Alexander Rehding / Susannah Clark (Hg.), Music in Time. Phenomenology, Perception, Performance. Essays in Honor of Christopher F. Hasty, Cambridge (MA): Harvard University Press 2016
Thomas Ahrend
Festschriften nehmen im wissenschaftlichen Diskurs verschiedene Funktionen ein: Neben der inhaltlichen Reflexion und Diskussion spielen mitunter auch soziale (kollegiale, freundschaftliche, repräsentative usw.) Zusammenhänge eine Rolle. Eine Festschrift für Christopher Hasty unter dem Titel Music in Time weckt allerdings die Erwartung, dass hier trotz aller anderen Aspekte die Auseinandersetzung mit einem grundlegenden Thema der Musiktheorie und Musikwissenschaft im Zentrum steht, zu dem Hasty nicht zuletzt mit seinem Ende der 1990er Jahre erschienenen Buch Meter as Rhythm (New York: Oxford University Press 1997) eine provozierende und bedenkenswerte Theorie vorgelegt hat. Tatsächlich enthält der Sammelband dreizehn Aufsätze verschiedener, teilweise renommierter Autoren aus dem angelsächsischen Sprachraum, die das Thema Musik und Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. (Grundlage der Texte sind Referate eines zu Ehren von Hasty im Oktober 2013 an der Harvard-Universität organisierten Symposiums.) Das Buch bietet somit auch einen – wenn auch sicherlich keinen vollständigen – Überblick derzeit verfolgter Ansätze und vertretener Positionen zum Thema Zeit in der Musik und dessen musikwissenschaftlicher Modellierung und Konzeptualisierung.
Die Herausgeber ordnen die Beiträge fünf Themenbereichen zu, deren erster »Experiencing Time« überschrieben ist und drei verschiedene Zugänge zu musikalischen Zeiterfahrungen präsentiert. Nicholas Cook diskutiert in seinem interpretationsanalytischen Beitrag (»Time and Time Again: On Hearing Reinecke«, 3–31) die aus der Perspektive heutiger Musikpraxis erstaunlich wirkenden Temposchwankungen in den von Carl Reinecke Anfang des 20. Jahrhunderts eingespielten Klavierrollen (»piano rolls«). In der Gegenüberstellung einer solchen Aufnahme des ersten Satzes von Wolfgang Amadeus Mozarts Klaviersonate KV 332 mit einer Einspielung Alicia de Larrochas von 1989 attestiert Cook Reinecke (und anderen seiner Zeitgenossen) die Konzeption einer Musik aus Zeit (»music of time«), bei der die Tempomodifikationen einen substanziellen, d. h. auf strukturelle Merkmale der Komposition reagierenden Aspekt der musikalischen Gestaltung darstellen und die zu der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich als Norm durchsetzenden Vorstellung eines Musizierens in der Zeit (»music in time«) quersteht: Bei Reinecke sei Zeit »a dimension of the musical content: rather than being a spatial object that moves in time, the music is intrinsically temporal […]. [T]he music is not located in time but is rather made of time« (11). Diese beiden historisch aufeinanderfolgenden Interpretationsarten seien jedoch ihrerseits keine fixen Wesenheiten, sondern metaphorisch beschreibbare Möglichkeiten des Umgangs mit Zeit in der Musik überhaupt, denen sich in der Gegenwart auch hybride, die beiden Konzeptionen mischende Formen anfügen können: so etwa in einer Aufnahme des genannten Mozart-Sonatensatzes von Bart van Oort aus dem Jahre 2005.
Lawrence M. Zbikowski verfolgt in seinem Text (»Musical Time, Embodied and Reflected«, 33–54) einen kognitionswissenschaftlichen Ansatz und illustriert u. a. anhand einer Analyse des ersten Satzes von Tōru Takemitsus All in Twilight (1987) für Gitarre solo, wie viele verschiedene Arten kognitiver Aktivität bei der Aufführung, der hörenden Rezeption oder der imaginierenden Vorstellung von Musik eine Rolle spielen und das weite Erfahrungsspektrum einer musikalischen Zeit ermöglichen:
[O]ur reception of a musical work can range from embodied immersion in its constituent sonic analogs to reflection on the materials comprised by those analogs, with both shaping our temporal experience of the work. And […] our reception may also be informed by knowledge and events that are only tangentially related to the musical work, excursions into which can further shape our experience of time. (53)
Stephen Blum skizziert schließlich den Einfluss der philosophischen Phänomenologie (auch) auf die Musikethnologie (»Ethnomusicologists and Questions of Temporality«, 55–67) und diskutiert, wie daraus resultierende Zeitvorstellungen die Beschreibung musikalischer Zeit anderer Kulturen problematisch werden lassen: »how does moment-to-moment musical experience relate to a community’s understanding of time as a whole?« (67).
