Es/D# entscheidet der Kontext?
Impulse zu einem meta-physikalischen Verständnis musikalischer Geistestätigkeit
Thomas Noll
Die Untersuchungen dieses Beitrages gehen von dem Gedanken aus, daß sich bestimmte Eigenschaften musikalischen Erlebens erst erklären lassen, wenn man grundlegende Eigenschaften von Geistestätigkeit theoretisch erschlossen hat. Entsprechend skizziert Abschnitt 2 einen Ansatz zur Modellierung von Geistestätigkeit, welcher das Fechner’sche Gesetz zum Bindeglied zwischen der transzendenten Geistestätigkeit und ihrem immanenten Erleben erklärt. Mit der Charakterisierung einer modellhaften Geistestätigkeit als ›meta-physikalisch‹ wird dieser eine physikalische Kompetenz zugeschrieben. Konkret geht es um das Vollziehen kanonischer Transformationen, die von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Bewegung in der Theoretischen Physik sind. Das Fechner’sche Gesetz vermittelt entsprechend zwischen den Transformationen und ihren infinitisimalen Erzeugenden. Aufgrund der Nichtkommutativität der Transformationengruppe ergeben sich Diskrepanzen zwischen der transzendenten Tätigkeit und ihrem immanenten Erleben hinsichtlich der Bilanzierung von zusammengesetzten Transformationen. Sie betreffen u.a. die Verrechnung von subjektiven Standpunktwechseln, welche sich in der tonalen Musik bei harmonischen Ausweichungen manifestieren. Musikalischer Untersuchungsgegenstand sind deshalb tonale Ambiguitäten. Abschnitt 3 rekapituliert und vergleicht Analysen von Chopins Prélude op. 28/4 von mehreren Autoren und sammelt dabei Indizien für das Bestehen einer genuinen Ambiguität, welche sich auf mehreren Beschreibungsebenen manifestiert. In Bezug auf den Kontrapunkt wird die Ambiguität vor dem Hintergrund einer Unterscheidung von (diatonischen) Schritten und (chromatischen) Alterationen gedeutet. In Bezug auf die Harmoniebewegung geschieht dies vor dem Hintergrund einer Unterscheidung von Fundamentschritten und virtuellen Verrückungen des tonalen Bezugs.
The investigations in this article are based on the idea that certain characteristics of musical experience can only be explained when fundamental characteristics of mental activity have been theoretically opened up. Correspondingly, Section 2 outlines an approach to the modeling of mental activity. It explains Fechner’s law as the link between transcendent mental activity and its immanent experience. With the characterization modelled mental activity as “meta-physical” a physical competence is assigned to it. It consists in the performance of canonical transformations, which are of central importance for the understanding of motion in theoretical physics. Fechner’s law mediates between the transformations and their infinitimal generators, accordingly. Due to the non-commutativity of the transformation group, there are discrepancies between the transcendent activity and its immanent experience with regard to the accounting of composite transformations. These involve the comprehension of changes of the subjective point of view. In tonal music they are manifest in local displacements of the tonic. The music-theoretical investigation therefore focusses on tonal ambiguities. Section 3 recapitulates and compares analyses of Chopin’s Prelude op. 28/4 by several authors and thereby collects evidence of the existence of a genuine ambiguity, which appears on several levels of description. With regard to counterpoint, the ambiguity is interpreted on the background of a distinction between (diatonic) steps and (chromatic) alterations. With regard to the harmony movement, this is being done on the background of a distinction between fundamental steps and virtual shifts in the tonal reference.
Escola Superior de Musica de Catalunya [Catalonia College of Music]
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