Schnittstellen zwischen performance und Analyse von Popmusik
Performative Produktionsprozesse in Pink Floyds Album Wish You Were Here und Jordan Rudessʼ Coverversion von Genesisʼ Dance on a Volcano [1]
Hubertus Dreyer, Pascal Horn
In Popmusik ist die in jüngerer Zeit von den musical performance studies generell hinterfragte Trennung zwischen ›Werk‹ und ›Interpretation‹ kaum anwendbar, performance (gerade auch, wenn sie vorwiegend im Studio stattfindet) kann als ein integraler Bestandteil eines Songs oder Albums verstanden werden. Der vorliegende Beitrag versucht, Schnittstellen zwischen der Analyse von performance und musikalischer Analyse von Popmusik aufzuzeigen: Einerseits gibt eine Untersuchung der Studioarbeit von Popkünstler*innen nicht nur Einblicke in die Entstehung von Popmusik, sondern erlaubt auch Rückschlüsse auf Ästhetik und musikalische Konzepte der Künstler*innen, die wiederum Anhaltspunkte für die musikalische Analyse bieten. Andererseits lassen sich Coverversionen ähnlich vergleichend studieren wie üblicherweise verschiedene Interpretationen klassischer Werke betrachtet werden. Diese Vorgehensweisen werden anhand je eines konkreten Beispiels diskutiert – Pink Floyds Album Wish You Were Here (1975) und Jordan Rudess’ Coverversion (2007) von Genesis’ Dance on a Volcano (1975/76). Beide Beispiele gehören zur Progrock-Tradition und weisen ähnliche musikalische Komplexität auf; die Art und Weise dieser Komplexität aber unterscheidet sich und reflektiert unterschiedliche Produktionsstile: Bei Pink Floyd steht ein gleichsam vegetativer, großen psychischen Belastungen entspringender Wachstumsprozess im Vordergrund, der zu einem dichten Netz musikalischer Bezüge innerhalb des Albums führt, bei Jordan Rudess ein rational geplantes, ökonomisches Verfahren, dessen Resultat seine Wirkung nicht zuletzt aus der Virtuosität der Musiker bezieht.
The separation between a ‘work’ and its ‘interpretation’, which has been questioned in recent musical performance studies, is hardly applicable in pop music; performance (especially when it predominantly takes place in the studio) can be understood as an integral aspect of a song or album. The present article examines possible ‘interfaces’ between the analysis of performance and musical analysis of pop music. On the one hand, by studying production processes in pop music we gain insight into the aesthetical and musical concepts of the artists, which can in turn inform the musical analysis. On the other hand, cover versions of pop music may be analyzed in the same way that different interpretations of classical music are compared. These two approaches are applied to Pink Floyd’s album Wish You Were Here (1975) and to Jordan Rudess’ cover version (2007) of Genesis’ Dance on a Volcano (1975/76). Both works belong to the prog rock tradition and display a similar level of musical complexity; the way in which these works are complex, however, differs and reflects different production styles: Pink Floydʼs album is the result of a quasi vegetative growth under strong psychological distress, leading to a dense network of musical cross-references throughout the album; Jordan Rudess, on the other hand, proceeds rationally and economically, and the artistic effect of the result owes much to the virtuosity of the musicians.
Musikanalyse und performance diesseits und jenseits der Bühne
Performance in der Popmusik beginnt nicht auf der Bühne und hört nicht auf der Bühne auf. Popkünstler*innen sind nicht davor gefeit, von den Folgen ihrer performance eingeholt zu werden. Wir können an Kurt Cobain, an Amy Winehouse, an Ian Curtis denken, an David Bowie, der seinem drohenden geistigen Zusammenbruch durch die Flucht von Los Angeles nach Berlin entging[2], oder an Syd Barrett, Mitbegründer von Pink Floyd und ursprünglich treibende kreative Kraft der Gruppe. Popmusik ist voll solcher Biographien.
