Glaser, Thomas (2021), »Formgestaltung aus aufführungspraktischer Perspektive. Zur Interpretationsgeschichte von Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120« [The Shaping of Form from a Practical Performance Perspective: The Performance History of Beethoven’s 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120], Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 18/Sonderausgabe [Special Issue], 253–285. https://doi.org/10.31751/1128
eingereicht / submitted: 13/06/2021
angenommen / accepted: 28/08/2021
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 05/11/2021
zuletzt geändert / last updated: 30/03/2022

Formgestaltung aus aufführungspraktischer Perspektive

Zur Interpretationsgeschichte von Beethovens
33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120[1]

Thomas Glaser

Dieser Beitrag untersucht auf Grundlage einer umfassenden quantitativen Datenerhebung aus 66 Gesamteinspielungen von Beethovens ›Diabelli-Variationen‹ mit Aufnahmedatum zwischen 1937 und 2018 Aufführungsweisen von Pianist*innen zur Gestaltung zyklischer Makroform. Aufnahmen dieser Variationenfolge bieten ein weites Feld, um methodische Ansätze der musikalischen Interpretationsforschung zu erproben. Es liegt ein Ansatz zugrunde, der sich sowohl einer computergestützten Auswertung als auch ästhetisch-deskriptiver Höranalysen bedient und es zulässt, innerhalb des aufführungsgeschichtlichen Kontextes unterscheidbare Gesamtdramaturgien zu differenzieren. Die Aufnahmeanalysen stützen sich auf die absoluten Dauern des Themas und der 33 Variationen sowie auf deren Prozentanteile an der Gesamtdauer. Weitere Datenbestände bilden die Werte der Initialtempi und der Grad an Stabilität und Flexibilität in den Tempogestaltungen der Pianist*innen (unter Bezugnahme auf die relative Standardabweichung). Die Untersuchung der Interpretationsgeschichte von Beethovens op. 120 legt pianistische Aufführungsstrategien offen, die ein Spannungsfeld zwischen makroformaler Kohärenz und mikroformalen Details abstecken.

In this article, a performance analysis of Beethoven’s “Diabelli Variations” op. 120 is presented, based on a corpus of recordings made between 1937 and 2018. Complete recordings of this cycle offer ample opportunities to reconsider methodological approaches in musical performance studies. Discussions of the staging of large-scale form in performance emerge from quantitative and qualitative software-based research into sixty-six complete recordings. Pianists’ form-shaping strategies are examined, tracing varying approaches to cyclic form and their historical contexts. Analyses of audio recordings involve the absolute durations of the theme and the thirty-three variations and their relationship to the total duration (expressed as percentage values). Further data assembled are initial tempo values and each pianist’s degree of stability and flexibility in tempo (by referring to the relative standard deviation). By exploring the performance history of Beethoven’s op. 120, this article aims at differentiating performative dramaturgies that move between the poles of macroformal coherence and microformal detail.

Schlagworte/Keywords: Analyse von Tonaufnahmen; analysis of sound recordings; Diabelli Variations op. 120; Diabelli-Variationen op. 120; Interpretationsanalyse; Interpretationsforschung; Interpretationsgeschichte; Ludwig van Beethoven; macroform; Makroform; performance analysis; performance history; performance studies

Einleitung

Eine in ihrer Struktur komplexe Komposition wie Beethovens ›Diabelli-Variationen‹ eröffnet vielfältige Möglichkeiten zur klanglichen Realisierung ihrer zyklischen Konzeption. Auf einer Quellenbasis von 66 Gesamteinspielungen (1937–2018)[2] wird in diesem Beitrag eine aufführungsbezogene Analyse verfolgt, die die Eigenständigkeit der klanglichen Realisierungen in Bezug auf die notentextliche Vorlage herausstreicht. In den Fokus des Erkenntnisinteresses rücken musikalische Aufführungen als gültige Kunstwerke eigenen Rechts, die neben das schriftlich kodifizierte Werk treten. Dessen Formarchitektur erhält Gestalt durch eine spezifische Disposition von Aufführungsparametern wie Tempo, Dynamik, Artikulation etc., ebenso wie durch das Beachten oder – bei einer Reihe von Pianist*innen – Nicht-Beachten von Abschnittswiederholungen bzw. das Hinzufügen von Wiederholungen, die Beethoven nicht notierte.

Auch bieten die Gesamteinspielungen dieser Variationenfolge ein weites Feld, um methodische Ansätze der musikalischen Interpretationsforschung zu erproben. Methodisch liegt ein Ansatz zugrunde, der sich sowohl einer computergestützten Auswertung als auch ästhetisch-deskriptiver Höranalysen bedient und es zulässt, ein differenziertes Bild der Interpretationsgeschichte der Variationen op. 120 zu zeichnen. Folgende Daten wurden im Rahmen der Aufnahmeanalysen erhoben: Aus den Dauernmessungen des Themas und der Einzelvariationen wurden deren Prozentanteile an der Gesamtdauer der jeweiligen Einspielung berechnet. Für die 34 Stücke wurde zudem ein Initialtempo in jenen Takten ermittelt, die formal betrachtet als strukturelle Einheit maßgebend sind (vgl. unten, Tab. 3a). Das Initialtempo bildet dabei das Durchschnittstempo der vermessenen Takte ab, Temposchwankungen im Spiel der Pianist*innen innerhalb dieser Einheiten, etwa durch ritardandi oder accelerandi, berücksichtigt der Wert nicht. Den Dauern, Prozentanteilen und Initialtempi wurde als weiterer Wert die relative Standardabweichung zur Seite gestellt, die als Prozentanteil des Mittelwerts angegeben wird.

Die Längsschnittstudie erlaubt es, unterscheidbare Gesamtdramaturgien in den Tonaufnahmen zu differenzieren, die ein Spannungsfeld zwischen makroformaler Kohärenz einerseits und mikroformalen Details andererseits sicht- und hörbar machen (anhand der aus den Aufnahmeanalysen gewonnenen Daten und deren graphischer Aufbereitung im Zusammenspiel mit den bereitgestellten Audiobeispielen). Thematisiert werden auf diese Weise auch unterschiedliche Perspektiven auf die wechselseitige Beeinflussung von lokalen und globalen Dimensionen musikalischer Form. Neben Tonaufnahmen sind ebenso schriftliche Quellen Untersuchungsgegenstände. Die instruktiven Ausgaben von Hans von Bülow (1872) und Artur Schnabel (1924) enthalten neben Aufführungshinweisen und Metronomzahlen auch Angaben zur großformalen Anlage und erörtern Möglichkeiten der zyklischen Gestaltung von Beethovens op. 120. Konturen der Interpretationsgeschichte treten ab Mitte des 20. Jahrhunderts auf einer breiteren Quellenbasis an Tonaufnahmen zutage, wodurch sich Perspektiven eröffnen, die Interpretationsstile und Strategien von Pianist*innen zur formalen Gestaltung des Zyklus zu differenzieren und in den aufführungsgeschichtlichen Kontexten zu verorten. Den Dokumenten der Aufführungsgeschichte wird somit auf zweifache Weise begegnet: den Notendrucken mit einem theoretisch-hermeneutischen Ansatz, woraufhin die Einspielungen als praktizierte Interpretationen in den Blick genommen werden können.

Methodischer Ansatz

Ausgangspunkt ist eine Untersuchung der Zeitgestaltung von Pianist*innen in ihren Gesamteinspielungen von Beethovens ›Diabelli-Variationen‹ mit dem Ziel, Aussagen über Merkmale der praktischen Interpretationen treffen zu können. Zu diesem Zweck erfolgte zunächst eine Messung sowohl der absoluten Dauern des Themas und der 33 Variationen als auch der Gesamtdauer einer Tonaufnahme mit der Software Sonic Visualiser[3] (Tab. 1). In einem zweiten Schritt wurde der Quotient aus der Einzeldauer eines jeden der 34 Stücke und der Gesamtdauer einer Einspielung gebildet. Das Resultat dieser Division, multipliziert mit 100, wird in weiterer Folge Prozentanteil genannt und als Maßzahl interpretiert, die anzeigt, wie stark oder schwach Pianist*innen Thema und Variationen innerhalb der Gesamtdauer ›gewichten‹[4] und welche Stücke als Attraktionspunkte durch Verknappung bzw. Ausdehnung in der großformalen Anlage der Diabelli-Variationen hervortreten (Tab. 2). Auch die Reihung von Stücken mit ungefähr gleichem anteiligen Gewicht oder deren Vorkommen an verschiedenen Stellen der Variationenfolge lassen eine Deutung von Aufführungsstrategien zu und formale Bezüge erkennen. Für den Fall, dass in Einspielungen Teilwiederholungen von einigen Pianist*innen nicht beachtet bzw. ergänzt worden sind, sind neben den ›realen‹, auf Tonträger realisierten Dauern auch ›virtuelle‹ Dauern unter Beachtung der im Notentext festgehaltenen Wiederholungszahl berechnet worden.[5] Die Diagramme 1 und 2 versammeln die hinsichtlich einer Divergenz von realen und virtuellen Dauern auffälligsten Einspielungen. In den Gesamtübersichten der Dauern und Prozentanteile (Tab. 1 und 2) sind zum Zweck der besseren Vergleichbarkeit die virtuellen Werte dieser Aufnahmen berücksichtigt.

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Tabelle 1: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Dauern von Thema und 33 Variationen in 66 Einspielungen mit Angabe der Gesamtdauern, des Mittelwerts (MW 66), des Minimal- und Maximalwerts sowie der relativen Standardabweichung (STABW %); rot: Maximalwerte; grün: Minimalwerte; gelb: mittlere Werte; zur besseren Lesbarkeit ist diese Tabelle auch im PDF-Format verfügbar (https://storage.gmth.de/zgmth/media/1128/Glaser_Diabelli_Tab01.pdf).

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Tabelle 2: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Prozentanteile von Thema und 33 Variationen in 66 Einspielungen mit Angabe des Mittelwerts (MW 66), des Minimal- und Maximalwerts sowie der relativen Standardabweichung (STABW %); rot: Maximalwerte; grün: Minimalwerte; gelb: mittlere Werte; zur besseren Lesbarkeit ist diese Tabelle auch im PDF-Format verfügbar (https://storage.gmth.de/zgmth/media/1128/Glaser_Diabelli_Tab02.pdf).

