Seedorf, Thomas / Marc Bangert (2021), »›Von einem Mann gesungen ist sie so etwas vollkommen anderes‹. Schuberts Winterreise in der Deutung von Sängerinnen« [“Sung by a man, it is something completely different”: Schubert’s Winterreise as Interpreted by Female Singers], Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 18/Sonderausgabe [Special Issue], 327–340. https://doi.org/10.31751/1131
eingereicht / submitted: 06/02/2021
angenommen / accepted: 16/06/2021
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 05/11/2021
zuletzt geändert / last updated: 07/11/2021

»Von einem Mann gesungen ist sie so etwas vollkommen anderes«

Schuberts Winterreise in der Deutung von Sängerinnen

Thomas Seedorf, Marc Bangert

Schubert Winterreise war bis in die 1980er Jahre hinein eine Domäne tiefer Männerstimmen. Nach vereinzelten Vorläufern wie Peter Anders oder Peter Pears wurde der Zyklus erst seit Mitte der 1980er Jahre häufiger von Tenören gesungen und aufgenommen. Parallel zur wachsenden Präsenz von Tenören vollzog sich ein weiterer Paradigmenwechsel, indem zunehmend auch Sängerinnen wie Christa Ludwig oder Brigitte Fassbaender die Winterreise interpretierten. Sie konnten sich einerseits auf das Vorbild großer Liedsängerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Elena Gerhardt und vor allem Lotte Lehmann berufen und andererseits darauf verweisen, dass es in der Winterreise um grundlegende, nicht geschlechtsgebundene menschliche Erfahrungen geht. Von Männern gesungen bewegt sich die Singstimme in der Winterreise über weite Strecken in einem Tonraum unterhalb der Oberstimme des Klavierparts. Frauenstimmen hingegen singen in der notierten Oktavlage und damit entweder auf einer Ebene mit oder oberhalb der Klavierstimme, d. h. die Klangrelation zwischen Stimme und Klavier ist eine andere als in Interpretationen von Männerstimmen. An einigen Stellen entstehen durch nach unten oktavierte Ausführung der männlichen Gesangsstimme irreguläre Quartsextakkorde, die zwar aufgrund von wahrnehmungspsychologischen Phänomenen nicht als solche gehört werden, aber dennoch eine Ambiguität von Notation und Klang erzeugen. Diese Ambiguität entfällt bei der Ausführung in der notierten Oktavlage, die zugleich andere Beziehungen zwischen Stimm- und Klavierklang hervortreten lässt.

Until the 1980s, Schubert’s Winterreise was usually sung by low male voices. Despite sporadic precursors such as Peter Anders or Peter Pears, the cycle had not been sung and recorded frequently by tenors before the mid-1980s. Contemporaneous to tenors’ growing interest, another paradigm change was initiated by female singers such as Christa Ludwig or Brigitte Fassbaender performing Winterreise. In doing so, they were able to rely, on the one hand, on the example of great female lieder singers of the first half of the twentieth century such as Elena Gerhardt and especially Lotte Lehmann; on the other, they were able to point out that Winterreise deals with basic human insights which are not gender-specific. Sung by male singers, the singing voice in Winterreise is predominantly positioned in a space below the upper voice of the piano part. Female voices, on the contrary, sing in the notated octave register, thus in the same register as the piano part or above it: the sound relation between voice and piano differs from performances by male voices. In some instances, an octave-transposed rendition of the male singing voice results in irregular 6/4-chords. Although the irregularity of these chords is not perceived due to psychological phenomena, they produce an ambiguity of notation and sound. This ambiguity is absent in performances that conform to the notated octave register, thus exhibiting different relations between the sounds of the voice and piano.

Schlagworte/Keywords: Aufführungsgeschichte; Franz Schubert; Frauenlied; Männerlied; music perception; Musikwahrnehmung; octavation of vocal part; Oktavierung der Singstimme; performance history; Winterreise; women art song

Seit der Bariton Julius Stockhausen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begonnen hatte, zyklische Aufführungen von Schuberts Winterreise im Konzertsaal zu etablieren, war und blieb das Werk auf dem Podium und seit dem frühen 20. Jahrhundert zunehmend auch auf Tonträgern die Domäne tiefer Männerstimmen: von Baritonen wie Hans Duhan, der den Zyklus im Schubert-Jahr 1928 vollständig für die Schallplatte aufnahm, und vielen weiteren Vertretern dieser Stimmgattung, unter denen vor allem Dietrich Fischer-Dieskau die Deutung des Zyklus für mehrere Jahrzehnte prägte, aber auch von Bassisten wie Josef Greindl oder Kurt Moll und Bassbaritonen wie Hans Hotter oder Theo Adam, um nur einige der beinahe unüberschaubar vielen Sänger zu nennen, deren Auseinandersetzung mit der Winterreise auf Tonträgern und audiovisuellen Medien dokumentiert ist.[1]