Auf der anderen Seite beginnt performance nicht auf der Bühne, sondern durchzieht den gesamten Produktionsprozess eines Songs, sodass sich Studioarbeit und ihre Produkte durchaus unter performativen Aspekten betrachten lassen. Bereits 2004 wies Peter Auslander darauf hin, dass für Performance-Analysen von Popmusik Tonträger ein unentbehrliches Medium darstellen: »The media economy of popular music […] dictates that sound recordings be considered performances, which is how listeners experience them.«[3]
Können Performance-Studien klassischer Musik sich auf eine meist ziemlich klare Trennung von notiertem Text und seiner Aufführung berufen, so ist in einem Popsong die musikalische performance bereits integraler Bestandteil des Werkes: Niemand würde auf den Gedanken verfallen, eine Version von Thriller zu erstellen mit dem Ziel, der Komposition von Rod Temperton näher zu kommen als Michael Jackson (für den Temperton Thriller schrieb). Die ›authentische‹ Version von Thriller ist eben Michael Jacksons Version und von der performance der beteiligten Musiker nicht zu trennen. Entsprechend nennt Mark Spicer auch in Bezug auf einen auf dem Genesis-Album Foxtrott (1972) erschienenen Song »the 1972 studio version of ›Supperʼs Ready,‹ […] the Urtext for this piece«[4] – es ist wenig sinnvoll, den Song, wie er auf Foxtrott erscheint, als ›Interpretation‹ eines abstrakteren Hintergrundtextes zu analysieren.
Nun fehlt es sicher nicht an Arbeiten, die Popmusik unter performativen Aspekten betrachten, aber nur selten geben sie musiktheoretischen Überlegungen – musikalischer Analyse – Nahrung, und umgekehrt: Verschiedentlich geäußerte Kritik an der musikalischen Analyse von Popmusik, etwa bei Peter Wicke[5], könnte auch gelesen werden als Aufforderung, beim Analysieren performative Aspekte – diesseits und jenseits der Bühne – stärker zu berücksichtigen. So liegt etwa in der engen Vernetzung von semiotischen, soziologischen, performativen und analytischen Ansätzen die überragende, auch von Wicke nicht angezweifelte Bedeutung von Susan Fasts Studie über Led Zeppelin.[6]
Auf der Suche nach Schnittstellen zwischen Performance-Analyse von Popmusik und Musikanalyse lassen sich verschiedene Vorgehensweisen denken. Auf eine Möglichkeit weist Roland Huschner hin, der die Studioarbeit verschiedener deutscher Bands aus der Nahperspektive untersuchte[7] und eine mögliche musikanalytische Relevanz seiner Untersuchungen nicht ausschließt, allerdings auch nicht genauer erörtert. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, Coverversionen von Popstücken genauso zu betrachten, wie man schon seit langem verschiedene Interpretationen klassischer Werke vergleicht.
Beide Strategien sollen hier anhand je eines konkreten Beispiels so weit verfolgt werden, dass sich zumindest einige Ansätze für ausführlichere Studien erkennen lassen. Die Beispiele entstammen beide der Progrock [Progressive Rock]-Tradition: Für die musikanalytische Auswertung von Studioarbeit wählen wir Pink Floyds Album Wish You Were Here (1975), für die Betrachtung einer Coverversion Jordan Rudessʼ Version von Genesisʼ Dance On a Volcano (1975/76)[8], den ersten Track von Rudessʼ 2007 erschienenem Soloalbum The Road Home; Rudess ist seit 1999 Keyboarder von Dream Theater, der wohl bekanntesten Progressive-Metal-Band.
Natürlich sind das ›Traumstücke‹ – es handelt sich um äußerst faszinierende und komplexe Musik, deren Reichtum hier nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft werden kann. Wohl aber hoffen wir, durch die Einbeziehung performativer Aspekte neue Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen.
Der Vergleich zwischen den beiden Beispielen wird nicht nur durch den stilistischen Traditionszusammenhang motiviert – Progrock vor und nach seiner großen Krise in der Mitte der 1970er Jahre –, Pink Floyd gehört sowohl für Dream Theater als auch für Jordan Rudess selbst zu den wichtigsten Vorbildern: Dream Theater spielte sogar eine um große Nähe zum Original bemühte Version von Pink Floyds The Dark Side of the Moon ein, die als CD 2006 veröffentlicht wurde – ein bemerkenswerter Tribut an eine bewunderte Band von Musikern, die längst mit ihren eigenen Werken Berühmtheit erlangt hatten; der Saxophonist dieser Cover-CD ist Norbert Stachel, der 2000 und 2002 auch bei der »In the Flesh«-Tour des Pink-Floyd-Mitglieds Roger Waters mitwirkte. So mögen vielleicht Bezüge erkennbar werden, die wiederum weitere Fragen motivieren: Ein ›schiefer Vergleich‹, der immerhin zeigt, wie weit der dadurch aufgespannte Raum tatsächlich ist.
