman_Women-who-have-performed-Winterreise.pdf), Verzeichnisse der CHARM-Webseite (vollständiges Verzeichnis von 78-rpm Platten mit Schubert-Liedern von Karsten Lehl: https://www.charm.rhul.ac.uk/discography/disco_special_1.html; Gesamtverzeichnis: https://www.charm.rhul.ac.uk/discography/search/disco_search.html) sowie das Discogs-Verzeichnis (https://www.discogs.com) konsultiert. Die Diskographie wurde im August 2021 zuletzt aktualisiert. | |
Dies bringt es hier allerdings mit sich, dass insgesamt sechs Pianisten in diesem reduzierten Korpus doppelt vertreten sind (Immerseel, Nobel, Parsons, Raucheisen, Sawallisch, Shetler), was in Kauf genommen wurde. Vgl. Tabellen 15E bis 17E unten. | |
Während Wilson-Johnson+Norris 1984, wie oben beschrieben (vgl. 1.), der Reihenfolge der Gedichte in der Veröffentlichung von Wilhelm Müller aus dem Jahr 1824 folgen, orientiert sich die Anordnung Holl+Lutz 2001 an einer Vortragsfolge von Erwin Ringel, wobei zusätzlich zu den 24 Liedern der Winterreise auch das Lied »Der Doppelgänger« vertreten ist (Reihenfolge: 2–17–12–13–8–6–4–22–16–1–14–5–21–23–20–24–[»Der Doppelgänger«]–3–7–9–10–11–15–18–19). Golser+Delaney 2004 vertauschen Nr. 21 »Das Wirtshaus« und Nr. 24 »Der Leiermann« (die Folge der letzten vier Lieder ist also 24–22–23–21). | |
Vogl galt als ›Tenorbariton‹ mit einem überlieferten Stimmumfang F–f1 (Waidelich 2016). | |
Es versteht sich von selbst, dass die in der Diskographie genannten Stimmgattungen zum Teil als variabel zu verstehen sind und zwischen Bariton, Bass-Bariton und Bass ebenso fließende Übergänge bestehen wie zwischen Sopran, Mezzosopran und Alt. | |
Vgl. dazu u. a. den Beitrag von Thomas Seedorf in der vorliegenden Ausgabe. | |
Im Korpus enthalten sind die Videoaufnahmen Pears+Britten 1970, Fischer-Dieskau+Brendel 1979, Fischer-Dieskau+Perahia 1990, Araiza+Lemaire 1993, Fassbaender+Rieger 1995, Bostridge+Drake 1997, Quasthoff+Barenboim 2005, Goerne+Hinterhäuser 2014, DiDonato+Nézet-Séguin 2019, Mattei+Nilsson 2019. Insbesondere die Aufnahmen Pears+Britten 1970, Bostridge+Drake 1997 und Goerne+Hinterhäuser 2014 enthalten szenische bzw. intermediale (Goerne+Hinterhäuser) Ebenen. Nicht in das Korpus übernommen wurden die Videoaufnahmen Hynninen+Gothóni 1994, Ludwig+Spencer 1994, Pisaro+Thomas 2004, Bauer+Mauser 2005, Buchwald+Meister 2005, Foster-Williams+Gould 2009 und Prégardien+Gees 2012. | |
Das Lebensalter wurde auf Basis ganzzahliger Jahreszahlen berechnet, ohne Berücksichtigung von Monaten oder Tagen. | |
Vgl. dazu etwa Utz/Glaser 2020, 174 f. | |
Unter den Dur-Tonarten gibt es einzig zu Es-Dur keine Moll-Grundtonart in der Varianttonart. Freilich tritt es-Moll in Nr. 13 »Die Post« als kontrastierende Varianttonart zwei Mal auf, bildet in Nr. 16 »Letzte Hoffnung« zusammen mit Es-Dur eine Art Doppeltonart und formt auch in Nr. 7 »Auf dem Fluss« (als dis-Moll) einen bedeutenden Gegenpol zur Grundtonart e-Moll. | |
Walther Dürr (1979, 306) hebt hervor, dass es für die verbreitete Annahme, die Transpositionen seien sämtlich auf den Wunsch des Verlegers zurückzuführen, keine eindeutigen historischen Belege gibt und dass Transpositionsanweisungen in Autograph und Abschrift von Schuberts Hand sowie Korrekturen im ersten Teil etwa in Nr. 6 »Wasserflut« zeigten, »daß Schubert schon bei der Niederschrift des ersten Entwurfs glaubte, das Lied liege für die Singstimme zu hoch.« Die Hinweise auf Transpositionen im zweiten Teil des Autographs (Nr. 22, 24) dürften allerdings auf den Verleger zurückgehen (vgl. Dürr 2004, 138). | |