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Diagramm 1: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, reale und virtuelle Dauern von Thema und 33 Variationen in vier Einspielungen
(Géza Anda 1961, Yvonne Lefébure 1975, Andrew Rangell 1977, Daniel Varsano 1980) mit Angabe der Gesamtdauern und des Mittelwerts (MW 66)

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Diagramm 2: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, reale und virtuelle Prozentanteile von Thema und 33 Variationen in vier Einspielungen
(Géza Anda 1961, Yvonne Lefébure 1975, Andrew Rangell 1977, Daniel Varsano 1980) mit Angabe der Gesamtdauern und des Mittelwerts (MW 66)

Bei der Bestimmung der Tempi ist die genannte Software zur Tonträgeranalyse ebenfalls zum Einsatz gekommen. Im Unterschied zu den Messungen der Dauern sind nicht vollständige Tempoverläufe für das Thema und die Variationen erfasst, sondern die erhobenen Daten gehen aus Messungen eines Initialtempos hervor, so wie es die Pianist*innen in einer ersten abgeschlossenen Formeinheit über eine Länge von vier bis zwölf Takten etablieren (Tab. 3a und 3b). Die Messeinheit orientiert sich an dem Grundpuls einer solchen Formeinheit. Der in den Anfangstakten gemessene Wert kann folglich nicht als mittleres Tempo für das gesamte Stück angenommen werden, da die weitere Tempoverlaufsgestaltung unberücksichtigt bleibt. Als weitere Messdaten treten zu den Dauern- und Tempowerten deren (arithmetische) Mittelwerte des Samples aus 66 Gesamteinspielungen und die relative Standardabweichung hinzu. Diese Prozentzahl ist ein relatives Streuungsmaß, das angibt, wie stark die einzelnen Messwerte um den Mittelwert streuen, und ermöglicht Aussagen über Flexibilität und Stabilität der Dauern- und Tempoverläufe. Mit anderen Worten: Je höher dieser Wert, desto auffälliger sind die Abweichungen zwischen den Aufnahmen.[6]

Für eine Priorisierung von Elementen der Zeitgestaltung spricht, dass die Analyse von Dauern und Tempi am ehesten objektive Befunde liefern und eine solide Datenbasis bereitstellen kann. Gegenüber anderen, nicht minder aufführungs- und für die Hörrezeption relevanten Phänomenen wie Artikulation, Phrasierung, Dynamik, Bewegungsform, Kontrastbildung etc. besitzen beide Parameter im Rahmen einer Korpusstudie den Vorteil, dass sie durch systematische Messungen in quantifizierbare Vergleichsgrößen überführt werden können. Um die Reliabilität der Datenerhebungen zu gewährleisten, sind bei der computergestützten Auswertung der Tonträger identische Messmethoden für den jeweiligen Parameter zur Anwendung gekommen, wodurch eine vergleichende Gegenüberstellung der Ergebnisse möglich wird. Ein weiteres Argument, das für diesen Zugang spricht, sind die (nach wie vor) vorhandenen technischen Hürden, mit denen Forschende sich bei der Parameterbestimmung in klingenden Interpretationen konfrontiert sehen. Die Bestimmung der Relationen zwischen verschiedenen Parametern ist weiterhin ein Desiderat, dem es zu begegnen gilt.[7]

Der vorliegende Beitrag orientiert sich an methodischen Ansätzen jüngerer Arbeiten, die sich ausgehend von der Erforschung von Zeitverlaufsphänomenen der Interpretations- und Aufnahmegeschichte von Beethovens Werken gewidmet haben:

Aspekte der Zeitgestaltung sind – zumindest in der Untersuchung abendländischer Orchestermusik – die wichtigsten Komponenten musikalischer Interpretation, die sich durch quantitative Bestimmung von Dauern und Tempi vergleichsweise einfach objektivieren lassen und deren Messung als probates Mittel der musikalischen Interpretationsforschung allgemein akzeptiert ist.[8]

Des Weiteren wird als Argument ins Feld geführt: »[…] the musical parameter ›tempo‹ is, just as any other musical parameter, not only a measurable value but one always shaped by history and aesthetic judgements.«[9]

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Tabelle 3a: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Messverfahren Initialtempi

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Tabelle 3b: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Initialtempi von Thema und 33 Variationen in 66 Einspielungen mit Angabe des Mittelwerts (MW 66), des Minimal- und Maximalwerts sowie der relativen Standardabweichung (STABW %); rot: Maximalwerte; grün: Minimalwerte; gelb: mittlere Werte; zur besseren Lesbarkeit ist diese Tabelle auch im PDF-Format verfügbar (https://storage.gmth.de/zgmth/media/1128/Glaser_Diabelli_Tab03b.pdf).

Jede Auswertung von Dauern- und Tempodaten setzt ein Interpretieren voraus. Gleiches macht auch der Einbezug qualitativer Merkmale erforderlich, die im Rahmen dieser Studie durch Höranalysen ausgewählter Stellen und deren Vergleich erschlossen werden (»close listening«), um damit die skizzierte quantitative Datenanalyse, auf die sich die Korpusstudie stützt (»distant listening«[10]), zu ergänzen und weitere aufführungspraktisch relevante Momente der klanglichen Realisierungen zu erschließen. Unbestritten dürfte sein, dass praktische Interpretationen (und die Komplexität musikalischer Phänomene insgesamt) nicht ausschließlich in den Gestaltungsweisen musikalischer Zeitverläufe greifbar sind und eine Analyse von Aufführungsstilen weitere performative Elemente zu berücksichtigen hat.

Mit der graphischen Aufbereitung der gewonnenen Daten unter Verwendung verschiedener Visualisierungsformen findet eine mediale Übertragung vom Klang zum Bild statt. Die Präzision in der Wahrnehmung klanglicher Phänomene kann durch die beschriebenen Verfahren zweifelsohne erhöht werden. Einer Deutung zugänglich sind gleichwohl nur die spezifischen Elemente, die im Rahmen einer quantitativen Daten- und qualitativen Höranalyse eine Auswertung erfahren haben, nicht die Musik ›an sich‹.[11] Aus quellenkritischer Perspektive ist zu berücksichtigen, dass das jeweilige Aufnahmemedium durch die Art und Weise, wie es aufzeichnet, zugleich prägt, was es wiedergibt. Sind Einspielungen aus der Frühzeit der Aufnahmetechnik vor dem Hintergrund der medialen Bedingungen ihrer Aufzeichnung Forschungsgegenstand,[12] so rücken jüngere Aufnahmen aufgrund der technischen Möglichkeiten, die die post production zur Tongestaltung bietet, in den Fokus.[13]

Thema und Variation 1

Tonaufnahmen von Beethovens Werken für Klavier allein haben in jüngerer Zeit seitens der Interpretationsforschung einige Aufmerksamkeit erfahren. Insbesondere die Klaviersonaten standen im Fokus des Interesses,[14] Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120 waren im Vergleich dazu weniger häufig Forschungsgegenstand im Hinblick auf Fragen der praktischen Interpretation.[15] In der analytischen Literatur zu Beethovens op. 120 sind der Umgang des Komponisten mit dem Thema und die Referenzen der 33 Variationen zu dem von Anton Diabelli vorgegebenen Walzer vielfach thematisiert worden. William Kinderman weist darauf hin, dass Beethovens ›Kommentierungen‹ des Walzers sowohl auf der Ebene von Thema und Einzelvariation als auch für die Formgebung des Variationenwerks insgesamt prägend seien:

[…] thematic parody is used in an unprecedented way, to shape the overall form of the work. […]

By parodying the theme directly, with its melodic contours intact, Beethoven made the waltz itself into an indispensable foundation for the overall musical progression. In fact, in the work we know, all of the supporting pillars of the overall form depend upon the recapitulation of the melodic shape of Diabelli’s theme.[16]

Neben dem melodischen Umriss arbeitet Kinderman weitere Strukturmerkmale des Walzers heraus, die sich eigentümlich statisch ausnehmen und Beethoven Vorlagen für sein variatives Verarbeiten boten: »The static harmonic scheme of the waltz is underscored by […] repeated chords, with their persistent emphasis on G [Oberstimme, T. 1–8]. lt is not surprising that Beethoven should depart from this static aspect of the waltz in most of his variations.«[17] Neben Kinderman haben Lars Ulrich Abraham, Arnold Münster, Claus Raab und Johannes Picht aus je (auch in terminologischer Hinsicht) unterschiedlichen Blickwinkeln sich Diabellis Walzer genähert, diesen in Auseinandersetzung mit analytischen Befunden älterer Arbeiten kommentiert und sich um eine historisch-ästhetische Kontextualisierung von Beethovens kompositorischen Verfahrensweisen bemüht.[18] Die Annahme scheint berechtigt, dass die Rezeption von Diabellis Walzer nicht unwesentlich durch einen Beethoven zugeschriebenen Ausspruch geprägt worden ist, den Anton Schindler überliefert: »›Nu, der [Diabelli] soll über seinen Schusterfleck Variationen haben!‹«[19] Auf Basis der Annahme, Beethoven habe mit dieser satirischen Bemerkung einen normativen Bezugsrahmen geschaffen, in dem das eigene Komponieren gegenüber dem thematischen Ausgangsmaterial positioniert werde, rückten die 33 Variationen während der nachfolgenden Generationen in das Blickfeld der Kommentator*innen.[20]

Wie Kinderman anhand von Skizzenstudien zeigen konnte, plante Beethoven ursprünglich, die als Nr. 3 gedruckte Variation dem Thema folgen zu lassen; die Variationen 1 und 2 entstanden während der zweiten Kompositionsphase 1822/23.[21] Die in der letztgültigen Fassung auf den Walzer folgende Marschvariation beschreibt Kinderman als »pointed reference to the waltz« und »parody of the theme«[22] und identifiziert u. a. die Reihung von elf Tonikaakkorden in Grundstellung in der rechten Hand (T. 1–4) und die Quartbewegung im Bass (c-G-c) als parodistische Elemente in Beethovens kompositorischem Umgang mit Diabellis Walzer. Durch die Neuanlage der Reihenfolge, die Beethoven vornahm, bleibt in der gedruckten Fassung der melodische Umriss des Themas in Variation 1 erkennbar, der Kontrast zwischen dem Thema und dem Beginn der Variationenfolge wird gemildert bzw. deren ›Anschluss‹ gewährleistet. In diesem Sinne analysiert Kinderman die dritte Variation dann als »thorough transformation of the theme«.[23]

Um einen ersten Zugang zu den praktischen Interpretationen zu schaffen, bietet sich ein Vergleich der Zeitgestaltung der Pianist*innen in Thema und Variation 1 an. Vor dem Hintergrund der obigen Skizzen- und analytischen Befunde ist die Frage von Interesse, welche Gestaltungsweisen ausführende Musiker*innen wählen und wie sie Thema und erste Variation zueinander positionieren. Aus den 66 untersuchten Gesamteinspielungen ragen jene von Anatol Ugorski (1991) und Carmen Piazzini (2007) als besonders markante, in ihren zeitlichen Verläufen entgegengesetzte Deutungen heraus. Beide Einspielungen besetzen hinsichtlich ihrer Dauern- und Tempogestaltung Extrempositionen. Die innerhalb des Samples früheste Aufnahme, Artur Schnabel (1937), nimmt nicht nur im Vergleich mit Ugorski 1991 und Piazzini 2007, sondern auch mit Blick auf die aus allen Einspielungen ermittelten Durchschnittswerte eine eher mittlere Position ein (vgl. unten, Diag. 3a und 3b). Neben seiner Einspielung dient ebenso Schnabels instruktive Ausgabe der ›Diabelli-Variationen‹ von 1924, die weitere Einblicke in den interpretatorischen Zugang des Pianisten eröffnet, als Quelle.