Entstehungsgeschichten
Es herrscht kein Mangel an Informationen über die Entstehung von Popalben. Bei einer Gruppe wie Dream Theater gehören die Making-of-Videos, alle auf YouTube leicht zugänglich, zum festen Bestandteil ihrer Öffentlichkeitspräsenz. Allerdings darf man da nicht immer auf leicht verwertbares Material hoffen – das Video, das dem Entstehungsprozess des ersten Songs von Six Degrees of Inner Turbulence (2002) gewidmet ist[9], dürfte sich nur Eingeweihten erschließen (verbale Erklärungen werden nicht geboten, gezeigt werden die Finger des Keyboarders, der eine kurze Synthesizerpassage spielt, ein ›Spickzettel‹ mit dem formalen Ablauf, die Aufnahme kurzer Passagen im Studio und eine Tüte Bonbons auf dem Mischpult): Das Making-of-Video wird so selbst zur Performance, möglicherweise auch, wie im vorliegenden Fall, als leicht ironischer Kommentar auf schon bestehende Making-of-Videos, der zudem Unterhaltungswert haben soll.
Die Gefahr, dass Entstehungsgeschichten verzerrt dargestellt werden, ist überall gegeben, auch in dem Schrifttum, das für eine Fangemeinde den Werdegang einer Gruppe darstellt und fallweise auch Informationen über den Produktionsprozess enthält. Nichtsdestoweniger bilden solche Informationen oft wertvolle Anhaltspunkte für die weitere Analyse; im besten Fall lassen sie sich ähnlich lesen wie das Skizzenbuch zu einer Komposition, aus dem allerdings vermutlich etliche Seiten herausgerissen wurden.
Aber auch die beste Dokumentation gibt den Gedankengang Komponierender nie vollständig wieder. Es sei hier an einen legendären Zwischenfall bei den Kölner Kursen für Neue Musik 1965 erinnert[10]: Ein Teilnehmer fragte Karlheinz Stockhausen, ob er die Entstehung eines seiner Werke in allen Details erörtern könne, und Stockhausen antwortete, indem er in einer siebenstündigen Marathonvorlesung sein Werk Stop live an die Tafel komponierte – Komponieren als performance.
Pink Floyds Album Wish You Were Here (1975) ist, was die Dokumentation des Entstehungsprozesses betrifft, ein Glücksfall. Der Film The Story of Wish You Were Here[11] aus dem Jahr 2012 gibt, insbesondere im Kontext der sonst vorliegenden Darstellungen von Pink Floyds Arbeitsweise, über viele Aspekte der Entstehungsgeschichte umfassenden Aufschluss. Ferner können wir uns u.a. auf die vor allem den Texten und ihrer Beziehung zur Musik gewidmete Arbeit von Phil Rose[12] sowie die ausgezeichnete Analyse von Gilad Cohen[13] von Shine On You Crazy Diamond, dem längsten Stück des Albums, stützen.
»The Story of Wish You Were Here«
Der überraschende Erfolg von The Dark Side of the Moon (veröffentlicht im Januar 1973) stürzte Pink Floyd in eine tiefe Krise; Roger Waters beschrieb das Gefühl, damit »the end of the road«[14] erreicht zu haben. Nichtsdestoweniger gab es 1974 Anläufe zu einem neuen Album mit dem Arbeitstitel Household Objects, bei dem anstelle von Instrumenten die Musik aus Klängen von Haushaltsgegenständen hervorgehen sollte; das Album gedieh nicht über drei Titel hinaus[15], aber einer der Titel, Wineglasses, wurde später in Wish You Were Here verwertet. Ferner entstanden 1974 in Proberäumen des Londoner Stadtteils Kingʼs Cross Rohfassungen dreier neuer Songs – Shine On You Crazy Diamond, Raving and Drooling (später Sheep) und You Gotta be Crazy (später Dogs). Diese Songs wurden dann noch im selben Jahr auf Tourneen durch Frankreich und Großbritannien[16] in der jeweils ersten Konzerthälfte vorgestellt (in der zweiten Hälfte folgte The Dark Side of the Moon): Pink Floyd hatten bereits für The Dark Side of the Moon das Verfahren eingeführt, Rohfassungen von Songs zunächst in Konzerten vorzustellen und sie gewissermaßen ›auf offener Bühne‹ weiterzuentwickeln, bevor sie dann im Studio aufgenommen wurden.[17]
Zwei Pink-Floyd-Konzerte der genannten Tournee im Jahr 1974 in London besuchte der Musikkritiker Nick Kent und widmete ihnen eine verheerende Kritik, die sich vor allem gegen den Aufführungsstil der Gruppe, fehlende Bühnenpräsenz und fehlenden Kontakt mit dem Publikum richtete[18]; dabei bespricht Kent auch ausführlich den Song Shine On You Crazy Diamond:
After approximately five minutes of slightly laboured tuning up, the band start their first number of the set – a new composition entitled »Shine On You Crazy Diamond«. It is very slow, rather low on melodic inventiveness, each note hanging in that archetypically ominous stunted fashion that tends to typify the Floyd at their most uninspired. The song itself is duly revealed to be of very slight mettle: the chords used are dull, as is the pace.