Vgl. dazu u. a. Youens 1991, 95–104, Budde 2003, 75–81, Dürr 2004, 138–143 und Suurpää 2014, 173–179. Die makroharmonische Anlage der Winterreise wird daneben insbesondere von Kramer 1994, Barry 2000 und Latham 2009 behandelt, vorwiegend unter Schenkerianischen Prämissen. | |
Vgl. etwa Tillmann/Bigand 2004. | |
Hierbei ist zu ergänzen, dass erst seit 2009 mit den Bänden der Reihe Bärenreiter Urtext Ausgaben vorliegen, in denen alle Lieder um dasselbe Intervall (tief-)transponiert werden, nämlich um eine große Sekund in der Ausgabe für mittlere Stimme (BA 9138) und um eine große Terz in der Ausgabe für tiefe Stimme (BA 9158). | |
Vgl. Eggebrecht 1985, 174 f., Kinderman 1986, 65–75 und Suurpää 2014, 180 f. | |
Dies freilich mit negativem Akzent: Die »Modulation« sei »grell gemacht worden« (Fink 1829, 659). In dieser Hinsicht wendet sich Fink besonders gegen das »zu stark vermodulirt[e]« Lied »Auf dem Flusse« (ebd., 658). (Die Besonderheit der harmonischen Anlage dieses Liedes ist in der Literatur häufig hervorgehoben worden, vgl. u. a. Kramer 1994, 153–159 und Cohn 2012, 122–125.) Der Rezensent nimmt insgesamt mehrfach Anstoß an der übermäßigen »Originalität« von Schuberts Liedschaffen. So kommentiert er die mit einem Notenbeispiel demonstrierte Slide-Wendung h-Moll–B-Dur in »Aus der Ferne« (Schwanengesang Nr. 6, T. 46–47; ebenso zuvor bereits in den Takten 17–18) mit den Worten: »Könnten solche Unziemlichkeiten, solche trotzig hingestellte Harmonieen-Zerrbilder allem Verstande zum Hohn ihre kecken Schwindler finden, die sie geduldigen Anstaunern alles Unerhörten für Originalitäts-Ueberschuss einschwärzen wollten: so würden wir, im Fall das Grossartige gelänge, bald in den glückseligsten aller Zustände, in den Zustand der Anarchie, wie in den Tagen des Interregnums, versetzt werden.« (Fink 1829, 661) Vgl. dazu auch Youens 1991, 49. | |
Besonders für die digitalisierten Aufnahmen vor 1950 konnten zum Teil die gewählten Tonarten nur unter Vorbehalt bestimmt werden, da die Tonhöhe generell häufig schwankt und zudem nicht in allen Fällen sicher ist, welcher Stimmton zugrunde lag. Ganz besonders gilt dies für die früheste Aufnahme Duhan+Foll 1928. | |
Das Modell entspricht der Ausgabe der Winterreise in der Edition Peters, Schubert, Lieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung. Band I. Ausgabe für mittlere Stimme, hg. von Max Friedländer, E 8846, Leipzig: Peters o. J. [ca. 1890–1900]. Die Tonarten dieser Ausgabe wurden auch in der Neuedition dieses Bandes bei der Edition Peters 1985 (hg. von Dietrich Fischer-Dieskau, musikwissenschaftliche Revision von Elmar Budde) beibehalten. | |
Diese Variante findet sich in zwei der drei untersuchten Aufnahmen mit Hermann Prey (Prey+Sawallisch 1973 und Prey+Deutsch 1987) sowie in jener mit René Kollo (Kollo+Pohl 2003). In der frühesten untersuchten Aufnahme (Prey+Moore 1959) realisiert Prey das Modell c ohne diese Variante. | |
Das Modell entspricht der Ausgabe der Winterreise in der Edition Peters, Schubert, Lieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung. Band I. Ausgabe für Alt oder Bass, hg. von Max Friedländer, EP 9434, Leipzig: Peters o. J. [ca. 1890–1900]. Die Tonarten dieser Ausgabe wurden auch in der Neuedition dieses Bandes bei der Edition Peters 1985 (hg. von Dietrich Fischer-Dieskau, musikwissenschaftliche Revision von Elmar Budde) beibehalten. Die beiden einzigen in der Diskographie des untersuchten Korpus als ›Alt‹ (contralto) erfassten Sängerinnen (Wiebke Hoogklimmer und Nathalie Stutzmann) realisieren das Modell d (Stutzmann) bzw. eine Variante davon (Hoogklimmer). Die insgesamt tiefste von einer Frauenstimme (mit Ausnahme des Countertenors) realisierte Variante legt Christa Ludwig (hier als Mezzosopran kategorisiert) vor (Ludwig+Levine 1986). Ihre Variante kann als Zwischenlösung zwischen den Modellen d und e verstanden werden. | |