In einem zweiten, »Knowing the Score« betitelten Block erscheinen zwei Beiträge zum Verhältnis von Notation und Zeit. Robert Morris (»Notation Is One Thing, Analysis Another, Musical Experience a Third: What Can They Have To Do With One Another?«, 71–107) diskutiert anhand einer Reihe von Beispielen von Johannes Brahms über u. a. György Ligeti und Earle Brown bis zu Aaron Cassidy die komplexen und kontextabhängigen Funktionen musikalischer Notation, um dann an einem Ausschnitt aus dem ersten Satz von Ludwig van Beethovens Klaviersonate c-Moll op. 13 (Pathétique) und Arnold Schönbergs Klavierstück op. 19/4 mit Hilfe sogenannter »parametric dynamics« deren »musical flow« im Detail zu analysieren. Dabei werden verschiedene – durch die Notation fassbare – Parameter der Musik (Dauer, maximale und minimale Tonhöhe, deren Bandbreite, Anzahl verschiedener Tonhöhen sowie das Tonhöhenmittel bestimmter Segmente) miteinander in Beziehung gesetzt und über Graphen dargestellt. Das Ergebnis dieser Analyse hat aus Sicht des Autors vor allem heuristischen Wert: »Parametric dynamics is not about analyzing or reducing music to its structure. It is to sensitize the listener and performer to music as flow – the flow of sound and experience. We do this by looking closely to the music notation« (107).
Eugene Narmour präsentiert ein elaboriertes Modell des Verhältnisses von Notation und Aufführung (»The Modern Score and Its Seven Modes of Performance«, 109–151), in dem sechs »frames« musikalischer Praxis (Traditionen, Konventionen, Normen, Skripte, Partituren und Aufnahmen) zu sieben prinzipiell möglichen Aufführungsmodi in Beziehung gesetzt werden: »Formalism, Proformalism, Hyperformalism, Reformalism, Informalism, Contraformalism, Deformalism« (119). Das Wechselspiel dieser Modi ist nicht fixiert, sondern wird durch »transformational interpretations« immer wieder neu definiert: Auch ein ›rein‹ formalistischer Interpretationsansatz bestimmt sich erst in der Differenz zu den anderen Modi und in Abhängigkeit zu den in bestimmten historischen Epochen oder einzelnen Interpretationsschulen jeweils gültigen »frames«. In einer Gegenüberstellung der Einspielungen von Johann Sebastian Bachs Partita für Violine solo Nr. 2 d-Moll BWV 1004 durch Nathan Milstein (1954) und Rachel Podger (1999) werden die Modi mit Blick vor allem auf deren Zeitgestaltung illustriert.
Mit »The Passage of Time, Holding Time Still« ist der dritte Teil der Sammlung überschrieben, in dem sich vor allem Analysen kompositorischer Zeitbehandlung finden. Scott Burnham versucht in einer kurzen Analyse des Schlusstaktes von Franz Schuberts Streichquintett D 956 (»On the Last Measure of Schubert’s String Quintet«, 155–168) die darin gleichwohl zahlreichen Bezüge nicht nur zum Schlusssatz selbst, sondern insbesondere auch zum ersten Satz zu beschreiben. Der scheinbar einfache Klang (ein über drei tiefe Oktaven unisono gespieltes c mit dem Vorschlagston des) wird aus dieser Perspektive zu einer »sonic synecdoche, in that it can seem to sound for the whole« (156).