The song distinctly lacks »form«.[19]
… und Pink Floyd nahm Kents Kritik sehr ernst (so übereinstimmend David Gilmour, Roger Waters und Nick Mason[20]).
Ursprünglich war geplant, die drei in der Tournee erprobten Songs anschließend, ab Januar 1975[21], zu einem neuen Album zusammenzufassen. Doch scheinen sich die ersten Aufnahmesessions äußerst unbefriedigend und unproduktiv gestaltet zu haben; Roger Waters setzte, im Rahmen einer heftigen Diskussion[22], gegenüber dem Rest der Gruppe die Idee durch, das ganze Album, wie schon The Dark Side of The Moon, thematisch zu konzentrieren und nur einen der drei Songs, eben Shine On You Crazy Diamond, für das Album zu berücksichtigen.
In der Tat dürfte ohne Waters’ Eingreifen Wish You Were Here wohl kaum seine konzeptuelle Geschlossenheit erreicht haben. Ein Vergleich der Endfassung von Shine On You Crazy Diamond mit der Aufnahme des Konzerts vom 15.11.1974, das Nick Kent besucht hatte, ist sehr instruktiv: Man kann Kents Kritik an den Tourneefassungen, namentlich im Vergleich mit der Albumversion, schwerlich eine gewisse Berechtigung absprechen.[23] Die frühen Versionen wirken mäandernd, die Instrumentalsoli lassen keine klare Richtung erkennen; mit Ausnahme der beiden Gesangsteile, die deutlichere Konturen aufweisen, tritt die Harmonik weitgehend auf der Stelle, sodass rhythmisch bewegtere Passagen, mehr noch die Schlusswendung des Songs nach G-Dur nicht recht motiviert wirken.
Der wichtigste Unterschied zwischen Konzerten und Album jedoch ist der, dass der Song Shine On You Crazy Diamond auf dem Album in zwei etwa gleich lange Teile geteilt wurde, die nun drei erst während der Aufnahmesessions entstandene Songs umrahmen; diese drei Songs stehen alle in einer anderen Tonart als Shine On You Crazy Diamond (g-Moll): Welcome to the Machine und Have a Cigar in e-Moll, der Titelsong Wish You Were Here in G-Dur. Eine Übersicht über die Gesamtform des Albums im Vergleich zur Form der Konzerte mag den Sachverhalt veranschaulichen und bei der weiteren Diskussion als Orientierung dienen (Tab. 1). In der Konzertversion fehlten also die Teile 1b, 8b und 9a von Shine On You Crazy Diamond. Darüber hinaus unterscheiden sich sämtliche Soli sehr stark von der Studioversion, von Part 5 hört man im Konzert, in Ermangelung von Parrys Saxophonsoli, nur das, was später als deren Begleitung erscheint. Weitere Unterschiede werden unten erörtert.
Tabelle 1: Gliederung des Albums Wish You Were Here und Vergleich mit den Konzerten vom 15.11. und 16.11.1974.