Keine der erfassten sieben Varianten entspricht dabei durchgehend der Ausgabe der Winterreise in der Edition Peters, Schubert, Lieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung. Band I. Ausgabe für tiefen Alt [oder Bass], hg. von Max Friedländer, EP 9350, Leipzig: Peters 1908 (vgl. Tab. 5E, unterste Zeile). | |
Vgl. Cohn 2004 und 2012, 21–24. | |
Dieser hexatonic pole wird durch die indirekte Slide-Beziehung (S) zwischen Nr. 3 »Gefror’ne Tränen« und Nr. 5 (f-Moll – E-Dur, Moll- und Durdreiklang/-tonart mit gemeinsamer Terz) besonders nachhaltig inszeniert. | |
PRP: parallel–relative–parallel (c–C–a–A). | |
Parallel-, Relative-, Leading-Tone-Exchange- und Nebenverwandt-Transformationen (C–c; C–a; C–e; C–f). Die Nebenverwandt-Transformation bildet eine Überschneidung mit traditionellen dominantischen (Dom) und Subdominantischen (Sub) Transformationen (G–C, G–c; C–F, c–f). Grundsätzlich können Transformationen stets in beide ›Richtungen‹ vorgenommen und beliebig kombiniert werden. Auch die Rückungen x und y können durch Kombinationen solcher Transformationen ausgedrückt werden, z. B. A–g (y) als NPN (A–d–D–g) bzw. DomDomP (A–D–G–g) oder h–c (x) als LN (h-G-c). | |
In seinem Schubert-Buch schreibt Fischer-Dieskau (1971, 294), dass »die Tonartenabfolge […] übrigens auch bei der Transposition möglichst beibehalten werden sollte«. | |
Berechnet wurden die Gesamtdauern als Addition der 24 einzelnen Lied-Dauern, wobei die Dauer jedes Liedes präzise vom Einsatz bis zum vollständigen Verklingen erhoben wurde. Pausen zwischen den Liedern wurden, auch im Falle von Live-Mitschnitten, nicht berücksichtigt, da eine Veränderung dieser Dauern im Rahmen des Masterings der Aufnahmen in nahezu allen Fällen angenommen werden muss. Alle Messdaten wurden in Sonic Visualiser erhoben und in Excel-Tabellen verarbeitet. Im Falle jener fünf frühen Aufnahmen, die in Nr. 1 »Gute Nacht« die zweite Strophe auslassen (vgl. Anm. 25), wurde die Dauer der Takte 7–38 separat gemessen und zur realen Gesamtdauer hinzugezählt. Dies schien notwendig, um in Bezug auf das mittlere Tempo, vor allem aber auch in Bezug auf die Dauernverhältnisse zwischen den Liedern und Phasen des Zyklus keine irreführenden Werte zu erhalten. Diese Verhältnisse (vgl. unten, Tab. 12E, 13, 14E) sind zwar auf Grundlage der Dauern berechnet, können aber auch als Tempoverhältnisse verstanden werden. Eine Dauer von 4:02/5:38 für Nr. 1, die reale Dauer der Aufnahme Duhan+Foll 1928, würde irreführende Implikationen in Bezug auf das gewählte Tempo mit sich bringen, das in der Tat mit 55,8/50,8 nur geringfügig über dem Mittelwert liegt. Die mittels Verdopplung der Dauer der Takte 7–38 errechnete Dauer 5:14/5:38 entspricht diesem Tempo und damit dem Verhältnis des Liedes zu den folgenden besser. Die tatsächlichen Dauern von Nr. 1 in diesen fünf Aufnahmen sind (modifizierte Dauern in Klammern): Duhan+Foll 1928: 4:02 (5:14); Hüsch+Müller 1933: 3:59 (5:07); Lehmann+Ulanowsky 1941: 4:15 (5:28); Schmitt-Walter+Leitner 1941: 4:50 (6:16); Rothmüller+Gyr 1944: 4:38 (6:01). Legt man diese realen Dauern zu Grunde, ergibt sich ein Dauernmittelwert-106 für Nr. 1 von 5:34 statt 5:38. | |