Janet Schmalfeldt konfrontiert in ihrer Analyse von Schumanns Davidsbündlertänzen (»In Time with Christopher Hasty: On Becoming a Performer of Robert Schumann’s Davidsbündlertänze, op. 6«, 169–189) Erinnerungen an ihre eigenen pianistischen Interpretationen des Zyklus mit dem Bedeutungsspektrum des Wortes »Werden« (»becoming«). Dabei betont sie diejenigen Aspekte, die auf die Prozesshaftigkeit der Komposition verweisen: »Here is a series of dance ›fragments,‹ or miniatures, whose individual roles within the complete cycle only became recognized over the progressive experience of the complete work – a formal and tonal ›becoming‹ in the grandest scale« (174). Insbesondere die Wiederkehr des »Ländlers« aus Nr. 2 am Ende der Tänze und dessen Transformation zur Coda stellt für Schmalfeldt sowohl in kompositorischer als auch in pianistischer Hinsicht eine Schlüsselstelle dar, in der verschiedene (Zeit-)Dimensionen zusammenkommen: »Here is the moment where distance, space and time merge« (184).
Jeanne Bamberger analysiert zunächst keine ›Werke‹, sondern beschreibt die graphischen und verbalen Reaktionen von Kindern, wenn diese mit musikalischer Zeit konfrontiert werden (»Shaping Time«, 191–216): Auf welche verschiedene Arten notieren sie Rhythmen? Und warum sagen sie, dass eine chromatische Tonleiter ›schneller‹ als eine Ganztonleiter sei? Bamberger sieht in diesen Äußerungen keine einfach ›frühen‹ Entwicklungsstufen musikalischer Kompetenz, die durch das Erlernen eines ›besseren Wissens‹ hinfällig würden, sondern eigenständige Muster des musikalischen Erlebens (»musical experience«), die auch bei professionellen Musikern als nicht hinterfragte Prämissen wirksam sind – und z. B. in Kompositionen von Antonio Vivaldi, Johann Sebastian Bach und Joseph Haydn ihre Spuren hinterlassen haben.
Der vierte Block ist »Finding Time: The Body and Parsing Rhythm and Meter« betitelt und versammelt drei Texte, in denen die Rezeption musikalischer Zeit im Vordergrund steht. Eugene Montague setzt sich kritisch mit dem Konzept des »entrainment« auseinander (»Meter, Entrainment, and Voice in The King’s Speech«, 219–235). Der nicht einfach zu übersetzende Terminus bezeichnet die synchrone Kopplung verschiedener Bewegungen und wird vor allem in kognitionswissenschaftlichen Ansätzen zur Beschreibung von Metrum- und Rhythmus-Phänomenen verwendet. In einer Analyse einiger Szenen des Films The King’s Speech (2010, Regie: Tom Hooper) wird das Verhältnis von Bild-, Sprach- und Musikrhythmen dahingehend beschrieben, dass die verschiedenen Medien zwar voneinander abhängig eingesetzt werden (die Musik kann z. B. den – für den stotternden Protagonisten problematischen –Sprachfluss unterstützen), diese aber jeweils eigene Metren ausbilden, für die eine Synchronisierung im Sinne des Entrainment-Konzepts nicht vorausgesetzt werden muss: »[T]he role played by meter in situations such as those in The King’s Speech suggests a wider and more potent notion of what meter is than that conveyed in most theories of entrainment« (235).