Schnabels Aufnahme von 1937 weist ausgeglichene Werte in den Initialtempi zwischen Thema (Vivace;  = 77,0) und Variation 1 (Alla marcia maestoso;  = 77,5) auf, er überführt den Wert des ganztaktigen Pulses, den er im Walzerthema anschlägt, auf den Halbepuls in der Marschvariation (Audiobsp. 1). In den absoluten Werten liegt er damit etwas unter den Metronomzahlen seiner instruktiven Ausgabe (Tab. 4a), der gleichbleibende Grundpuls im Übergang von Thema zu Variation 1, den er dort anzeigt, zeichnet seine Einspielung aber gleichwohl aus. Durch die Beibehaltung der Metronomangabe M. M. (Mälzels Metronom) = 80–84 definiert er in seiner Ausgabe für die punktierte Halbe des Themas und die halbe Note in Variation 1 einen identischen Temporaum[24] und gibt bezüglich der Marschvariation die Anweisung »sempre ben in tempo«.[25] Die Dauer des Themas in Schnabel 1937 entspricht dem Mittelwert (0:51/0:51), die erste Variation unterschreitet diesen leicht (1:39/1:44). In Kindermans Einspielung (1994) bewegen sich die Dauern und Anfangstempi von Thema (0:50/0:51; 78,2/79,3) und Variation 1 (1:45/1:44; 76,6/78,1) nahe den Mittelwerten.

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Tabelle 4a: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, instruktive Ausgabe von Artur Schnabel (Schnabel 1924);
Übersicht über Tempovorschriften, Taktarten, Metronomangaben und Länge der Übergänge zwischen den Einzelvariationen (F: Fermate, Lp: Luftpause)

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Tabelle 4b: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, instruktive Ausgabe von Hans von Bülow (Bülow 1892 [1872]);
Übersicht über Tempovorschriften, Taktarten, Metronomangaben und Makroform

Audiobeispiel 1: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Thema und Variation 1; Artur Schnabel 1937
(Beethoven. Piano Works Volume 11. Diabelli Variations – Bagatelles, Op. 126 – Rondo a capriccio, Naxos Historical 8.110765, ℗&© 2005, Track 1 und Track 2, 0:00–0:30)

Im Vergleich mit Schnabel 1937 kann bei Piazzini 2007 (Audiobsp. 2) und – dazu entgegengesetzt – bei Ugorski 1991 (Audiobsp. 3) von einer dramaturgischen Verschiebung der Perspektive auf das vorgegebene Walzerthema gesprochen werden. Beide Pianist*innen arbeiten in ihren Einspielungen einen Kontrast heraus, der anhand einer Gegenüberstellung der initialen Tempowerte (Piazzini: 77,0–107,7;[26] Ugorski: 75,1–51,9) und Dauern (Piazzini 0:52–1:18; Ugorski 0:53–2:47) ersichtlich wird. Piazzini etabliert in der ersten Variation das Maximaltempo aller Einspielungen, Ugorski dagegen die Maximaldauer und das zweitlangsamste Tempo nach Grigory Sokolov (1985; 49,3). Folge dieser Deutungen ist, dass beide Male die für Schnabel 1937 so charakteristische Gleichmäßigkeit der Bewegung nicht hervortritt (Diag. 3a und 3b). Die kürzesten Dauern für Variation 1 (jeweils 1:16) finden sich bei Julius Katchen (1953) und Daniel Varsano (1980). Die Tempowerte dieser beiden Einspielungen liegen in den ersten acht Takten mit  = 100,0 und 103,2 dann aber unter dem Maximalwert von Piazzini 2007 (107,7), deren Dauer geringfügig länger ist (1:18).

Den Befund, den diese Datenlage zulässt, dass nämlich im weiteren Verlauf Tempomodifikationen in Piazzinis Einspielung auftreten, kann eine Höranalyse im Detail aufschlüsseln, indem sie die Stellen benennt, an denen Piazzini etwas verlangsamt. Dies dient zunächst der Abschnittsgliederung. So ist nach dem wiederholten ersten Teil und im Übergang zum zweiten Piazzinis ritardando in Takt 16 ausgeprägter als bei der ersten Teilwiederholung. Zudem ›steuert‹ die Pianistin in der zweiten Variationshälfte das Erreichen der sforzato-artikulierten Subdominate in Takt 25 an. Eine nochmalige Temporeduktion erfährt diese Stelle im zweiten Durchlauf. Insgesamt setzt Piazzini agogische Nuancierungen in Variation 1 jedoch sparsam ein.

Neben Varsano 1980 ist Piazzini 2007 zugleich die Aufnahme, in der sich die Dauern von Thema und Variation 1 am stärksten einander annähern (Differenz 0:26), bei Ugorski 1991 ist die Differenz dagegen am größten (1:54) und exponiert diese Einspielung innerhalb des Samples (Tab. 5).[27] Sein sehr gedehntes Tempo eröffnet Ugorski die Möglichkeit, die dynamischen Verläufe in der ersten Variation gewissermaßen ›auszubuchstabieren‹ und dynamische Kontraste herauszupräparieren. Dabei wird aber zugleich dem ›Effekt-Piano‹ in Form eines crescendo mit nachfolgendem subito piano (T. 12–15) in beiden Durchläufen seine unvermittelte Kraft genommen. Schnabel dagegen weist in seiner Ausgabe durch Einfügen eines forte in Kleinstich ausdrücklich an, das letzte Achtel in Takt 14 entsprechend stark zu artikulieren. Einige Details des dynamischen Kontrasts, die seine Ausgabe vorsieht, lässt Schnabel in der Einspielung allerdings unberücksichtigt. So folgen die gegensätzlichen dynamischen Stufen am Ende von Takt 14 nicht unvermittelt aufeinander, da das crescendo nicht mit letzter Konsequenz weitergeführt wird (und bereits auf dem verminderten Septakkord in Takt 14 abbricht); das (subito) piano setzt im Grunde zu früh ein (besonders auffällig im zweiten Durchgang). Die ›Pointe‹ der dynamischen Entwicklung mit einem crescendo, das anstatt in einem Forte-Höhepunkt in einem (subito) piano auf der Dominante (T. 15) kulminiert, bleibt so aus.

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Diagramm 3: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Thema und Variation 1 in drei Einspielungen (Schnabel 1937, Ugorski 1991, Piazzini 2007);
a. Dauern und b. Initialtempi mit Angabe von Mittel- (MW 66), Maximal- und Minimalwerten

Audiobeispiel 2: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Thema und Variation 1; Carmen Piazzini 2007
(Franz Hummel – L. v. Beethoven. Diabelli Variations, Neos 20807/08, ℗ 2007 Bayerischer Rundfunk / NEOS Music GmbH / PRIMA LA MUSICA,
© 2009 NEOS Music GmbH, Track 1 und Track 2, 0:00–0:22)

Audiobeispiel 3: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Thema und Variation 1; Anatol Ugorski 1991
(Ludwig van Beethoven. Diabelli-Variationen, DGG 435 615-2, ℗ 1992, Track 1 und Track 2, 0:00–0:46)

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Tabelle 5: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Differenzwerte zwischen Variation 1 und Thema (links Initialtempi, rechts Dauern);
rot: Maximalwerte; grün: Minimalwerte; gelb: mittlere Werte

Die Variationen 3 bis 10

Der sich steigernde Bewegungszug, den Beethoven von Variation 3 bis Variation 5 anlegt (L’istesso tempo – Un poco più vivace – Allegro vivace) und generell der ›Zusammenschluss‹ benachbarter Variationen durch aufeinander Bezug nehmende Tempoangaben sind merkmalsgebend für den Beginn der Variationen op. 120. Neben den Variationen 2 (Poco allegro) und 3 (L’istesso tempo) zeigt sich dies auch im Verbund der Variationen 6 (Allegro ma non troppo e serioso), 7 (Un poco più allegro) und 8 (Poco vivace) sowie in der Aufeinanderfolge von Variation 9 (Allegro pesante e risoluto) und Variation 10 (Presto). In seiner instruktiven Ausgabe setzt Schnabel eine klare Abschnittsgrenze nach Variation 10, wo er »Luftpause: elf 3/4-Takte«[28] notiert (vgl. oben, Tab. 4a). Diese Angabe markiert die ausgedehnteste Zäsur innerhalb der Abfolge aller Variationen bis zu diesem Punkt (und innerhalb des gesamten Zyklus überhaupt), womit der Schluss nahe liegt, dass für Schnabel der erste Teil der ›Diabelli-Variationen‹ nach dem Vortrag von Variation 10 seinen Abschluss findet. Diagramm 4 versammelt die Metronomwerte der Ausgaben von Bülow (1872; vgl. oben Tab. 4b) und Schnabel (1924; vgl. oben Tab.4a) sowie die Initialtempi von Schnabels Aufnahme und die Mittelwerte aus 66 Einspielungen.[29]