Die Form von Shine On You Crazy Diamond fügt sich keinem konventionellen Schema. Die Vokalteile (Part 4 und 7) sind jedoch musikalisch fast identisch: Von drei in sich nicht weiter untergliederten Strophen derselben Melodie, mit beibehaltener Harmonik, bis auf Details gleichem Arrangement, aber unterschiedlichem Text, entfallen zwei auf Part 4 und eine auf Part 7. Die anderen Teile könnten als extrem ausgedehntes Intro (Part 1 senza tempo, Part 2 und 3 im 12/4-Takt), instrumentales Zwischenspiel (Part 5 und 6, wiederum im 12/4-Takt) und Outro (Part 8 und 9a im 4/4-Takt, Part 9b senza tempo) aufgefasst werden.
Über die Details des Entscheidungsprozesses, der zum Aufteilen von Shine On You Crazy Diamond in zwei Hälften führte, kann man nur spekulieren – in früheren Alben hatte Pink Floyd längeren Songs jeweils eine Albumseite gewidmet (Atom Heart Mother, 1970, Echoes auf Meddle, 1971), doch konnte angesichts der B-Seite von Atom Heart Mother bzw. der A-Seite von Meddle von einer konzeptionellen Geschlossenheit der Alben keine Rede sein; andererseits umrahmen in Atom Heart Mother und in Echoes miteinander korrespondierende Außenteile den (jeweils ›experimenteller‹ gestalteten) Mittelteil in ähnlicher Weise wie die beiden Hälften von Shine On You Crazy Diamond die andern drei Songs.[24]
Nun lassen sich mehr oder weniger komplexe Tonartenpläne für viele Popalben feststellen:[25] Die Existenz eines Tonartenplanes besagt an sich noch wenig. Der Tonartenplan von Wish You Were Here (g – e – e – G – g G) ist immerhin, gemessen an den Traditionen dur-moll-tonaler Kunstmusik, eigenartig – es handelt sich letzten Endes um eine Entwicklung von Moll zum gleichnamigen Dur, wenn man will um eine Variante des ›Durch-Nacht-zum-Licht-Topos‹, aber der Plan ist für romantische Musik zu einfach, in vorromantischer dur-moll-tonaler Musik hingegen wegen der Relation g-e schwer vorstellbar. Bemerkenswert an diesem Plan ist jedoch, dass er Ideen, die schon 1974 in der Konzertfassung von Shine On You Crazy Diamond angelegt waren, ausführt, und wie er immer wieder ›en miniature‹ durch das ganze Album hindurch abgebildet wird. Dies sei im Folgenden erläutert.
Die Initialidee für Shine On You Crazy Diamond ist eine viertönige Gitarrenfigur, gespielt von David Gilmour (in der Endfassung zuerst ab 3:53 [Part 2] zu hören; Bsp. 1, Audiobsp. 1): »[it] popped out of the guitar one day in King’s Cross. Somehow those notes evoked a song about Syd and his disappearance, absence, if you like«.[26] Zur Vermeidung von Missverständnissen wollen wir diese Viertonfigur im Folgenden das SOYCD-Motiv nennen.
Beispiel 1: Die Initialidee von Shine On You Crazy Diamond (SOYCD-Motiv) beim ersten Auftreten zu Beginn von Part 2 (3:53)
Audiobeispiel 1: Pink Floyd, Wish You Were Here; Shine On You Crazy Diamond 1, 3:50–4:14 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Die letzten beiden Töne des Motivs geben schon einen Hinweis auf den Tonartenplan, und die Tonkonstellation g-e wird am Anfang aller drei mittleren Stücke des Albums deutlich zitiert: In Welcome to the Machine hört man über dem ›Maschinenbeat‹ des VCS3 (eines von Peter Zinovieff entwickelten Modularsynthesizers, der sich in den frühen 1970er Jahren bei verschiedenen Popkünstler*innen einiger Beliebtheit erfreute[27]) auf dem Ton E, der später durch den Bass verstärkt wird, zunächst einen ›summer-artigen‹ Sound, abwärts glissandierend von einem 50 Cent zu hohen zu einem 36 Cent zu hohen g; der erste Ton des Gesangs ist dann wiederum – ohne erkennbare mikrotonale Abweichung – g. Die ersten Basstöne von Have a Cigar sind, nach einer absteigenden, tonal nicht zu definierenden Einleitungsgeste, e und g. Die erste Phrase des Titelsongs Wish You Were Here beginnt mit g und endet mit e (Bsp. 2/Audiobsp. 2).