Inmitten dieser durch tiefe Stimmen geprägten Aufführungs- und Aufnahmegeschichte bildeten Interpretationen der Winterreise von Tenören lange Zeit eine Ausnahme. Auf die Aufnahmen, die Peter Anders 1945 und 1948 machte, folgten Anfang der 1960er Jahre zwar Einspielungen von Anton Dermota (1962), Peter Pears (1963) und Julius Patzak (1964), ohne aber die globale Vorherrschaft der tieferen Männerstimmen infrage zu stellen. Erst seit Mitte der 1980er Jahre häufen sich Aufführungen und Aufnahmen der Winterreise von Tenören: von Peter Schreier (1985 und 1991) über Christoph Prégardien (1996 und 2012) bis Jonas Kaufmann (2013) und Ian Bostridge (1997, 2004 und 2018) sowie zahlreichen weiteren Sängern. Auch wenn es weiterhin Aufführungen und Aufnahmen des Zyklus mit Baritonen, Bässen und Bassbaritonen gibt, hat die wachsende Präsenz von Tenor-Interpretationen einen wichtigen Wandel in der Auseinandersetzung mit dem Werk bewirkt. Zentral ist für mehrere dieser Aufnahmen die Wiederherstellung der ursprünglichen Tonarten und ihrer Relation, die in den für tiefere Stimmen transponierten Fassungen in der Regel substantiell verändert ist.[2] Gesungen von Tenören erhält der Zyklus aber auch einen anderen Charakter. Für Julian Prégardien, der die Winterreise sowohl im Original als auch in Hans Zenders »komponierter Interpretation« gesungen hat, besitzt »eine hohe Stimmlage, eine gespanntere Stimme […] etwas Expressiveres. Die Explosionen des Wanderers in den Liedern in der höheren Tonart sind einfach immenser.«[3]

Zeitlich parallel zur wachsenden Präsenz von Tenören vollzog sich ein weiterer Paradigmenwechsel im Deutungsspektrum der Winterreise. Zunehmend traten nun Interpretinnen des Zyklus hervor. Die ersten in jüngerer Zeit von Sängerinnen realisierten Gesamtaufnahmen des Zyklus legten 1988 Christa Ludwig (mit James Levine) und 1990 Brigitte Fassbaender (mit Aribert Reimann) vor, 1991 folgte Mitsuko Shirai (mit Hartmut Höll). Die Option, die Winterreise als Sängerin zu gestalten, etablierte sich im Anschluss an diese drei sehr unterschiedlichen Deutungen nachhaltig im Musikleben. Viele Sopranistinnen, Mezzosopranistinnen und Altistinnen folgten diesen Vorbildern, unter ihnen Rosemarie Lang (1994), Margaret Price (1997), Nathalie Stutzmann (2003), Christine Schäfer (2003), Barbara Hendricks (2010), Alice Coote (2013) und Joyce DiDonato (2021). Tabelle 1 gibt einen chronologischen Überblick über Aufnahmen der Winterreise mit Sängerinnen.

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Tabelle 1: Schuberts Winterreise in Aufnahmen von Sängerinnen 1940–2021 (S: Sopran, Ms: Mezzosopran, A: Alt); die Jahreszahlen geben das Veröffentlichungsdatum an.