Die der Messung des Initialtempos zugrunde liegenden Takte sind (›mA‹: mit Auftakt): Nr. 1: T. 1–14, Nr. 2: T. 1mA–22.3, Nr. 3: T. 1mA–16, Nr. 4: T. 1–22, Nr. 5: T. 1–23, Nr. 6: T. 1–13, Nr. 7: T. 1–20, Nr. 8: T. 1–26.1, Nr. 9: T. 1–13, Nr. 10: T. 1–14, Nr. 11a: T. 1mA–14.5, Nr. 11b: T. 14.6–26, Nr. 11c: T. 27–43, Nr. 12: T. 1–13, Nr. 13: T. 1–23, Nr. 14: T. 1mA–13, Nr. 15: T. 1–13.1, Nr. 16: T. 1mA–12, Nr. 17: T. 1–14, Nr. 18: T. 1–9.2, Nr. 19: T. 1mA–19, Nr. 20: T. 1mA–18, Nr. 21: T. 1–9.2, Nr. 22: T. 1–18.1, Nr. 23: T. 1mA–13.1, Nr. 24: T. 1–30. Wie genau eine ›mittlere musikalische Formeinheit‹ im Einzelfall definiert werden soll, kann gewiss unterschiedlich eingeschätzt werden. Kriterium für die Wahl der Messpunkte waren in diesem Fall weniger formanalytische Überlegungen als vielmehr qualitative Beobachtungen anhand ausgewählter Aufnahmen, bis zu welcher Zäsur das Tempo tendenziell stabil bleibt. Dabei umfassen die Abschnitte abhängig von der formalen Anlage sehr unterschiedliche Prozentanteile der Gesamtlänge eines Liedes. Während etwa die Takte 1–14 in Nr. 1 »Gute Nacht« nur 10,26 % der Gesamtlänge ausmachen, so sind in der kleinteiligen Form von Nr. 11 »Frühlingstraum« die drei ersten Formteile jeweils vollständig erfasst (T. 1mA–14.5, T. 14.6–26, T. 27–43), da Binnenkadenzen (etwa in Takt 8 oder Takt 36) zu kurze Abschnitte für die Berechnung eines (implizierten) ›Grundtempos‹ ergeben hätten. | |
Vgl. Gabrielsson 1999, 540–542. | |
Alle Tempoangaben in diesem Aufsatz erfolgen in beats per minute (bpm). | |
Die Tempomittelwerte der vier Strophen sind: Strophe 1: 61,2 bpm (T. 7–33, prima volta), Strophe 2: 60,6 bpm (T. 7–33, seconda volta), Strophe 3: 58,7 bpm (T. 39–65), Strophe 4: 52,5 bpm (T. 71–99). Es wird dabei eine allgemeine Tendenz vieler Aufnahmen besonders deutlich, insbesondere jene, die vierte Strophe – in Folge der Wendung in die Dur-Variante der Grundtonart – deutlich langsamer zu nehmen. | |
Die meisten Aufnahmen zeigen in Nr. 8 »Rückblick« einen relativ hohen Wert für die Temposchwankung, was sich daraus ergibt, dass der mittlere Abschnitt dieses Liedes (T. 28–48) in der Regel deutlich langsamer genommen wird als die Rahmenabschnitte. Bei einem Mittelwert von 19,62 liegen nur acht der 106 Werte unter 10,00 mit einem Minimum von 4,30 bei Wilson-Johnson+Norris 1984 (vgl. unten). | |
Schubert gibt in Nr. 8 und 13, im Gegensatz zu Nr. 11 »Frühlingstraum«, keine Tempomodifikation für die kontrastierenden Abschnitte an. | |
Erläutert anhand des Liedes Nr. 1 »Gute Nacht« bedeutet das Folgendes: Die 106 Dauern dieses Liedes haben den Mittelwert 5:38 (338,09 Sekunden; mit Maximalwert 7:36 und Minimalwert 3:41). Die Berechnung der absoluten Standardabweichung ergibt 0:36 (35,76 Sekunden; im Durchschnitt weicht eine einzelne Aufnahme also um ca. 36 Sekunden vom Mittelwert ab), daraus ergibt sich die relative Standardabweichung 35,76/338,09 x 100 = 10,58 %. Von der Standardabweichung zu unterscheiden ist die Schwankungsbreite, also der Abstand zwischen Minimal- und Maximalwert. Die absolute Schwankungsbreite für die Dauer von Nr. 1 liegt bei 3:55 [235,28 Sekunden] (7:36–3:41), die relative Schwankungsbreite, ausgedrückt als Prozentsatz des Mittelwertes, liegt bei 235,28/338,09 x 100 = 69,59 %. Die relative Standardabweichung ist für eine Erhebung allgemeiner Tendenzen der geeignetere Wert, da hier vereinzelte Extremwerte (›outliers‹) weniger ins Gewicht fallen; dennoch gibt auch die Schwankungsbreite einen wichtigen Aufschluss über die realisierten Extreme der Tempo- bzw. Dauerngestaltung. | |