Die angezeigte Binnengliederung, die aus Beethovens Tempoangaben abgeleitet werden kann, kommt teilweise in Schnabels Ausgabe zum Tragen, indem der Herausgeber nach den Variationen 2, 3 und 4 mit sechs Achteln bzw. drei Vierteln die jeweils kürzesten Luftpausen des ersten Teils vorschreibt (Tab. 4a). Die absoluten Werte der von Schnabel in seiner Einspielung gewählten Initialtempi,  = 56,4 (Variation 2) und 56,3 (Variation 3; vgl. oben, Tab. 3b), entsprechen den Angaben in seiner instruktiven Ausgabe ( = 54). Damit etabliert Schnabel zu Beginn seiner Einspielung eine paarige Anlage[30] sowohl von Thema und Variation 1 mittels des beibehaltenen Grundpulses als auch der Variationen 2 und 3 durch eine fast identische Tempowahl in diesen. Auch für Paul Baumgartner (1952; 76,7–79,9 / 55,7–56,6), Alfred Brendel[31] (1988; 87,5–84,4 / 55,0–53,6) und Ronald Brautigam (2015; 76,6–79,1 / 61,3–58,7) ist diese Anlage charakteristisch. Mit Blick auf die Dauernproportion von Thema und Variation 1 ist in Aufnahmen mit weitgehend ausgeglichenen Anfangstempi in diesen Stücken ein Verhältnis von ca. 1:2 auffällig (vgl. oben Tab. 1). Eine Variante dieses interpretatorischen Zugangs findet sich bei Amadeus Webersinke (1965), der nach dem beschriebenen Beginn (87,0–86,5) in den beiden Folgevariationen die schnellsten Tempi (101,9–59,9) vorlegt und zugleich die größte Differenz zwischen diesen Werten erreicht. Auf das verklungene Poco allegro folgend, erscheint das L’istesso tempo in Variation 3 (trotz des Maximaltempos der 66 Aufnahmen) dann allerdings geradezu als Parodie. Claudio Arrau (1952) und Charles Rosen (1977), ähnlich wie Schnabel 1937 und Baumgartner 1952 mit (auf den jeweiligen Grundpuls bezogenen) vergleichbaren Initialtempi für das Thema und die erste Variation (76,4–74,9; 76,8–79,1), stufen Variation 2 (46,2; 45,6) und 3 (43,1; 42,4) dagegen stärker zurück. Gleichwohl wahren diese Pianisten, im Gegensatz zu Webersinke 1965, weitgehend die Temporelation beider Variationen. Eine Stringenz der Tempogestaltung, durch die ihre Einspielung innerhalb des untersuchten Samples heraussticht, erreicht Tatiana Nikolayeva (1979), indem sie den einmal im Thema etablierten Initialtempowert (83,2) beinahe identisch sowohl auf den Grundschlag der ersten (85,2) als auch der zweiten Variation (85,1) überträgt. Dieses hohe Tempoplateau verlässt die Pianistin in Variation 3 (50,8) allerdings abrupt, sodass diese Variation (entgegen der eigentlichen Vorschrift L’istesso tempo) in starkem Kontrast zu der vorausgehenden steht.[32] Nikolayevas interpretatorischer Ansatz könnte so gedeutet werden, dass die Pianistin gegenüber der Tempovorschrift die Ausdrucksbezeichnung dolce, die Beethoven hier erstmals verwendet, tendenziell in den Vordergrund rückt, deren praktische Interpretation aber dennoch auf der Tempoebene mittels klar voneinander abgegrenzter Initialwerte verankert, wogegen anschlagsmäßige oder dynamische Charakteristika eher zurückstehen.

Die komponierte Tempoverschärfung realisiert Schnabel in der Aufeinanderfolge der Variationen 4 und 5. Mit  = 62,0 bewegt sich der absolute Wert von Variation 4 wieder nahe dem Partiturwert ( = 60), Variation 5 ( = 72,6) bleibt etwas darunter (Ausgabe:  = 76–84). Auch die folgende Variation 6 ›bindet‹ Schnabel in seiner Ausgabe durch eine kurze Luftpause (drei Viertel) an, seinen vorgegebenen Tempowert übertrifft er (Allegro ma non troppo e serioso,  = 116 in der Ausgabe,  = 121,7 in der Einspielung).

Abbildung

Diagramm 4: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, (Initial)Tempi von Thema und 33 Variationen in den Ausgaben von Bülow (1872) und Schnabel (1924) sowie in der Einspielung Schnabel 1937 mit Angabe des Mittelwerts (MW 66)

Hingegen nimmt Variation 7 (Un poco più allegro) in Schnabels Einspielung einen eher transitorischen Charakter an, indem der Pianist einen Tempohöhepunkt ausbildet. Deren Initialtempo ( = 213,4), das den Mittelwert des Untersuchungssamples aus 66 Einspielungen ( = 182,1) und die Metronomzahl der instruktiven Ausgabe ( = 58–63) deutlich übersteigt, scheint zunächst darauf hinzudeuten, dass Schnabel die besprochene Steigerungsanlage, die sich anhand von Beethovens Tempovorschriften für die Variationen 6, 7 und 8 nachverfolgen lässt, als verbindlich betrachtete.[33] Verglichen mit Variation 7 sieht Schnabels Ausgabe für Variation 8 allerdings einen niedrigeren Metronomwert (Poco vivace,  = 50) vor. Eine mögliche Begründung dafür, die Steigerungsanlage, die in Beethovens Tempovorschriften (Allegro ma non troppo e serioso – Un poco più allegro – Poco vivace) erkennbar ist, aufzubrechen, mag der von Variation 7 zu Variation 8 sich vollziehende Charakterwechsel (Variation 8: dolce e teneramente) sein. Auffällig sind zudem eine von fortissimo bzw. forte in Variation 7 auf piano zurückgenommene (Grund-)Dynamik und eine durch Verzicht auf Triller und sforzati sich auszeichnende Artikulation sowie eine gebundene Spielweise in Variation 8 (sempre ligato [sic]; in der Neuen Beethoven-Gesamtausgabe sempre legato). Somit wäre bei Schnabel eher von einer ›Paarung‹ der Variationen 6 und 7 und einer exponierten ›Einzelvariation‹ 8 zu sprechen. Diesen Befund stützt Schnabels Gestaltung des Übergangs: Nach der zweitlängsten Luftpause des ersten Teils (neun Viertel) folgt Variation 8 mit einem Initialtempo von  = 46,7, das den Partiturwert ( = 50) zwar nur leicht unterschreitet, der Kontrast zur vorangehenden Variation fällt dadurch aber markant aus. Die Luftpausen, die Schnabels Ausgabe nach den Variationen 7, 8 und 9 verzeichnet, verringern sich von neun, über sechs zu vier Vierteln und lassen so die Tendenz erkennen, die Aufeinanderfolge der Stücke bis zum Abschluss des ersten Teils mit Variation 10 zu ›verdichten‹. Nach dem leichten Unterschreiten des mittleren Initialtempos in Variation 8, deren Dauer (1:27) dem Mittelwert entspricht, folgt bei Schnabel 1937 auf eine breit genommene Variation 9, deren Anfangstempo (133,1) und Dauer (2:04) sich deutlich von den Mittelwerten (152,2; 1:47) entfernen, die beschließende, sich wieder auf mittlerem Niveau bewegende zehnte Variation (115,8; 0:34 / 115,1, 0:36). Bei Leonard Shure (1948) ist diese ›Finaltendenz‹ nach einer ebenfalls zeitlich gedehnten Variation 9 (136,0; 2:01) stringenter gestaltet, indem der Pianist in Variation 10 Initialtempo (124,8) und Dauer (0:32) in die Nähe der Extremwerte (131,6; 0:30) führt, und die schließende Funktion von Variation 10 quasi als ›Stretta‹ herausarbeitet.

Die Variationen 19 und 20

In Variation 20 weicht Schnabel 1937 auffällig von der Metronomangabe seiner Ausgabe der ›Diabelli-Variationen‹ ab. Sind es hier  = 116–126, die Schnabel vorschreibt, so liegt das Initialtempo seiner Einspielung nur etwas über dem halben Wert dieser Angabe ( = 67,2/ = 22,4). Aus Gründen der Darstellbarkeit ist, wie oben ausgeführt, in Diagramm 4 der Wert angegeben, der in der Mitte des Temporaums von Schnabels Ausgabe liegt ( = 121). In diesem Diagramm beziehen sich die Werte für Variation 20 auf den auch den Messungen zugrunde gelegten Puls einer punktierten Halben. Als Vergleichswerte dienen die Metronomzahlen aus Bülows instruktiver Ausgabe von 1872 (vgl. oben Tab. 4b).

Was bei Beethoven als eine Gruppe von Variationen in raschen bis sehr raschen Tempi angelegt ist – die Variationen 19 (Presto) und 21 (mit der Binnengliederung Allegro con brioMeno allegro) sowie in der Folge von Variation 22 (Allegro molto) und 23 (Allegro assai) –, erfährt mit Variation 20 (Andante) einen auffälligen ›eingeschobenen‹ Kontrast. William Kinderman führt hierzu aus:

This Presto variation, No. 19, is in perpetual motion sustained between the close imitative exchanges of the voices. Rhythmically, it is in utter contrast with the following Andante, which is practically motionless. Beethoven’s intention in juxtaposing these variations was to emphasize their difference, their polar opposition; they form a contrasting pair.[34]

Auch gibt Kinderman in Kenntnis von Beethovens Skizzen und nach deren Vergleich mit der finalen Partiturfassung den aufführungspraktischen Hinweis, zwischen Variation 19 und Variation 20 keine Zäsur zu setzen, sondern beide in einem ›Zug‹ zu nehmen:

[…] in Beethoven’s final solution the last bar of Var. 19 is completely filled with eighth notes, creating an urgent need for immediate continuity into the Andante. At this juncture, […] there should be no sustained pause in performance. Arbitrary breaks between the variations only burden the listener by destroying the continuity between each variation and its larger context.[35]

Indem Schnabel Variation 20 mit der längsten Dauer im untersuchten Sample von 3:31 als Einzelvariation gewissermaßen ›zelebriert‹ (vgl. oben, Tab. 1), wird der Piano-Duktus des »unterirdischen Chorals«,[36] so Alfred Brendels Charakterisierung, in größtmöglichen Gegensatz zur vorangehenden Variation mit ihrer in der ersten Hälfte forte artikulierten und durch sforzati akzentuierten Achtelbewegung gebracht. Auch die Eingangstempi beider Variationen veranschaulichen diese Extreme (Audiobsp. 4): Mit  = 90,8 (und einer Dauer von 0:46) bewegt sich Schnabel in Variation 19 über dem in seiner Ausgabe genannten Wert  = 84 (und damit unter der mittleren Dauer 0:52 bzw. über dem Tempomittelwert 79,4). Solche Extremwerte sind bei Kinderman 1994 nicht anzutreffen. Hörer*innen bleibt gleichwohl nicht verborgen, dass Kinderman dem Binnenkontrast zwischen Allegro con brio und Meno allegro in Variation 21 einige Aufmerksamkeit schenkt und ihn durch ein besonders hohes Eingangstempo ( = 193,3) prononciert, während der Wert des Meno allegro ( = 127,8) sich in einem mittleren Tempobereich bewegt (Mittelwert Meno allegro:  = 121,1; vgl. oben, Tab. 3b). Gleichzeitig lassen Kindermans Dauerngestaltung und initiale Tempi in Variation 19 (0:51,  = 76,5) und Variation 20 (2:36,  = 28,4) eine weniger scharfe Kontrastbildung erkennen, als sie für Schnabel 1937 und ebenso Leonard Shures Aufnahme von 1948 kennzeichnend ist (Variation 19: 0:44,  = 92,1; Variation 20: 3:23,  = 21,9).[37]

Audiobeispiel 4: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Variationen 19 und 20; Artur Schnabel 1937
(Beethoven. Piano Works Volume 11. Diabelli Variations – Bagatelles, Op. 126 – Rondo a capriccio, Naxos Historical 8.110765, ℗&© 2005, Track 20 und Track 21, 0:00–0:48)

Nicht auszuschließen ist, dass Shure als Schnabels Schüler und Berliner Assistent zur Vorbereitung seiner insgesamt drei Gesamtaufnahmen (1948, 1957, 1981) und zu Studienzwecken auch Schnabels Ausgabe und/oder Einspielung heranzog. Die im Abstand von elf Jahren entstandenen Aufnahmen Schnabel 1937 und Shure 1948 zeigen einige Gemeinsamkeiten, die in Shures dritter Einspielung (1981) – die zweite von 1957 stand nicht zur Verfügung – durchaus noch erkennbar sind (Audiobsp. 5 und 6). Neben den besprochenen Gemeinsamkeiten in der Zeitgestaltung in den Variationen 19 und 20 ist eine weitere schon genannte Schnabel’sche Aufführungsentscheidung auch bei Shure anzutreffen: Wie sein früherer Lehrer wiederholt er die Takte 1 bis 16 der zweiten Variation und bringt so deren beide Hälften in ein symmetrisches Verhältnis zueinander, was Beethoven durch das Auslassen des Wiederholungszeichens in Takt 16 so nicht vorsah (Tab. 6).