Im Unterschied zu Tenören, die sich darauf berufen konnten, Schuberts Lieder in den Originaltonarten zu singen und damit den Intentionen des Komponisten in besonderer Weise zu entsprechen, empfanden viele Sängerinnen, die sich der Winterreise zuwandten, die Notwendigkeit, ihre Entscheidung für dieses Werk zu legitimieren. Für Mitsuko Shirai etwa besteht die »Berechtigung, die Winterreise als Frau zu singen«, darin, dass der Zyklus »eine grundmenschliche Erfahrung des Abgelehntwerdens, des Aufruhrs und Ausbruches, der Vereinsamung« schildert. »Es sind keine brünstigen Liebeslieder aus männlicher Perspektive.«[4] Für Brigitte Fassbaender behandeln viele sogenannte Männerlieder, auch die der Winterreise, allgemein menschliche Themen: »Das kann doch eine Frau genauso nachvollziehen wie ein Mann!«[5] Eine andere Legitimationsstrategie ist der Verweis auf Vorgängerinnen.[6] Im Booklet zu Christa Ludwigs Aufnahme heißt es: »In unserem Jahrhundert wurde die ›Winterreise‹ mit großem Erfolg beispielsweise von Elena Gerhardt und Lotte Lehmann interpretiert.«[7] In den Liner notes zur 2013 erschienenen Aufnahme von Alice Coote reicht die Ahnenreihe dann bereits von Gerhardt und Lehmann über Fassbaender, Stutzmann und Schäfer bis Hendricks.[8]

Die Liste der Vorläuferinnen ließe sich bis in die Schubert-Zeit verlängern. In einem Brief vom 22. Januar 1828 teilte Maria Pratobevera ihrem künftigen Mann Josef Bergmann über ihre Schwester Franziska mit, sie singe »wirklich seelenvoll, besonders die neuesten Lieder von Schubert ›Die Winterreise‹«.[9] Einzellieder aus dem Zyklus gehörten bis weit ins 20. Jahrhundert zum Repertoire vieler Sängerinnen.[10] Eine strikte Unterscheidung zwischen ›Männerliedern‹, die nur von Männern gesungen werden sollten, und ›Frauenliedern‹, die Sängerinnen vorbehalten sind, gab es bis zum frühen 20. Jahrhundert nicht. Der Konzertsaal, der ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend zum zentralen Ort des Liedgesangs wurde, galt im Unterschied zur Opernbühne als »geschlechtsneutraler Ort«[11], an dem das Ich einer in Musik gesetzten Dichtung und das biologische Geschlecht der Ausführenden nicht identisch sein mussten.[12] Der Liedvortrag folgte eher dem »Ideal eines androgyn gedachten lyrischen Sprechens«.[13]

Zyklische Aufführungen der Winterreise waren noch im frühen 20. Jahrhundert insgesamt selten. Die Altistin Therese Behr-Schnabel war eine der ersten Sängerinnen, die das Werk vollständig im Konzert vortrugen, erstmals in der Wintersaison 1909/10 in Berlin, am Klavier begleitet von ihrem Mann Artur Schnabel.[14] Im Schubert-Jahr 1928 sang sie neben der Winterreise auch Die schöne Müllerin und Schwanengesang als vollständige Zyklen.[15] Im selben Jahr veröffentlichte Elena Gerhardt Schallplattenaufnahmen von acht Liedern der Winterreise, vor allem aber sang sie den ganzen Zyklus in mehreren Konzerten. Während sie Schuberts Schöne Müllerin oder Robert Schumanns Dichterliebe nicht aufführte, »da diese Lieder fast durchweg an eine Frau gerichtet sind«,[16] hatte Gerhardt gegen den Vortrag der Winterreise keine Bedenken:

Dieser Liederzyklus kann gut von einer Frau interpretiert werden. Er bringt unglückliche Liebe, Hoffnungslosigkeit und Resignation darüber zum Ausdruck, dass das Leben nichts mehr bereithalten kann, wofür es sich zu leben lohnte. Warum sollte eine Frau, die diese Gefühle verstehen kann, nicht in der Lage sein, den Zyklus aufzuführen? Für mich ist die Psychologie dieses Zyklus die von unglücklicher Liebe überhaupt und hängt nicht von einem besonderen männlichen oder weiblichen Zugang ab.[17]

Im Unterschied zu Sängerinnen des 19. Jahrhunderts, für die die Differenzierung zwischen Männer- und Frauenliedern keine oder eine nur geringe Bedeutung besaß, verschiebt Gerhardt den Akzent auf die individuelle künstlerische Überzeugungskraft. Lotte Lehmann, die erste Sängerin, die die Winterreise komplett aufnahm, argumentierte in ähnlicher Weise, ohne sich spezifisch auf die Winterreise zu beziehen: »Why should a singer be denied a vast number of wonderful songs, if she has the power to create an illusion which will make her audience believe in it?«[18]

Lehmanns Aufnahme der Winterreise aus den Jahren 1940/41 war eine Pioniertat, die in der 1950 entstandenen Gesamtaufnahme des Zyklus der Mezzosopranistin Inez Matthews (mit Lowell Farr am Klavier) ein vereinzeltes Echo fand. Die 1976 erschienene Aufnahme der Winterreise mit der Sopranistin Lois Marshall und dem Pianisten Anton Kuerti ist vor den epochemachenden Veröffentlichungen von Christa Ludwig und Brigitte Fassbaender die Ausnahme, die die Regel bestätigt, dass Vortrag und Aufnahme der Winterreise bis Ende der 1980er Jahre Männersache war.