Vgl. hierzu u. a. Utz/Glaser 2020, 175–190. | |
Diese fünf Faktoren erfassen nur etwas über 50 % der Daten. Eine noch höhere Zahl von Faktoren wäre aber für die Analyse schwer handhabbar gewesen. Bei der Faktorenanalyse des vollständigen Korpus von 106 Aufnahmen zeigen sich deutliche Auswirkungen der stärkeren Streuung der Daten, sodass die Faktoren hier weniger ausgeprägt sind. | |
Vgl. Youens 1991, 272–277 (vgl. 2.). Es ist gewiss kein Zufall, dass es sich bei Nr. 20, Nr. 5 und Nr. 13 (neben Nr. 4 »Erstarrung«) auch um jene Lieder handelt, die in der Konzertpraxis des 19. Jahrhunderts am häufigsten aus dem Zyklus ausgekoppelt und als einzelne Lieder (oder innerhalb kleinerer Gruppen von Liedern) dargeboten wurden (vgl. Loges 2021). | |
Die folgenden Kriterien zur Eingrenzung der makroformalen Modelle wurden gezielt gewählt, um nur jeweils eine kleine Anzahl von Aufnahmen als die charakteristischsten Vertreter eines Modells eingrenzen zu können. Wie die folgende Diskussion zeigen wird, werden dennoch immer wieder auch andere Aufnahmen vergleichend herangezogen, die aus unterschiedlichen Gründen Affinitäten mit den diskutierten Modellen aufweisen, selbst wenn sie die quantitativen Kriterien nicht ganz erfüllen. | |
So beruft sich etwa Ian Bostridge auf diese Aufnahme, durch die er als Teenager »Zugang zu diesem Zyklus« gefunden habe (2015, 76). | |
Unter den fünf längsten Aufnahmen von Nr. 6 sind drei Aufnahmen mit Robert Holl (neben Holl+Grubert 1995 noch Holl+Maisenberg 1987: 5:04 und 1995: 5:13), während die beiden anderen Aufnahmen Holls von Nr. 6 deutlich kürzer sind (Holl+Richter 1980: 4:20, Holl+Lutz 2001: 4:22). Ähnliches gilt für Holls Interpretationen von Nr. 14 (vgl. Tab. 14E.6 und 14E.14). | |
»What makes this new recording so close to my heart is the partnership with Thomas Ades, whom l’ve worked with so much as composer, conductor and pianist. Touring the piece with him through Europe and the US was a revelation. He brings to the piece a deep searching musical intellect – going back to the manuscript and digging up new readings which the editors have missed – and an imagination which recreates sound and meaning in this, the greatest of all song cycles.« (Bostridge 2019, 5) | |
Es scheint möglich, die auffallend langsame Deutung von »Im Dorfe« auch als eine spezifisch britische Tradition anzusprechen: Benjamin Britten und Peter Pears dehnen dieses Lied in beiden Aufnahmen in extremer Weise (1963: 4:05/3:08, 1970: Maximaldauer 4:12/3:08). Zwei Aufnahmen Bostridges liegen deutlich über dem Dauernmittelwert, eine knapp darunter (Bostridge+Andsnes 2004: 3:06/3:08), wobei es sich bei der Aufnahme mit Adès um die längste/langsamste dieser drei Aufnahmen handelt. | |
Markus Vorzellner zitiert im CD-Booklet folgende Aussage Zedniks: »Man hat unendliche Freude mit dieser Musik. Sie ist der Anfang, und sie ist das Ende! […] Man müsste – freilich nur als Experiment – den Leiermann an den Beginn stellen, denn von ihm geht alles aus! Das Ich fragt ihn ja: ›Willst zu meinen Liedern deine Leier dreh’n?‹ und der Leiermann spielt auch nach dieser Frage noch weiter.« (Vorzellner 2015, 3) | |