Audiobeispiel 5: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Variationen 19 und 20; Leonard Shure 1948
(Beethoven. Variations On A Theme By Diabelli Opus 120 – Theme And Variations In F Opus 34, LP Vox VLP 6360)

Audiobeispiel 6: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Variationen 19 und 20; Leonard Shure 1981
(Ludwig van Beethoven. 33 Variations on a Waltz by Diabelli, Opus 120 – Piano Sonata No. 31 in A-Flat, Opus 110, LP Audiofon stereo 2001)

https://storage.gmth.de/zgmth/media/1128/Glaser_Diabelli_Tab06.pdf

Tabelle 6: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, in den 66 Gesamteinspielungen realisierte Wiederholungen

Die stärkste Annäherung der zeitlichen Dauern in diesen beiden Variationen erfolgt bei Maria Judina (1961; Audiobsp. 7). Bei ihr ist der Differenzwert zwischen Variation 19 und Variation 20, d. h. die Dauer, um die Variation 20 (1:14) die Dauer von Variation 19 (0:51) übertrifft, auf 0:23 reduziert (in Prozentanteilen ausgedrückt, entfallen 1,96 % auf Variation 19 und 2,86 % auf Variation 20); zum Vergleich: bei Schnabel 1937 beträgt der Dauerndifferenzwert 2:45 (1,45–6,72 %), bei Shure 1948 2:39 (1,43–6,51%) und bei Kinderman 1994 1:45 (1,57–4,74 %). Judina setzt zur Gliederung deutliche ritardandi am Ende jeder der beiden Hälften der Variation. Als Teil einer gegenläufigen Dramaturgie zu Schnabel 1937 und Shure 1948 gewichtet Judina Variation 21 (1:24; 3,22 %) stärker als das vorangehende Andante (2,86 %) und bildet auf diese Weise gemeinsam mit Andrew Rangell (1977; 2,56–2,70 %) eine Ausnahme in der Interpretationsgeschichte des hier behandelten Zeitraums (vgl. oben Tab. 2). Der Vergleich der Eingangstempi zeigt, dass, bezogen auf den Viertelschlag, Variation 20 ( = 58,1 /  = 174,3) die initialen Tempi von Allegro con brio ( = 121,6) und Meno allegro ( = 99,2) in Variation 21 deutlich übersteigt. Neben Judina 1961 ist auch für Rangell 1977 ein äußerst gehetztes Andante kennzeichnend ( = 55,3/ = 165,9), wodurch bei zwar gewahrter Tempoabstufung zwischen Allegro con brio  = 141,0) und Meno allegro ( = 113,9) die Temporelation zwischen Variation 20 und Variation 21 unstimmig ist. Die Fermate am Ende von Variation 20 begrenzt Judina im Vergleich zu Schnabel und Shure deutlich in ihrer Dauer, was ebenfalls einen engen ›Anschluss‹ an Variation 21 bewirkt.

Audiobeispiel 7: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Variationen 19 und 20; Maria Judina 1961
(The Legacy of Maria Yudina Vol. 1. Beethoven: »Eroica Variations« – 33 Diabelli Variations, Vista Vera VVCD-00069, ℗&© 2004, Track 37 und Track 38)

Dass Schnabel sich in besonderem Maße Fragen der musikalischen Aufführung widmete, wird beim Blick in seine Ausgaben von Beethovens Klaviersonaten und der ›Diabelli-Variationen‹ ersichtlich (Schnabels Tonaufnahmen sind dann gewissermaßen Quellen einer praktizierten Interpretationstheorie): erstens in den Metronomisierungen, zweitens in einer Fülle von Kommentaren, die Aufführungshinweise enthalten bzw. Bezug nehmen auf Textvarianten, und drittens in Fußnoten, die die Länge der Fermaten und Pausen zwischen dem Thema und den Variationen festlegen. Schnabel zählt die Übergänge zwischen den Einzelvariationen in seiner Ausgabe der ›Diabelli-Variationen‹ aus, wobei er nochmals zwischen den von Beethoven notierten Fermaten (Schlusstakte der Variationen 17, 20, 24, 30, 31 und 32[38]) und den von ihm so bezeichneten Luftpausen unterscheidet, mittels derer er die Länge der Pausen zwischen den Einzelstücken bestimmt (vgl. oben, Tab. 4a). Den ersten Teil lässt Schnabel, wie gezeigt, mit Variation 10 enden. Der vierte Teil beginnt mit Variation 29, der eine Luftpause von »zehn (oder auch zwölf) Viertel[n]«[39] vorausgeht. Aufgrund einer entsprechenden Angabe in Schnabels Ausgabe nach Variation 19 (»Luftpause: zwölf Viertel«[40]) erscheint die Annahme einer Abschnittsgrenze zwischen zweitem und drittem Teil der ›Diabelli-Variationen‹ an dieser Stelle als eine plausible Folgerung. Rückschlüsse auf Schnabels Gliederung der Binnenteile lässt auch die Analyse seiner Einspielung zu.

Schnabels Erläuterungen zur Haltedauer der Variation 20 beschließenden Fermate bzw. zur Länge der nachfolgenden Luftpause sowie seinen Ausführungen zum Übergang von Variation 19 zu Variation 20 können Hinweise entnommen werden, wie der Pianist das Andante funktional in Hinblick auf die Großform von Beethovens op. 120 begreift (vgl. oben, Tab. 4a). Sowohl die Luftpause nach Variation 19 als auch die Summe aus der Dauer der Fermate in Variation 20 und der sich anschließenden Luftpause gibt Schnabel mit jeweils zwölf Vierteln an. Gleichzeitig spricht seine Anweisung zu einer relativ kurzen Luftpause nach Variation 20 (drei Viertel nach der über neun Viertel ausgehaltenen Fermate) für einen direkten ›Anschluss‹ der nachfolgenden Variation. Während Schnabel also die ›hörbare‹ Stille der Luftpause nach Variation 19 auf zwölf Viertel dehnt, begrenzt er jene nach Variation 20 auf drei Viertel, nimmt damit Abstand von einer formgliedernden Zäsur nach Variation 20 und scheint eine solche eher nach Variation 19 zu setzen.[41]

Unter Berücksichtigung der Metronomisierungen, die Schnabel in seiner Ausgabe anführt, erscheint die Frage durchaus zulässig, wie sich in einer Einspielung, die Schnabels vorgeschriebenen Temporaum von  = 116–126 für das Andante ernst nimmt, die formale Position der zwanzigsten Variation bestimmen ließe. So würde eine Temponahme, die rascher als in Schnabel 1937 ist, sich aber eher im Mittelfeld der tatsächlichen realisierten initialen Tempowerte (zwischen  = 21,9 und  = 58,1) bewegt, zunächst einen exterritorialen Charakter, wie er für Variation 20 in Schnabels Aufnahme prägend ist, unterbinden. Und auch in der Wahrnehmung der Hörer*innen könnte die ›Anschlussfähigkeit‹ von Variation 19 an die Variationen 21 bis 23 als eine nicht nur in der Tempokonzeption aufeinander bezogene Gruppe, sondern auch als Gruppe, in der die strukturellen Bezüge zum Walzerthema bezeichnend sind, durch das ›Bindeglied‹ eines schneller genommenen Andante gewährleistet werden.[42] Eine solche Zeitgestaltung könnte dann der Idee eines Kontrastpaares, wie sie Beethoven mit Variation 19 und Variation 20 komponierte, auch auf mikroformaler Ebene Gestalt verleihen und sie in der Aufeinanderfolge von Allegro con brio und Meno allegro in Variation 21 zu Gehör bringen. Die zeitliche Sukzession gegensätzlich begriffener Elemente könnte so zu einem formbildenden Faktor werden, der in der Aufführungssituation seine Potentialitäten entfaltet. Das mikroformale Detail, das sich über den auf die Binnenebene verlagerten Kontrast der Einzelvariation definiert (Variation 21: Allegro con brio Meno allegro), könnte so den Bezugsrahmen abgeben zur Gegenüberstellung zweier Variationen auf der (makro-)formalen Ebene (Variation 19 – Variation 20) und umgekehrt.

Die Variationen 14 und 31

Die hohen Werte der relativen Standabweichung sowohl beim Initialtempo (23,3 %) als auch bei der Dauer (27,2 %) und der hohe prozentuale Anteil an der Gesamtdauer (19,1 %) zeigen, dass Variation 14 (Grave e maestoso) im Laufe der Aufführungsgeschichte Pianist*innen zu stark divergierenden Deutungen motiviert hat. Ein ähnlicher Befund ist für Variation 20 zutreffend, in der diese Werte teilweise übertroffen werden (24,2 %; 24,2 %; 19,4 %; vgl. oben, Tab. 1, 2 und 3b).

In der Einspielung von Michael Korstick (2004) fallen in Variation 14 zweitlängste Dauer (6:23), zweithöchster Prozentanteil (11,04 %) und zweitgeringstes Initialtempo ( = 20,5) zusammen. Die jeweiligen Extreme dieser Werte sind bei Christina Bjørkøe (2011) zu finden, in deren Aufnahme im Thema und in einer Reihe von Variationen (2, 3, 8, 10–14, 18, 21, 26–27, 29) Maximaldauern auffallen, woraus die längste Gesamtdauer aller untersuchten Einspielungen resultiert (71:14/52:39; Diag. 5). Variation 14 gehen bei Korstick 2004 (Gesamtdauer 57:44/52:39) Variationen voraus, deren prozentuale Anteile an der Gesamtdauer um den Mittelwert (Variation 11: 2,09 % / 2,06 %) bzw. darunter (Variation 12: 1,65 % / 1,74 %, Variation 13: 1,59 % / 1,92 %) positioniert sind, worin der wesentliche Unterschied zu den hohen Werten bei Bjørkøe 2011 (2,55 %; 2,44 %; 2,03 %) ausgemacht werden kann. Die Tempo- und Dauernwerte dieser drei Variationen besetzen bei Bjørkøe 2011 die Minima bzw. Maxima. In den drei nachfolgenden Variation 15 bis 17 zeigen sich in den geringen Prozentanteilen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Einspielungen; Unterschiede zu Bjørkøe 2011 treten bei Korstick 2004 jedoch in der deutlich zügigeren, die jeweiligen Mittelwerte überschreitenden Gestaltung des Eingangstempos dieser drei Variationen zutage (0:32/0:36, 127,1/113,1; 0:51/0:59, 154,1/138,3; 0:52/1:00, 150,7/138,3), während Bjørkøe 2011 weiterhin deutlich von den mittleren Werten entfernt ist (0:42/0:36, 101,2/113,1; 1:06/0:59, 114,7/138,3; 1:06/1:00, 133,3/138,3).