* * *

In der Gegenwart gilt die Interpretation der Winterreise durch Sängerinnen als eine von mehreren legitimen Aufführungsmöglichkeiten, die in jüngster Zeit durch Aufführungen und Aufnahmen von Countertenören noch erweitert wurden.[19] Die zunehmende Akzeptanz weiblicher Stimmen lässt Genderfragen in den Hintergrund treten und schafft Raum für die Auseinandersetzung mit anderen Aspekten wie dem grundlegenden Unterschied der Klangverhältnisse zwischen Singstimme und Klavier. Von Männern gesungen bewegt sich die Singstimme in der Winterreise über weite Strecken in einem Tonraum unterhalb der Oberstimme des Klavierparts. Frauenstimmen hingegen singen in der notierten Oktavlage und damit entweder auf einer Ebene mit oder oberhalb der Klavierstimme.

Georges Starobinski[20] und vor allem Rebecca Grotjahn[21] haben an Liedern Robert Schumanns gezeigt, wie stark dieser Komponist Gesangs- und Klavierpart aufeinander abstimmte und die Stimme zu einem »Teil der gesamten Klangfarbe«[22] machte. Erklingt der Gesangspart eine Oktave tiefer als notiert, können sich auf klanglicher Ebene andere Akkordstrukturen ergeben als jene, die im Notentext fixiert sind. Mit Blick auf einige Lieder der Dichterliebe, »in denen Schumann stellenweise eine Art Frauenchorsatz komponiert (mit der Bassstimme in der Altlage, ein typisches Stilmittel der Dichterliebe)«, spricht Grotjahn von regelrechten »Satzfehlern«, die durch die Oktavierung der Singstimme entstehen, da durch sie in mehreren Fällen aus Akkorden in Grundstellung oder aus Sextakkorden Quartsextakkorde an Orten entstünden, an denen sie nach den noch für Schumann gültigen Tonsatzregeln nicht stehen dürften.[23]

In der Winterreise führt Schubert Singstimme und Bassstimme des Klavierparts meist so, dass sich durch Tiefoktavierung klanglich keine solchen falschen Akkordstellungen ergeben. Es gibt aber eine Reihe von Ausnahmen. Eine findet in sich in Takt 60 mit Auftakt in »Erstarrung« (Nr. 4; Bsp. 1, Audiobsp. 1).

Abbildung

Beispiel 1: Schubert, Winterreise, Nr. 4 »Erstarrung«, T. 60–61

Audiobeispiel 1: Schubert, Winterreise, Nr. 4 »Erstarrung«, T. 60–63; a. Christine Schäfer, Eric Schneider, Franz Schubert: Winterreise, CD ONYX 4010, ℗&© 2006, Track 4, 1:22–1:30; b. Daniel Behle, Oliver Schnyder, Franz Schubert, Winterreisen, CD Sony Classical G010003046558F, ℗&© 2015 Sony Music Entertainment Switzerland GmbH, CD 2, Track 4, 1:28–1:36

Betrachtet man nur die Klavierstimme, sind im Auftakt ein As-Dur-Sextakkord und in der ersten Hälfte von Takt 60 ein dominantischer Quintsextakkord zu erkennen. Der jeweils höchste Ton der triolischen Begleitfigur entspricht den Melodietönen der Singstimme. Wird diese eine Oktave tiefer als notiert gesungen, werden die beiden auf der Terz stehenden Akkorde zu Grundstellungsakkorden.

Durch Oktavierung der Singstimme entstehende Unterschreitungen der Klavierharmonien finden sich verschiedentlich in der Winterreise, sie sind aber, wie im eben gezeigten Fall, meistens viel kürzer als in den von Grotjahn behandelten Liedern Schumanns. Eine große Ausnahme stellt das Lied »Die Krähe« (Nr. 15) dar. Ein Charakteristikum dieses Liedes ist die Führung der Bassstimme des Klaviers in hoher Lage; erst in Takt 29 führt Schubert sie wieder in tiefe Regionen, äußerlich sichtbar am Wechsel vom Violin- zum Bassschlüssel. In der Notation werden Singstimme und Unterstimme des Klavierparts von Takt 6 bis 12 unisono geführt. Durch eine Oktavierung des Gesangsparts verändern sich die Akkordstrukturen zunächst nicht, wohl aber die Klangrelationen zwischen Stimme und Klavier. Wird die Singstimme in der notierten Lage gesungen, bewegt sie sich mit dem Klavier auf einer Ebene und verschmilzt klanglich beinahe mit der instrumentalen Unterstimme. Bei Oktavierung des Gesangsparts wird dieser zur tiefsten Stimme.