Susan McClary beschreibt »Zeitsprünge« in Claudio Monteverdis Ahi, com’ a un vago sol (Madrigalbuch V) und einem Prélude von François Couperin (»Doing the Time Warp in Seventeenth-Century Music«, 237–255). Zur Analyse dieser Zeitverschiebungen dienen ihr vor allem harmonische Besonderheiten, die aus Dur-Moll-tonaler Perspektive kurios erscheinen, aber im Sinne einer »temporal elasticity« (246) rezipiert werden können:
Our ability to deal effectively with seventeenth-century music has been hampered by its considerably different sense of harmonic syntax […]. But the greater obstacle is its very alien constructions of temporality. Of course, these two dimensions are tightly related to one another. […] The pitches give us something concrete to analyze, but it is finally the construction of temporality that matters culturally and aesthetically […]. (254)
Matthew Butterfield untersucht in seinem Beitrag die frühe Geschichte des Begriffs ›Swing‹ (»When Swing Doesn’t Swing: Competing Conceptions of an Early Twentieth-Century Rhythmic Quality«, 257–277). Bevor der Terminus zum qualitativen Merkmal von Jazzmusik überhaupt wurde bzw. zur Bezeichnung eines in den 1930er und 1940er Jahren besonders populären Jazzstils diente, wurde er Anfang des 20. Jahrhunderts in zwei sprachwissenschaftlichen Arbeiten in einem allgemeineren Sinne verwendet: Warner Browns Time in English Verse Rhythm (1908) und William Morrison Pattersons The Rhythm of Prose (1916) gebrauchen den Begriff, um eine subjektiv empfundene rhythmische Periodizität zu beschreiben, die sich nicht in gleichförmigen zeitlichen Intervallen messen lässt. Eine solche Verwendung findet sich darüber hinaus nicht nur in zeitnahen Texten von Scott Joplin über das Ragtime-Spielen, sondern auch in Beschreibungen des Violinspiels von Joseph Joachim durch Donald Francis Tovey. (Ab Ende der 1910er Jahre setzte dann in der Jazz-Literatur eine die Synkopierung von Rhythmen betonende Verengung des Begriffs ein.) In der Analyse einer Aufnahme Billie Holidays von I Can’t Give You Anything But Love aus dem Jahre 1936 zeigt Butterfield, wie sich diese frühe Bedeutungsschicht des Swing-Begriffs auch in der späteren als ›Swing‹ bezeichneten Musik erhalten hat.
Im fünften und letzten Teil, der mit »›Thisness‹ and Particularities« überschrieben ist, werden Werk und Person Hastys zum zentralen Gegenstand der Essays. Brian Hulse versucht, das von Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägte Begriffspaar eines ›gekerbten‹ und eines ›glatten‹ Raumes mit Hastys eigenem theoretischen Ansatz auf musikalische Zeitzusammenhänge zu übertragen (»Off the Grid: Hasty and Musical Novelty in Smooth Time«, 281–292). Martin Brody zeichnet ein Porträt des Musiktheoretikers Hasty als Musiker (»Theory, as a Music«, 293–311). Hierbei wird Hasty in einen Zusammenhang mit anderen in den USA wirkenden Komponisten-Theoretikern wie Milton Babbitt und Benjamin Boretz gestellt.
Bezüge auf Hastys theoretische Positionen finden sich nicht nur in diesen beiden letzten – freilich etwas panegyrisch wirkenden – Beiträgen: Nahezu jede/r der Autor*innen verweist würdigend auf eine Publikation Hastys oder bringt sogar ein Zitat daraus. Die inhaltlichen Verknüpfungen bleiben dabei aber ansonsten eher allgemein, konkrete inhaltliche Auseinandersetzungen bleiben eine Ausnahme. Lediglich in den Texten von Eugene Montague und Matthew Butterfield wird der in Hastys Meter as Rhythm zentrale Begriff der ›projection‹ auch auf die eigenen Fragestellungen fruchtbar angewendet. Und Janet Schmalfeldt setzt sich in ihrem Beitrag intensiv mit dem von Hasty auf verschiedene Art und Weise immer wieder stark gemachten Prozesscharakter musikalischer Form auseinander. (Trotz zahlreicher Verweise auf Hasty selbst und dessen philosophische Referenzen, insbesondere auf Deleuze, scheint sie in ihren analytischen Ansätzen – im Unterschied zu Hasty – einer hegelianischen Konzeption von »Werden«/»becoming« verpflichtet zu sein.) Da die einzelnen Aufsätze, wie bereits erwähnt, aus einer Konferenz heraus entstanden sind, nutzen einige Autoren auch die Möglichkeit, auf andere Beiträge des Bandes Bezug zu nehmen. So verweist z. B. Nicholas Cook auf die Beobachtungen Matthew Butterfields zur frühen Verwendung des ›Swing‹-Begriffs, um die Zeitgestaltung Reineckes näher zu beschreiben (vgl. 26f.). Über solche expliziten Verweise hinaus sind es aber auch gerade die impliziten Bezüge einiger Texte (z. B. von Jeanne Bambergers Analysen der rhythmischen Aufzeichnungen von Kindern zu den Essays von Robert Morris und Eugene Narmour über musikalische Notation), die diesen Sammelband – dessen Beiträge häufig auf bereits an anderen Orten publizierten Texten beruhen – zu einer interessanten und anregenden Lektüre sowie zu einer besonderen Festschrift machen.
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