Beispiel 2: Anfangsriff von Wish You Were Here (0:22–0:26)
Audiobeispiel 2: Pink Floyd, Wish You Were Here; Wish You Were Here (Titelsong), 0:22–1:36 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Gilmours Schilderung zufolge entwickelte sich der gesamte Titelsong aus diesem Anfangsriff.[28] Die ersten Akkorde des Songs sind e-Moll und G-Dur. Die leichte Spielbarkeit dieser Akkorde unterstreicht die emotionalen Qualitäten des Songs – Gilmour: »Itʼs a very simple, sort of country song […], still, because of its resonance and then of the emotional weight it carries, it is one of our best songs.«[29] Diese Art von ›Popularität‹ des Materials fügt sich in die inhaltliche Konzeption des Albums:
»Wish You Were Here« musically represents a retreat from the machine […]. Almost completely performed with acoustic instruments, the piece establishes a sense of honesty and sincerity, in contrast to the musical portraits of the previous two pieces. It is an assertion of humanity or »natural« values, displayed particularly by the humble guitar solo which precedes the vocal entry.[30]
Der Song hat nostalgische Qualitäten, entsprechend einem Narrativ, das sich vielleicht beschreiben ließe als ›Rückgriff auf Erinnerungen‹, dem dann in der zweiten Hälfte von Shine On You Crazy Diamond die – zumindest in Part 6 durchaus dramatische – Auseinandersetzung mit den bisher ungelösten Konflikten bis zum versöhnlichen G-Dur-Schluss folgt.
Motivische Bezüge
Das SOYCD-Motiv (Bsp. 1) tritt sehr bald (4:30 [Part 2]) mit der Harmonisierung g-C (i-IV) auf (Bsp. 3). Cohen weist auf die große Bedeutung von i-IV-Pendeln in Pink Floyds Musik hin[31], die unter anderem bei den Jam-Sessions, in denen improvisatorisch Material für The Dark Side of the Moon entwickelt wurde, eine wichtige Rolle spielten.
Beispiel 3: Harmonisiertes SOYCD-Motiv (Shine On You Crazy Diamond 1, Part 2, ab 4:30)[32]
Die i-IV-Folge erscheint nicht nur in Shine On You Crazy Diamond (besonders in Part 2 und Part 8), sondern auch, diesmal tatsächlich als Pendel, in instrumentalen Zwischenspielen (2:56–3:10, 4:03–4:16) und gegen Ende (4:42–4:56) des Titelsongs Wish You Were Here (Bsp. 4/Audiobsp. 3).
Beispiel 4: Em-A-Pendel im Synthesizer in Wish You Were Here (Titelsong), mit zum Vergleich hinzugefügtem SOYCD-Motiv
Audiobeispiel 3: Pink Floyd, Wish You Were Here; Wish You Were Here (Titelsong), 2:56–3:10 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Durch diese Verwendung von e-Moll könnte man auf den Gedanken kommen, das SOYCD-Motiv nicht nur in g-Moll, sondern auch in e-Moll zu notieren, und danach zu suchen, wo Kombinationen aus den beiden Fassungen im Album auftreten (Bsp. 5).
Beispiel 5: SOYCD-Motiv auf g und e
Man findet zwei exponierte Stellen:
(1) In den Vokalteilen von Shine On You Crazy Diamond (Part 4 und 7) tritt jeweils zweimal direkt hintereinander – und sonst nirgends im ganzen Album – der bei Pink Floyd ungebräuchliche verminderte Septakkord e-g-b-des bzw. -cis auf (das erste Mal über dem Basston C), im Kontext dieser Musik also ein markierter Akkord (Bsp. 6/Audiobsp. 4).
Beispiel 6: Verminderter Septakkord in Shine On You Crazy Diamond 1, Part 4
Audiobeispiel 4: Pink Floyd, Wish You Were Here; Shine On You Crazy Diamond 1, 9:25–9:50 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Eine Deutung des Akkords e-g-b-des als Überlagerung des ersten, dritten und vierten Tons beider Transpositionen des Viertonmotivs ist denkbar (Bsp. 7, vgl. Bsp. 5).