Zu satztechnischen Anomalien aufgrund einer Tiefoktavierung der Singstimme, die den von Grotjahn für Schumanns Dichterliebe aufgezeigten Stellen vergleichbar sind, kommt es in Schuberts »Krähe« ab Takt 16 (Bsp. 2a, Audiobsp. 2).

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Beispiel 2a: Schubert, Winterreise, Nr. 15 »Die Krähe«, T. 16–23

Audiobeispiel 2: Schubert, Winterreise, Nr. 15 »Die Krähe«, T. 16–43; a. Christine Schäfer, Eric Schneider, Franz Schubert: Winterreise, CD ONYX 4010, ℗&© 2006, Track 15, 0:28–1:30; b. Daniel Behle, Oliver Schnyder, Franz Schubert, Winterreisen, CD Sony Classical G010003046558F, ℗&© 2015 Sony Music Entertainment Switzerland GmbH, CD 2, Track 15, 0:36–1:49

Die Singstimme bewegt sich in diesem Fall bis Takt 23 stets unterhalb des Klavierparts und lässt andere als die notierten Akkordstrukturen entstehen. Besonders deutlich wird dies in den jeweils dritten Takten der Viertaktgruppen (T. 18 und 22), wenn statt Grundstellungsakkorden auf es1 bzw. f1 Quartsextakkorde auf der ersten Zählzeit entstehen. In den vorangehenden Takten (T. 16 und 17, T. 20 und 21) verhält es sich im Prinzip analog, der Hauptton der Melodie wird aber durch eine Appoggiatur (T. 16 und 20) bzw. einen ausnotierten Vorhalt (T. 17 und 21) verschleiert. In Takt 25 kehrt die Konstellation von Takt 6 wieder: Singstimme und Unterstimme des Klavierparts laufen unisono, dieses Mal allerdings nur vier Takte lang. In Takt 29 mit Auftakt führt Schubert die instrumentale Bassstimme eigenständig weiter. Bei Oktavierung der Singstimme erklingt diese in den Takten 29, 34 und 36 wiederum deutlich unter dem instrumentalen Bass (Bsp. 2b, Audiobsp. 2).

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Beispiel 2b: Schubert, Winterreise, Nr. 15 »Die Krähe«, T. 29–30

Die wohl auffälligste Anomalie findet sich in »Das Wirtshaus« (Nr. 21; Bsp. 3, Audiobsp. 3). In Takt 19 und 21 enden Zweitaktgruppen jeweils halbschlüssig auf einem C-Dur-Akkord in Grundstellung. Bei oktavierter Gesangsstimme erklingt an diesen Stellen ein g als tiefster Ton und es entsteht ein Quartsextakkord, der nach den traditionellen Tonsatzregeln, die Schubert hier offenkundig nicht außer Kraft setzen will, dort nicht stehen darf.

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Beispiel 3: Schubert, Winterreise, Nr. 21 »Das Wirtshaus«, T. 18–21

Audiobeispiel 3: Schubert, Winterreise, Nr. 21 »Das Wirtshaus«, T. 18–21;
a. Christine Schäfer, Eric Schneider, Franz Schubert: Winterreise, CD ONYX 4010, ℗&© 2006, Track 21, 2:03–2:33;
b. Daniel Behle, Oliver Schnyder, Franz Schubert, Winterreisen, CD Sony Classical G010003046558F, ℗&© 2015 Sony Music Entertainment Switzerland GmbH, CD 2, Track 21, 1:48–2:12

Bisher hat offenbar noch niemand Kritik an dieser letztlich auf den Komponisten selbst zurückgehenden Aufführungspraxis der Winterreise geübt,[24] bei der durch die Oktavierung der Singstimme satztechnische Problemfälle entstehen, genauer gesagt: zu entstehen scheinen. Aus wahrnehmungspsychologischer Perspektive verhält es sich nämlich ganz anders.