Abbildung

Diagramm 5: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Gesamtdauern von 66 Einspielungen mit Angabe des Mittelwerts (52:39; gestrichelte Linie)

Macht die Datenanalyse so individuelle Konzepte musikalischer Zeitgestaltung zugänglich, so stimmen Korstick 2004 (Audiobsp. 8) und Bjørkøe 2011 (Audiobsp. 9) tendenziell darin überein, dass beide das Grave e maestoso als ›Einzelereignis‹ innerhalb seiner formalen Umgebung, d. h. der unmittelbar vorausgehenden und nachfolgenden Variationen, hervorheben. So könnte dieser ›(Haupt-)Attraktionspunkt‹ auch als Ergebnis eines Entwicklungszugs gedeutet werden, den beide Pianist*innen so gestalten, dass beginnend mit Variation 11 zunächst ein ›Verdichten‹ des zeitlichen Verlaufs durch Beschleunigung, was Beethovens Tempoangaben nahelegen, einsetzt, bevor in Variation 14 die Musik beinahe zum Stillstand kommt. Eine dazu rückläufige Bewegung mit dem Zielpunkt Poco moderato in Variation 18 setzt mit Variation 15 (Presto scherzando) ein und fällt bei Korstick 2004 schlüssiger aus als bei Bjørkøe 2011.

Audiobeispiel 8: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Variationen 13 und 14; Michael Korstick 2004
(Ludwig van Beethoven. Diabelli-Variationen op. 120, Oehms Classics OC 105, ℗ 2005 OehmsClassics Musikproduktion GmbH in Co-Production with Bayrischer Rundfunk, © 2007 OehmsClassics Musikproduktion GmbH, Track 14 und Track 15, 0:00–1:44)

Audiobeispiel 9: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Variationen 13 und 14; Christina Bjørkøe 2011
(Beethoven. Diabelli Variations, Danacord 747, ℗ 2014, Track 14 und Track 15, 0:00–2:15)

Bei Wilhelm Backhaus (1955) wird eine andere Dramaturgie hörbar (und anhand der Daten sichtbar). Bei ihm folgt auf die rascheste Einspielung von Variation 14 unter allen untersuchten Aufnahmen – Maximum des Initialtempos ( = 59,8), Minima der Dauern (2:09) und Prozentanteile (4,97 %) – eine eher breit genommene Variation 15, die mit  = 109,9 das mittlere Initialtempo ( = 113,1) unterschreitet. Wenngleich die absolute Dauer (0:37) des Presto scherzando nur eine Sekunde über dem Mittelwert (0:36) aus 66 Einspielungen liegt, was zunächst auf eine eher konsensuale Deutung hinzuweisen scheint, so gewährleistet Backhaus’ Deutung von Variation 15, die einen im Vergleich mit allen Einspielungen besonders hohen Prozentanteil aufweist (1,43 %) – der Maximalwert bei Jonas Ahonen (2017) ist 1,46 % –, den Nachvollzug der Tempo- und Charaktergegensätze zwischen beiden Variationen, ohne diese zu überzeichnen. Das herausragende Merkmal von Backhaus’ Zeitgestaltung besteht in diesem Fall nicht in einer ›plakativen‹ Gegenüberstellung von Extremen, wie sie bei Korstick 2004 und Bjørkøe 2011 anzutreffen ist, sondern eher in der Tendenz zu deren Ausgleich, ohne dabei formalen Zusammenhang stiftende Details zu nivellieren (Audiobsp. 10).

Audiobeispiel 10: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Variationen 13 und 14; Wilhelm Backhaus 1955
(Beethoven. Piano Concertos 1–5 – Diabelli Variations, Decca 433 891-2, ℗ 1992, Track 6, 1:23–4:26)

Der Prozentanteil von Variation 14 an der (vergleichsweise kurzen) Gesamtdauer von Backhaus 1955 (43:24/52:39) nimmt gleichwohl einen der höchsten Werte an, der nur von den Anteilen der Variationen 24 (6,63 %), 31 (9,42 %), 32 (6,26 %) und 33 (8,34 %) übertroffen wird. Bei Korstick 2004 und Bjørkøe 2011 trifft dieser Befund nicht zu (vgl. oben, Tab. 2): Einzig bei Korstick 2004 hat Variation 31 (Largo, molto espressivo) (10,72 %) einen mit Variation 14 (11,04 %) vergleichbar hohen prozentualen Anteil, während Bjørkøe 2011 hier den geringsten Anteil (6,75 %) aufweist. Damit trifft das Merkmal des Extremen, das bereits in Variation 14 für Korstick 2004 notiert werden konnte, auch für seine Deutung von Variation 31 zu (zweitlangsamstes Initialtempo 11,2/16,5, viertlängste Dauer 6:11/4:50). Offenkundig stellt Korstick eine Relation zwischen diesen in der formalen Anlage auseinanderliegenden Variationen her, die sowohl hinsichtlich ihrer Tempo- und Charakterbezeichnung als auch hinsichtlich ihres Duktus Gemeinsamkeiten aufweisen.

Ein solches ›performatives Antizipieren‹ kann im Rückgriff auf einen Begriff von Daniel Leech-Wilkinson als »longer-term patterning«[43] bezeichnet werden. Der räumlichen Isolierung beider Variationen begegnet Korstick 2004 mit einer Zeitgestaltung, in der die gemessenen initialen Tempi (bezogen auf den jeweiligen Grundpuls) im Verhältnis von ca. 2:1 stehen (Variation 14:  = 20,5; Variation 31:  = 11,1), während die absoluten Dauern (6:23–6:11) und Prozentanteile (11,04–10,72 %) nahezu übereinstimmen. Für Hörer*innen nachvollziehbar wird ein solches Antizipieren gleichwohl erst, nachdem Variation 31 zur Aufführung gelangt ist. Das Erkennen der so herausgehobenen Bezüge in der großformalen Anlage ist gekoppelt an Rezeptions- (und Analyse-)leistungen der Hörenden, wobei Leech-Wilkinson einschränkend bemerkt, dass (strukturelle) Bezüge innerhalb der Makroform für Hörer*innen weniger leicht nachvollziehbar seien als zwischen musikalischen Ereignissen in zeitlich naher Abfolge:

But how much any of us is aware of the span of a development in relation to that of the exposition, or of a movement in relation to the movement that preceded it, is another matter: clearly one is less aware the longer the spans of time. […] Most meaning is produced from moment to moment, by gestures in sound (whether composed or contributed by the performer) that take seconds, or less, rather than minutes. And there is therefore a case for an analytical view of music that pays far more attention to events at the surface than to longer-term patterning.[44]

Bereits die um 14:20 Minuten kürzere Gesamtdauer von Backhaus 1955 (43:24) im Vergleich zu der den Mittelwert (52:39) überschreitenden Gesamtdauer von Korstick 2004 (57:44; Diag. 5) lassen grundlegend unterschiedliche Aufführungsstrategien in Hinblick auf die musikalische Großform vermuten. Wie diese beiden Beispiele verdeutlichen, sind Aufführungsentscheidungen seitens der Pianist*innen stets im Kontext eines Konzepts zur Ausgestaltung großformaler Zusammenhänge zu denken. Mittel der Zeitgestaltung werden von Backhaus 1955 und Korstick 2004 in je unterschiedlicher Weise zum Herausarbeiten gemeinsamer Strukturmomente und zum Verknüpfen von Einzelvariationen in der Aufführung herangezogen. Die erwähnten hohen Werte der relativen Standardabweichung (Dauern: 27,2 %; Initialtempi: 23,3 %) für Variation 14 lassen auf eine gewisse Unentschiedenheit der Pianist*innen bei ihrer Ausführung im Kontext der sie umgebenden, von Beethoven durch deutliche Tempogegensätze kontrastierend angelegten Variationen schließen; auch lässt sich sagen, dass Einspielungen dieser Variation ein besonders großes Spektrum an divergierenden Deutungen hervorgebracht haben. Zugleich kann aufgrund der Daten zu Variation 31 darauf geschlossen werden, dass für diese Variation eine im Vergleich dazu stärkere Einheitlichkeit im Rahmen des hier behandelten Zeitabschnitts kennzeichnend ist (relative Standardabweichungen Dauern: 17,4 %; Initialtempi: 17,4 %). Ihre Position innerhalb der Variationenfolge wurde offensichtlich als konsolidiert betrachtet; als dritte und letzte in der Reihe von Mollvariationen, deren Bewegungsformen als ›getragen‹ beschrieben werden können, ist sie eingebettet in eine formale Umgebung, die das Gegenbild zu jener abgibt, in der Variation 14 (Grave e maestoso) steht und die die Pianist*innen vor die Aufgabe stellt, diese erste langsame Variation nach einem vorausgehenden Vivace und mit Blick auf das nachfolgende Presto scherzando als »point of repose«[45] zu inszenieren, ohne dabei offensichtliche Gegensätze zu überzeichnen.