Insgesamt besteht allerdings kein signifikanter Zusammenhang von tiefer Stimmlage und langsamem Tempo. Der Mittelwert der Gesamtdauern der insgesamt 81 Aufnahmen, deren Sänger in der Diskographie als Bass oder Bass-Bariton erfasst sind, ergibt zwar mit 1:12:41 einen um 1:11 über dem Mittelwert M408 1:11:30 liegenden Wert, darunter sind aber mit den je sechs Aufnahmen Robert Holls (Mittelwert 1:16:45) und Hans Hotters (Mittelwert 1:14:51) zwei besonders zu langsamen Tempi neigende Interpreten (der Mittelwert der 69 übrigen Aufnahmen mit Bässen oder Bass-Baritonen liegt mit 1:12:10 nur 0:40 über dem Mittelwert M408). Zu beachten ist daneben, dass die längste erfasste Aufnahme von einem Tenor (Araiza+Lemaire 1993, 1:26:33) und eine der kürzesten Aufnahmen von einem Bass gesungen wird (Czerwenka+Schneider 1981, 1:00:26). | |
»Die Winterreise schildert […] die zornige Flucht eines Mannes, der, bedrängt von sozialen Unterschieden, den Ort seiner Liebe verlässt. […] Er flieht hastig, aber er ergibt sich nicht demütig in sein Schicksal, sondern verspürt Zorn und Wut. Ich besinge keinen wehmütigen Abschied […], vielmehr verlässt ein aufgewühlter, zorniger Mensch in großer Hast seine Liebe – Sie hören es bereits durch das Tempo der ersten drei Lieder.« (Kollo 2004, 9) | |
Vgl. Budde 2003, 84 und Utz 2020, 346. | |
Neben Shirai+Höll 1990 wird diese Transposition für die Lieder 23 und 24 unter den 106 untersuchten Aufnahmen nur noch in einer weiteren Aufnahme, Price+Dewey 1997, gewählt. | |
Angesichts des zeitgeschichtlichen Kontextes dieser Aufnahme aus dem Jahr 1933 geht man sicher nicht fehl, hier, wie an manchen anderen Stellen dieser Interpretation, auch martialische, wenn nicht militaristische Untertöne aus solchen punktierten Rhythmen (und einer entsprechend ›heroischen‹ Intonation der Gesangsstimme) herauszuhören, stand Gerhard Hüsch doch der NS-Ideologie nahe, wie sich nicht zuletzt an seiner Mitwirkung an Propaganda-Schallplatten wie Das Hakenkreuz (Telefunken A1381, mx 19038) und Deutschland erwache (Telefunken A1381, mx 19039) mit Mitgliedern des Berliner Philharmonischen Orchesters im Jahr 1934, also ein Jahr nach der Winterreise-Aufnahme, zeigt. (»Gerhard Hüsch war bekennender Nationalsozialist, der mit Inbrunst auch patriotische und nationalsozialistische Gesänge vortrug.« Elste 2000, 209) | |
Dass diese Tempodisposition wesentlich durch eine Zeitstruktur der Filme William Kentridges vorgegeben gewesen sein könnte, die Teil zweier intermedialer Aufführungen waren, auf die diese Aufnahme zurückgeht (Festival d’Aix-en-Provence, 8. und 15.7.2014), dürfte eher unwahrscheinlich sein, da keine strenge Synchronisierung zwischen Bild und Musik zugrunde liegt und die Filme am Ende jedes Liedes durch einfaches Ausblenden beendet werden. | |
Alle im Folgenden indirekt zitierten Aussagen sind diesem Gespräch entnommen. Ein Videomitschnitt des Gesprächs ist unter https://phaidra.kug.ac.at/o:121741 verfügbar. | |
Das Initialtempo der beiden Lieder ist zwar recht deutlich zu unterscheiden (Nr. 1: 56,0, Nr. 20: 48,1), wobei im Hörerlebnis dennoch der Eindruck einer (annähernden) Tempoidentität entstehen kann. Vgl. hierzu genauer die Beiträge von Kilian Sprau und Bartolo Musil in der vorliegenden Ausgabe. | |
Leech-Wilkinson, »What is ›Challenging Performance‹?«, https://challengingperformance.com. Vgl. Leech-Wilkinson 2020. |
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Universität für Musik und darstellende Kunst Graz [University of Music and Performing Arts Graz]
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