Ein Zusammenspiel mehrerer empirisch untersuchter Mechanismen des Hörsystems könnte zum Ausbleiben einer wahrnehmbaren Wirkung der problematischen Akkordumkehrungen beitragen. Die bei der Analyse einer komplexen auditorischen Szene im Gehirn automatisch und vorbewusst auftretende ›Kanaltrennung‹ des akustischen Geschehens in sinnhafte Einzelquellen (die sogenannte stream segregation) spielt hierbei eine wesentliche Rolle.[25] Zwei Aspekte sind insbesondere für die Betrachtung von Liedinterpretationen entscheidend:

(1) Für die Quellentrennung sind Klangfarbe, Lautheitsdifferenzen und Gestaltprinzipien (wie Stimmführung) wichtiger als die Oktavlage,[26] sodass Solostimme und Klavierbegleitung beim Hören in separate streams getrennt werden.[27] Sind diese erst einmal isoliert, werden sie auf neuronaler Ebene in je eigenständigen Prozessen weiterverarbeitet.[28]

(2) Perzeptuelle Interferenzen, die beispielsweise Tonsatzregeln betreffen können, werden vor allem innerhalb eines streams prägnant; zwischen wahrgenommener Melodie und wahrgenommener Begleitung ist für die unbewussten Prozesse nurmehr die grundsätzliche Passung des Tonalitätsbezugs von Bedeutung. So werden vom hörenden Gehirn Solostimme und Begleitung eher nach der Prägnanzdimension (›vorne – hinten‹) als nach der Tonhöhendimension (›oben – unten‹) kategorisiert.

Im Fall der Winterreise könnte der Effekt durch ein weiteres, überlagertes Phänomen verstärkt werden: Besonders Hörer*innen, die bereits mit verschiedenen aufführungspraktischen Fassungen – und damit verschiedenen Oktavlagen – vertraut sind, haben vorab unabhängige auditive Prototypen[29] und damit veridikales Wissen[30] um die Klanglichkeit der verschiedenen Oktavlagen abrufbar im sensorischen Erfahrungsfundus abgespeichert. Diese veridikalen Klang-Prototypen erleichtern eine schnelle implizite (und damit ebenfalls vorbewusste) Oktavierung des Vordergrundkanals,[31] sodass eventuelle Regelbrüche kognitiv ›repariert‹ werden können, noch bevor sie bewusst werden würden.

Die beschriebenen Automatismen sind nicht nur kaum aktiv unterdrückbar, sondern zudem von der musikalischen Expertise der Hörer*innen unabhängig.[32] So kann es selbst bei vorheriger analytischer Kenntnis des Notentextes und entsprechender kognitiver Erwartung (z. B. einer auch hörbaren Manifestation einer Quartsext-Wirkung) geschehen, dass sich der vorhergesagte Höreindruck nicht, oder nur unter Anstrengung, einzustellen vermag.

Auch wenn die geschilderten Anomalien im Perzeptionsakt korrigiert werden, lassen sie sich, wie Selbstversuche zeigen, mit einer gewissen Übung und Konzentration als solche wahrnehmen, wenn auch nur schwach – als eine Ambiguität von Notation und Klang. Dass Schubert den in einer Aufführung mit oktavierender Männerstimme entstehenden schwebenden Klang nicht bedacht hat, ist kaum anzunehmen. Eher ist zu vermuten, dass er die Ambiguität an den wenigen Stellen, bei denen das beschriebene Phänomen auftritt, bewusst zugelassen hat. Für eine solche Sichtweise spricht Schuberts bewusster und sensibler Umgang mit Quartsextakkorden, wie er sich besonders anschaulich in einem Liedmanuskript studieren lässt.[33] In der ersten Fassung der im November 1819 komponierten Strophe von Schiller aus »Die Götter Griechenlands« D 677 (»Schöne Welt, wo bist du?«) verbleibt die viertaktige Eröffnungsphrase auf einem a-Moll-Quartsextakkord, der einen harmonischen Schwebezustand entstehen lässt (Bsp. 4).