Medienkritik und Ausblick

Mit dem methodischen Rahmen, der dieser Studie zugrunde gelegt wurde, ist gewiss eine Problematik verbunden, die durch die Medialität des Untersuchungsgegenstands bedingt ist. Bei der Analyse der Einspielung Schnabel 1937 trat den Forschenden diese Problematik exemplarisch entgegen und soll hier abschließend den oben dargelegten Ausführungen zur Methodik an die Seite gestellt werden. Im Fall der untersuchten Schnabel-Aufnahme, erschienen 2005 als CD auf dem Label Naxos Historical (Naxos Historical 8.110765; vgl. auch Tab. 7), konnte nicht nachvollzogen werden, ob die originalen Takes der (im elektrischen Verfahren und auf 14 Plattenseiten[46] [78 rpm] gemachten) Studioaufnahme ohne Nachbearbeitung auf CD veröffentlicht worden sind. Hinsichtlich der auf CD verlegten Aufnahme ist festzuhalten, dass bisweilen die Übergänge zwischen einzelnen Stücken so eingerichtet worden sind, dass Schlussklänge nicht im selben Track enden, sondern, unterbrochen durch einen Schnitt, in den Folgetrack hineinreichen und erst dort verklingen. Dieser Umstand machte es in einigen Fällen notwendig, aufeinanderfolgende CD-Tracks neu zusammenzuschneiden, um in einem zweiten Schritt dann neue Einzeltracks erstellen zu können, die Grundlage der Aufnahmeanalyse waren. Die Pausen zwischen dem Thema und den 33 Variationen, so wie die Tonträger sie wiedergeben, sind für die Dauernmessungen nicht berücksichtigt worden. Bei Studioproduktionen ist nicht schlüssig zu entscheiden, ob Pausengestaltungen zwischen den Stücken auktoriale Setzungen der Pianist*innen sind oder nach Abschluss der eigentlichen Aufnahme das Ergebnis technischer Verfahren. Eine nachträgliche Bearbeitung von Pausenlängen ist auch bei veröffentlichten Live-Aufnahmen nicht ausgeschlossen. Mit dieser Problematik sehen sich Forschende bei der Untersuchung von auf LP vorliegenden Aufnahmen der ›Diabelli-Variationen‹ bereits aufgrund des unvermeidbaren Wechsels der Plattenseite konfrontiert. Berichte, etwa in Booklet-Texten, die die jeweilige Aufnahmesituation und/oder die Produktionsbedingungen sowie die Rolle der eingebundenen Akteur*innen (Interpret*innen, Produzent*innen, Tonmeister*innen)[47] beleuchten könnten, sind für die hier untersuchten Gesamteinspielungen der ›Diabelli-Variationen‹ selten dokumentiert.[48] Nicht verschwiegen werden soll, dass die Entscheidung über den exakten Zeitpunkt eines verklungenen Akkords oder Tons und den eigentlichen Beginn der Stille auf individuellen Hörerfahrungen der Forschenden beruht und damit Einfluss auf die Messungen hat.

Selbstredend gibt es neben den gemessenen Spieldauern, ihren Prozentanteilen an der Gesamtdauer und den initialen Tempowerten eine Reihe weiterer Faktoren, die zur Gewichtung einer Variation, einer Gruppe von Variationen oder eines Abschnitts beitragen können. Variationen, die durch hohe Prozentanteile innerhalb der Variationenfolge hervortreten, werden wohl nicht immer als ›Schwerpunkte‹ wahrgenommen werden, eine Prononcierung durch Verknappung ist ebenso denkbar, wie etwa die Einspielungen der Variationen 19 und 20 bei Judina 1961 zeigen. Sowohl durch das Komprimieren des zeitlichen Verlaufs als auch durch das zeitliche Expandieren einer Variation in der Aufführung – mit den Variationen 14 und 20 bieten Korstick 2004 und Bjørkøe 2011 bzw. Schnabel 1937 und Shure 1948 entsprechende Beispiele – entstehen aber zweifellos Orientierungspunkte innerhalb der formalen Anlage, die deren hörenden Nachvollzug prägen.

Auch der Umgang der Pianist*innen mit Beethovens Artikulationsvorschriften, dynamischen Angaben und Phrasierungen sowie die Kategorie des subito piano, dessen Bedeutung bereits Bülow in seiner Beethoven-Ausgabe kontextualisierte und mit Hinweisen zur Ausführung versah,[49] sind vielversprechende Untersuchungsgegenstände. Ebenso eröffnen sich mit dem Verhältnis von rechter und linker Hand – Stichworte sind hier manuelle Asynchronie bzw. »dislocation«[50] – und dem Arpeggieren von Akkorden, dem Umgang mit Tempo rubato sowie der Gestaltung der Wiederholungen von Teilabschnitten weitere Felder, die von der Forschung ertragreich genutzt werden können. So sind etwa Einspielungen auf historischen Instrumenten, in denen wiederholte Abschnitte mit Verzierungen versehen werden (Ahonen 2017: Variation 4) bzw. die eine Tendenz zu einem ›Dauerarpeggieren‹ erkennen lassen (Edoardo Torbianelli 2011: Variation 31), in dieser Hinsicht bemerkenswert.

Anhang: Diskographie

https://storage.gmth.de/zgmth/media/1128/Glaser_Diabelli_Tab07.pdf

Tabelle 7: Beethoven, 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli op. 120, Diskographie

Anmerkungen

1

Die in diesem Beitrag dokumentierte Forschung wurde im Rahmen des Forschungsprojekts Performing, Experiencing and Theorizing Augmented Listening (PETAL) (gefördert durch den Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, P 30058-G26, 1.9.2017–31.8.2020) durchgeführt (https://petal.kug.ac.at). Alle im Rahmen des Projekts zu den ›Diabelli-Variationen‹ erstellten Datensätze sind über ein GitHub-Repositorium frei zugänglich (https://github.com/petal2020/petal_beethoven_diabelli-variations).

2

Bei der Auswahl der Aufnahmen wurde versucht, ein möglichst ausgewogenes Sample heranzuziehen im Hinblick auf die historische Periode, die Prominenz der Interpret*innen und die Verfügbarkeit der Aufnahmen. Die vergleichsweise hohe Anzahl von Einspielungen, die nach 2010 entstanden sind (40), machte es (auch aus arbeitsökonomischen Gründen) notwendig, eine repräsentative Auswahl zu treffen. Der Verfasser dankt Jürg Stenzl und Werner Unger sehr herzlich für das Zurverfügungstellen eines Teils der Aufnahmen. Ein besonderer Dank geht an Petra Zidarić Györek und Tomislav Buzič für die Unterstützung bei den Messungen der Audiodateien. Diskographische Angaben zu den untersuchten Einspielungen finden sich in Tabelle 7 (Anhang). Alle auf LP vorliegenden Einspielungen wurden in ein digitales Format umgewandelt.

3

Vgl. zur Funktionsweise https://www.charm.rhul.ac.uk/analysing/p9_0_1.html. Unterschiede zwischen den Dauernmessungen der vorliegenden Studie und jenen, die Jürg Stenzl seiner Untersuchung zugrunde gelegt hat, sind auf verschiedene Messverfahren zurückzuführen. Vgl. Stenzl 2016, 63–66.

4

Wichtig zu beachten ist, dass die Prozentanteile nicht zwangsläufig mit der Position der absoluten Dauern innerhalb des untersuchten Samples korrelieren müssen. Erreicht der Prozentanteil von Variation 1 bei Sviatoslav Richter 1986 den höchsten Wert (4,66 %), so fällt deren Dauernwert (2:24) nicht mit dem Maximalwert zusammen. Dieser ist bei Anatol Ugorski 1991 (2:47) anzutreffen, bei einem Prozentanteil von 4,54 % an der Gesamtdauer. Bei Daniel Varsano 1980 (1:16 / 2,44 %) hingegen korrelieren die Minimalwerte von Prozentanteil und Dauer.

5

In seiner Aufnahme von 1937 spielt Artur Schnabel in Variation 2 eine von Beethoven nicht notierte Wiederholung. Nach dem Doppelstrich in Takt 16 beginnt er da capo, wodurch die Dauer der wiederholten Takte 1 bis 16 in die Dauer der Variation mit einfließt. Von dieser realen Gesamtdauer (1:11) auf dem Tonträger ist die Dauer der wiederholten Takte subtrahiert worden, sodass der berechnete virtuelle Wert in Tabelle 1 (0:54) die Spieldauer wiedergibt, die Schnabel für die von Beethoven komponierte Taktanzahl benötigt hätte. Umgekehrt spart Géza Anda 1961 beide Wiederholungen in Variation 1 aus. Die reale Dauer der Einspielung (1:13) wurde für die Datenauswertung folglich verdoppelt. Voraussetzung dafür ist freilich die Annahme, dass die Dauern der zu wiederholenden Teile identisch mit jenen des jeweils ersten Durchgangs sein würden. Andas Umgang mit Beethovens Wiederholungsvorschriften moniert eine Rezension aus dem Jahr 1962: »Vollkommen unerfindlich aber bleibt, nach welch einem Prinzip Anda gelegentlich die von Beethoven vorgeschriebenen Wiederholungen berücksichtigt und wann er glaubt, sich darüber hinwegsetzen zu können. Es bleibt ein etwas zwiespältiger Eindruck.« (Koegler 1962) Es wäre Aufgabe einer eigenen Studie, aus einem Vergleich der realen und virtuellen Dauern und Prozentanteile Rückschlüsse auf die jeweilige Gestaltung der zyklischen Anlage zu ziehen. Die Beschaffenheit und Kapazitäten des Aufnahmemediums dürften als Gründe wohl ausscheiden, um die ›Kurz-Versionen‹ von Anda, Yvonne Lefébure, Andrew Rangell und Varsano plausibel zu erklären.

6

Berechnet wurde die Standardabweichung innerhalb eines Initialtempos sowohl (a) in jeder Aufnahme für die angezeigten Takte des Themas und der Einzelvariationen, d. h. sie gibt das Ausmaß der Temposchwankungen eines/einer Pianisten*in in den 34 Stücken an, als auch (b) innerhalb des gesamten Korpus, sprich die Standardabweichungen innerhalb der Initialtempi der 34 Stücke in 66 Aufnahmen. Hohe Werte weisen folglich einerseits (a) auf Schwankungen in der individuellen Temponahme hin, andererseits (b) darauf, wie stark im jeweiligen Stück die Tempi innerhalb des Samples an ausgewerteten Aufnahmen untereinander divergieren. Letztere Werte ermöglichen gewissermaßen eine ›globale‹ Einschätzung hinsichtlich der Stabilität und Flexibilität von Tempoverläufen.

7

Vgl. Bärtsch 2016, 2 f., Pfleger/Seedorf 2011, 113 und van Gessel 2020, 141–143.

8

Laubhold 2014, 67.

9

Baldassarre 2013, 341.

10

Vgl. zu beiden Begriffen Cook 2013, 135–175.

11

Insofern wird in diesem Beitrag eine weniger stark affirmative Position gegenüber den zur Verfügung stehenden computerbasierten Techniken eingenommen, als Nicholas Cook sie etwa vertritt: »As its name implies, Sonic Visualiser also offers a range of features for visualising what you hear […].« (Cook 2009, 223); »With the development of more sophisticated software for working with recordings, however, such as Sonic Visualiser, tempo graphs and other analytical visualisations can be incorporated into the playback environment: seeing what you are hearing and hearing what you see makes it much easier to link measurement to aural experience, in turn serving to heighten perceptions, to guard against the ear’s tendency to hear what it expects to hear, and to make it easier to discuss details of recorded performances with other people.« (Cook 2011, 8)

12

Vgl. Martensen 2019.

13

Vgl. Schaper 2021, 169–173.

14

Vgl. unter anderem Kaiser 1975, Philip 1994, 198–200, Levy 2001, 46–52, Sobotzik 2005, Vogt 2006, Lagoumitzis 2010, Loesch/Brinkmann 2011, 2012, 2013/21, 2014, 2015a, 2015b, Baldassarre 2013, 339–348, Bärtsch 2019 und Swinkin 2019.