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Beispiel 4: Schubert, Strophe von Schiller aus »Die Götter Griechenlands« D 677, T. 1–4

In einer mit Bleistift ausgeführten Revision dieser Fassung, die wohl mit Blick auf eine Veröffentlichung unternommen wurde, hat Schubert am Ende der Phrase den Quintton e im Bass zum Grundton a weitergeführt und damit aus dem Quartsext- einen Grundstellungsakkord gemacht. Das geschah wohl nicht zuletzt mit Blick auf den Schluss des Liedes, der die Eingangstakte wieder aufnimmt und in der ersten Fassung mit dem eingangs exponierten Quartsextakkord schloss. Was im Experimentierraum des Manuskripts für Schubert eine ästhetisch plausible Möglichkeit darstellte, hätte – und das war Schubert wohl bewusst – in den Augen der Öffentlichkeit als Fehler oder doch zumindest als ein bizarrer Einfall gegolten.

* * *

Schuberts Winterreise wurde von Sängerinnen unterschiedlicher Stimmgattungen aufgenommen. Tabelle 1 zeigt, dass Mezzosopranistinnen am stärksten vertreten sind, gefolgt von Sopranistinnen, Altistinnen bilden die kleinste Gruppe. So unterschiedlich die Aufnahmen hinsichtlich zentraler Parameter wie Stimmtimbre, Zusammenwirken von Stimme und Klavier, Tonartenwahl und des interpretatorischen Zugangs im Allgemeinen auch sind, so ist allen gemeinsam, dass der Part der Singstimme in der notierten Oktavlage erklingt, die oben gezeigten Anomalien und die aus ihnen erwachsenden Ambiguitäten also nicht auftreten.

Gesungen von Frauenstimmen ergeben sich aber ganz andere Klangbeziehungen zwischen Gesangs- und Klavierpart. Nur in wenigen Liedern verdoppelt Schubert die Melodie der Singstimme im Klavierpart, etwa im »Lindenbaum« (Nr. 5) und im »Wegweiser« (Nr. 20) sowie als Unterstimme in der »Krähe« (Nr. 15). In diesen Liedern ist das Mitspielen der Singstimme allerdings nur eine von mehreren Formen der Verbindung von Gesang und Klavier. Im »Wirtshaus« gibt es hingegen nur wenige Momente, in denen die Melodie nicht auch im Klavierpart erklingt. In der ersten Strophe spielt die Oberstimme des Klaviers die Töne der Singstimme mit, nicht aber deren Rhythmus. In der zweiten Strophe verhält es sich zunächst analog, ab der zweiten Hälfte von Takt 12 tritt im Klavier aber eine Oberstimme hinzu, die die Melodie variierend weiterentwickelt, während die melodieführende Singstimme zu einer Mittelstimme wird, deren Töne weiterhin vom Klavier verdoppelt werden. Erklingt der Gesangspart in der notierten Lage, steht er klanglich-strukturell in einer deutlich dichteren Beziehung zu der sich aus der Melodie gleichsam herauslösenden Oberstimme als bei einer oktavierten Ausführung (Bsp. 5, Audiobsp. 4).

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Beispiel 5: Schubert, Winterreise, Nr. 21 »Das Wirtshaus«, T. 6–15

Audiobeispiel 4: Schubert, Winterreise, Nr. 21 »Das Wirtshaus«, T. 18–21;
a. Christine Schäfer, Eric Schneider, Franz Schubert: Winterreise, CD ONYX 4010, ℗&© 2006, Track 21, 0:36–1:47;
b. Daniel Behle, Oliver Schnyder, Franz Schubert, Winterreisen, CD Sony Classical G010003046558F, ℗&© 2015 Sony Music Entertainment Switzerland GmbH, CD 2, Track 21, 0:36–1:35

Von besonderer Bedeutung ist die Frage nach der Oktavlage der Singstimme in den »Nebensonnen« (Nr. 23, Bsp. 6, Audiobsp. 5). In diesem Lied nähert Schubert den Klaviersatz dem Modell eines mehrstimmigen Männerstimmenensembles an. Das instrumentale Vorspiel antizipiert die ersten vier Takte des Gesangs. Nimmt man Schuberts Notation wörtlich, liegt die Singstimme eine Oktave über der Oberstimme des Klaviers, der in diesem Satzmodell die Funktion eines 1. Tenors zukommt. Erklingt die Singstimme eine Oktave tiefer als notiert, singt sie unisono mit der Klavieroberstimme. Das wäre innerhalb des Zyklus ebenso außergewöhnlich wie der Oktavabstand zwischen Singstimme und Klavieroberstimme im anderen Fall. Ein männlicher Interpret singt seinen Part gleichsam als Teil eines imaginären Vokalensembles, eine Sängerin dagegen steht mir ihrer Stimme auf Distanz zu diesem Ensemble. Der klangliche Unterschied ist auch ein räumlicher und eröffnet neue Deutungsmöglichkeiten.