15

Vgl. unter anderem Bergquist 1992, Bengtson 2005, Stenzl 2016 und Laubhold 2019.

16

Kinderman 1999, 68 und 71 f. Vgl. auch Brendel 2005, 153.

17

Kinderman 1999, 72.

18

Abraham 1967, Münster 1982, Raab 1999 und Picht 2011.

19

Schindler 1860, 35. Schindler selbst spricht von »einem ziemlich ordinären Walzer« (ebd., 36). Auch für Alfred Brendel (2005, 152) ist Schindler der Gewährsmann hinsichtlich Beethovens Positionierung gegenüber dem Walzerthema.

20

Vgl. die Beiträge von Markus Neuwirth und Cosima Linke in der vorliegenden Ausgabe sowie Tadday 2016, 4–6.

21

Kinderman 1999, 34 und 84 f.

22

Ebd., 72 f.

23

Ebd., xix und 72.

24

Schnabel 1924, 3 f. Weitere Pianist*innen, die ähnlich wie Schnabel verfahren, sich jedoch teils durch höhere absolute Tempi von ihm unterscheiden, sind Amadeus Webersinke (1965; 87,0–86,5; 2,7–2,6 %), Grete Sultan (1969; 79,5–80,5; 4,4–4,1 %), Rudolf Buchbinder (1973; 82,8–83,8; 5,0–2,4 %), Georges Pludermacher (1985; 85,3–85,7; 3,3–3,3 %), Márta Kurtág (1999; 76,9–76,1; 5,2–2,6 %) und Imogen Cooper (2018; 75,5–76,3; 4,9–4,9 %).

25

Ebd., 4.

26

Die Initialtempi von Piazzini 2007 (77,0–107,7) und Lefébure 1975 (74,8–104,8) entsprechen am ehesten dem Tempokonzept, das Hans von Bülow 1872 in seiner instruktiven Ausgabe vorschlug: Auf »ein ziemlich frisches Tempo« im Thema, für das Bülow  = 80 angibt, folgt Variation 1 in  = 104 (Bülow 1892, 158 f.).

27

Geringe Dauerndifferenzen (≤ 0:30) weisen außerdem die Aufnahmen Julius Katchen (1953; 0:49–1:16: 0:27) und Diana Boyle (1989; 1:05–1:35: 0:30) auf; hohe Dauerndifferenzen (≥ 1:30) finden sich bei Sokolov (1985; 0:57–2:28: 1:31) und Richter (1986; 0:53–2:24: 1:32).

28

Schnabel 1924, 15. Nach der ersten Variation führt Schnabel aus, dass »die Werte selbstverständlich immer im Zeitmaß des vorangehenden Stücks zu zählen« sind (ebd., 4).

29

Sind in den instruktiven Ausgaben anstatt einer einzelnen Metronomzahl Temporäume angegeben, bei Bülow und Schnabel etwa die identische Angabe  = 76–80 für Variation 28, so wurde für die graphische Darstellung jeweils der Wert gewählt, der in der Mitte (Median) des Temporaums liegt, für Variation 28 folglich  = 78. Um die Vergleichbarkeit von Bülows und Schnabels Vorgaben mit den in den Aufnahmeanalysen ermittelten Tempowerten zu ermöglichen, ist der jeweilige Grundpuls, der den Messungen des Initialtempos zugrunde gelegt worden ist (Tab. 3a), auch zur Darstellung der Angaben von Bülow und Schnabel herangezogen worden. Bei den Variationen 7, 9, 11, 12, 14, 16, 18, 20, 23, 28, 29 und 31 war eine Umrechnung der gedruckten Metronomwerte notwendig (vgl. oben Tab. 3a, 4a und 4b). Die Wiedergabe von Bülows und Schnabels Wert für Variation 28 ( = 78) in Diagramm 4 mit  = 156 erklärt sich aus dem Umstand, dass die Tempomessung dieser Variation in Vierteln erfolgte.

30

Schnabels Vortragshinweis »Ohne Pause weiter« (Schnabel 1924, 25) nach Variation 16 lässt eine solche Anlage auch in der Mitte des Zyklus vermuten.

31

Insgesamt zeigt der Vergleich der drei Brendel-Einspielungen (1964, 1976, 1988), dass der Pianist im Laufe der Jahre zu einer ausgeglicheneren Deutung des Anfangs der ›Diabelli-Variationen‹ gelangte. Brendel 1988 ist die Brendel-Einspielung, die die geringsten Differenzwerte hinsichtlich der Dauern und Initialtempi von Thema und Variation 1 sowie der Variationen 2 und 3 aufweist.

32

Nach Webersinke 1965 (42,0) ist Nikolayeva 1979 (34,3) die Einspielung mit dem zweithöchsten Differenzwert in den Anfangstempi von zweiter und dritter Variation.

33

Dass Schnabel den eigenen Aufführungshinweisen in seiner Einspielung der ›Diabelli-Variationen‹ nicht in jedem Detail folgte, veranschaulicht das oben thematisierte Hinzufügen einer Wiederholung im ersten Teil von Variation 2 (T. 1–16); weitere Beispiele ließen sich ergänzen. Auch ein Vergleich von Schnabels Ausgabe der Klaviersonaten Beethovens mit seinen Einspielungen bringt ähnliche Befunde hervor (Loesch/Brinkmann 2018). Von Schülerseite wird berichtet, dass Schnabel nicht sklavisch an den Angaben seiner Ausgaben festhielt und Vortragshinweise durchaus revidierte (vgl. Wolff 1987, 141). Schnabels Ausgabe der Beethoven-Sonaten erschien erstmals zwischen 1924 und 1927 (Schnabel 1924–27), eine Neuausgabe folgte 1935 in New York, jedoch ohne die von Schnabel projektierten Revisionen. Diese flossen 1949 in eine überarbeite dreibändige Ausgabe ein (Schnabel 1949). Zur Editionsgeschichte vgl. Schnabel 2001, 213–215.

34

Kinderman 1999, 101.

35

Ebd.

36

Brendel 2005, 159.

37

Eine Kombination der Deutungen der Variationen 19 und 20, wie sie in Schnabel 1937 und Shure 1948 auffällig ist, und einem dann aber im Eingangstempo gegenüber dem Allegro con brio deutlich zurückgenommenen Meno allegro (Variation 21), wie von Kinderman 1994 gestaltet, zeigt sich bei Michaël Levinas (1998): Variation 19: 0:47,  = 91,0; Variation 20: 2:58,  = 22,1; Variation 21: 1:14;  = 192,8–131,2.

38

In Variation 32 legt Schnabel neben der Dauer der Schlussfermate (T. 166) auch die Dauern der beiden Binnenfermaten fest: Takt 117: »Fermate mit Pedal, dreizehn Viertel lang, danach ohne Luftpause weiter.«; Takt 160: »Fermate sieben Viertel lang. Danach etwa je acht Sechzehntel der Kadenz auf ein  = M 132‹.«; Takt 166: »Fermate elf Viertel lang danach ohne Luftpause weiter. Pedal legato zum nächsten, dem Auftaktviertel der Variation 33 zugehörigen Pedal.« (Schnabel 1924, 50 und 52)

39

Ebd., 41.

40

Ebd., 30.

41

Vgl. ebd., 31.

42

Als Beispiele für eine entsprechende Abfolge der Variationen 19 bis 21 (mit der Aufteilung in Allegro con brio und Meno allegro) können annäherungsweise etwa Steven Kovacevich (1968;  = 86,6;  = 35,6 /  = 106,8;  = 158,3;  = 141,8) und Charles Rosen (1977;  = 78,9;  = 39,4 /  = 118,2;  = 189,0;  = 134,8) herangezogen werden.

43

Leech-Wilkinson 2009, Kap. 2, Abs. 29.

44

Ebd.

45

Kinderman 1999, 97.

46

Diese Zahl nennt das CD-Booklet. Die zugehörigen Matrizennummern sind: 2EA 5540-1, 5541-1, 5542-1, 5543-1, 5544-1, 5545-3, 5546-2, 5547-2, 5548-1, 5549-1, 5550-1, 5551-1, 5552-3 und 5553-3.

47

Vgl. Trezise 2009.

48

Auf dem LP-Klappcover der Einspielung Shure 1981 (Audiofon stereo 2001) findet sich der Hinweis: »Since the musical flow is of prime importance, we have urged our artists to reduce editing to an absolute minimum so that the integrity of a real performance can be maintained. We at Audiofon feel that an occasional wrong note is far less bothersome than a note-perfect performance that emerges as musically sterile because the tape editor’s scalpel has cut away the spontaneous breath of life along with the wrong notes. For the recording session, Mr. Shure performed these works in their entirety, along with other works by Beethoven, Brahms and Schubert before an audience. […] There are less than 5 splices in the Diabelli Variations.«

49

Vgl. Hinrichsen 1999, 197–199.

50

Vgl. Peres Da Costa 2012, 41–100.

Literatur

Abraham, Lars Ulrich (1967), »Trivialität und Persiflage in Beethovens Diabelli-Variationen«, in: Neue Wege der musikalischen Analyse. Acht Beiträge von Lars Ulrich Abraham, Jürg Baur, Carl Dahlhaus, Harald Kaufmann und Rudolf Stephan, Berlin: Merseburger, 7–17.

Bärtsch, Manuel (2016), »Wer hat das schönste Paradigma? Interpretationsforschung unter der Lupe«, dissonance H. 135, 2–8.

Bärtsch, Manuel (2019), »›Interpretation‹. Beethovens Sonate A-Dur op. 101 in der Sicht von Eugen d’Albert und Frederic Lamond«, in: Rund um Beethoven. Interpretationsforschung heute, hg. von Thomas Gartmann und Daniel Allenbach, Schliengen: Argus, 49–70.

Baldassarre, Antonio (2013), »Text, Sound and the Freedom of Interpretation. Observations on Beethoven’s Music«, Musiktheorie 28/4, 325–350.

Bengtson, Matthew (2005), »Interpretive Questions in the ›Diabelli‹ Variations«, Beethoven Forum 12/1, 97–110.

Bergquist, Stephen A. (1992), »Beethoven’s Diabelli Variations. Early Performance History«, The Beethoven Newsletter 7/2, 38–41.

Brendel, Alfred (2005), »Das umgekehrt Erhabene II. Beethovens Diabelli-Variationen« [1989], in: Über Musik. Sämtliche Essays und Reden, München: Piper, 152–169.

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Hinrichsen, Hans-Joachim (1999), Musikalische Interpretation. Hans von Bülow, Stuttgart: Steiner.

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Laubhold, Lars E. (2014), Von Nikisch bis Norrington. Beethovens 5. Sinfonie auf Tonträger. Ein Beitrag zur Geschichte der musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, München: edition text + kritik.

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