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Beispiel 6: Schubert, Winterreise, Nr. 23 »Die Nebensonnen«, T. 1–8

Audiobeispiel 5: Schubert, Winterreise, Nr. 21 »Das Wirtshaus«, T. 18–21;
a. Christine Schäfer, Eric Schneider, Franz Schubert: Winterreise, CD ONYX 4010, ℗&© 2006, Track 23, 0:00–0:39;
b. Daniel Behle, Oliver Schnyder, Franz Schubert, Winterreisen, CD Sony Classical G010003046558F, ℗&© 2015 Sony Music Entertainment Switzerland GmbH, CD 2, Track 23, 0:01–0:35

Zuhörer*innen haben Brigitte Fassbaender nach einer Aufführung der Winterreise »bestätigt, daß das Konzerterlebnis ihnen einen wieder ganz anderen Einblick in das Werk erlaubt hat. Und genau so empfinde ich es auch: Ich liebe die ›Winterreise‹ von Fischer-Dieskau gesungen – und meine liebste Aufnahme ist die von Peter Anders. Von einem Mann gesungen ist sie so etwas vollkommen anderes, daß ich das überhaupt nicht vergleichen würde.«[34]

Anmerkungen

1

Einen umfassenden Überblick über Aufnahmen der Winterreise bieten die Website https://winterreise.online sowie ein von der Bibliothek der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar erstelltes Verzeichnis von über 500 Einspielungen des Werks auf CD, LP, DVD und VHS: https://www.hfm-weimar.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Bibliothek/Winterreise_Bestandskatalog_fuer_Auslage.pdf. Vgl. auch Tabelle 4E des Beitrags von Christian Utz in der vorliegenden Ausgabe.

2

Vgl. zu den in den Aufnahmen der Winterreise realisierten Tonarten den Beitrag von Christian Utz in der vorliegenden Ausgabe, Abschnitt 3.

3

Keisinger 2016, 17.

4

Zit. nach Kohlhaas 1991, 11.

5

Fassbaender 2010, 90.

6

Vgl. Kramer 2011, 159.

7

Kunze 1988, 12.

8

Vgl. Finch 2013, 2.

9

Deutsch 1964, 481.

10

Vgl. Borchard 2014.

11

Günther 2019, 339. Vgl. den Beitrag von Natasha Loges in der vorliegenden Ausgabe.

12

Vgl. Borchard 2013, 121.

13

Günther 2019, 339.

14

Vgl. Saerchinger 1957, 102.

15

Vgl. ebd.

16

Gerhardt 2011, 160.

17

Ebd.

18

Lehmann 1945, 16.

19

Zvi Emanuel-Marial (mit Philip Mayers), Thorofon 2013; Xavier Sabata (mit Francisco Poyato), Berlin Classics 2019.

20

Starobinski 2014, 307–311.

21

Grotjahn 2017.

22

Ebd., 293.

23

Ebd., 294.

24

Vgl. Franz von Schobers Bericht über Schubert eigenen Vortrag des ersten Teils der Winterreise im Frühjahr 1827 in Deutsch 1983, 161.

25

Vgl. Bregman 1990, Shepard 1999 und Deutsch 2013a.

26

Vgl. Deutsch 1975, Deutsch 2010 und Deutsch 2013a.

27

Vgl. Bregman 1990 und Moore/Gockel 2012.

28

Vgl. Almonte/Jirsa/Large/Tuller 2005.

29

Vgl. Remez/Rubin/Pisoni/Carrell 1981.

30

Vgl. Bharucha 1993.

31

Vgl. Deutsch 1972, 1979, 2013b und Deutsch/Boulanger 1984.

32

Vgl. Sauvé/Pearce 2017.

33

Vgl. Schubert, Strophe aus »Die Götter Griechenlands« D 677, https://schubert-online.at/activpage/werke_einzelansicht.php?top=1&werke_id=414&herkunft=allewerke.

34

Fassbaender 1996, 46.

Literatur

Almonte, Felix / Viktor K. Jirsa / Edward W. Large / Betty Tuller (2005), »Integration and Segregation in Auditory Streaming«, Physica D: Nonlinear Phenomena 212/1–2, 137–159.

Bharucha, Jamshed (1993), »Tonality and Expectation«, in: Musical Perceptions, hg. von Rita Aiello und John A. Sloboda, Oxford: Oxford University Press, 213–239.

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