Beispiel 7: Verminderter Septakkord aus Überlagerung des SOYCD-Motivs auf g und e
(2) Der zweite Akkord von Shine On You Crazy Diamond Part 9a, der die Aufgabe hat, das Ende des Songs und damit des Albums in G-Dur plausibel vorzubereiten, ist ein sonst im gesamten Album nicht erscheinender b-Moll-Akkord. Er ließe sich aus den ersten beiden Tönen des ersten und dem enharmonisch verwechselten letzten des transponierten Viertonmotives gewinnen (Bsp. 8), könnte aber natürlich auch anders gedeutet werden, nämlich als symmetrischer Gegenpol zur Kleinterzbeziehung g-e, die einen so großen Teil des Albums bestimmt, in die andere Richtung g-b.
Beispiel 8: b-Moll-Akkord in Shine On You Crazy Diamond 2, Part 9, als Überlagerung des SOYCD-Motivs auf g und e
Die Einwände gegen einen solchen Analyseansatz scheinen auf der Hand zu liegen: Schon Analysen des klassischen Repertoires à la Rudolph Réti stehen im Verdacht, oft allzu spekulativ musikalischen Zusammenhang aus der Kohärenz (sub-)motivischen Materials abzuleiten; hat es also überhaupt einen Sinn, derlei Verfahren auch auf Popmusik anzuwenden? Immerhin gibt es, wie unten zu zeigen sein wird, im Produktionsprozess des Albums ebenso wie generell in für Pink Floyd typischen Verfahren der Musikproduktion Indizien dafür, dass solche Analysen wohl doch nicht völlig abwegig sind: Die Musiker dachten mit einer gewissen Besessenheit über ein für sie emotional hochgradig geladenes Motiv nach, und sie waren es gewohnt, einzelne Abschnitte eines Werkes und damit vielfältigste Varianten dieses Motivs umzustellen und neu zu kombinieren.
Die Entwicklungsmöglichkeiten der Initialidee sind mit dem bislang Dargestellten längst nicht erschöpft. Cohen weist auf zwei weitere hin:[33]
(1) In Part 5 und beim Übergang von Part 7 zu Part 8 verwandelt sich das SOYCD-Motiv in eine schnelle Figuration in der E-Gitarre. In Part 5 schleicht sie sich, erst auf jedem zweiten, später auf jedem dritten Achtel betont, in ein Saxophonsolo hinein und löst die bis dahin eher ruhige Bewegung figurativ auf (Bsp. 9/Audiobsp. 5).
Beispiel 9: Figurative Auflösung des SOYCD-Motivs in Shine On You Crazy Diamond 1, Part 5
Audiobeispiel 5: Pink Floyd, Wish You Were Here; Shine On You Crazy Diamond 1, 11:21–11:29 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Am Ende von Part 7 erscheint die gleiche Idee überraschend als 4/4 (Bsp. 10/Audiobsp. 6) und leitet in die funkige ›Jam-Passage‹ von Part 8 (Audiobsp. 7).
Beispiel 10: Umrhythmisierung der Figur von Beispiel 9 in 4/4-Takt in Shine On You Crazy Diamond 1, Ende Part 7
Audiobeispiel 6: Pink Floyd, Wish You Were Here; Shine On You Crazy Diamond 2, 6:02–6:10 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Audiobeispiel 7: Pink Floyd, Wish You Were Here; Shine On You Crazy Diamond 2, 6:20–8:59 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
(2) In Part 2 wird bei 4:53 das SOYCD-Motiv so verändert, dass es von g-Moll nicht nach C-Dur, sondern nach c-Moll führt (b-f-g-es, Bsp. 11/Audiobsp. 8). Daraus geht eine chromatische Linie hervor, die vom Spitzenton der Initialidee f über e und es weiter nach d führt und später (ab 6:05) ihr Echo in einer chromatischen Abwärtslinie im Bass findet (Bsp. 12/Audiobsp. 9).
Beispiel 11: Chromatische Linie aus SOYCD-Motiv in Shine On You Crazy Diamond 1, Part 2 (4:53)
Audiobeispiel 8: Pink Floyd, Wish You Were Here; Shine On You Crazy Diamond 1, 4:44–5:12 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Beispiel 12: Chromatische Basslinie und übermäßiger Dreiklang auf Fis in Shine On You Crazy Diamond 1, Ende Part 2 (ab 6:05, Vorwegnahme des ›Chorus‹)
Audiobeispiel 9: Pink Floyd, Wish You Were Here; Shine On You Crazy Diamond 1, 6:00–6:33 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Verfolgen wir die von Cohen angelegte Spur weiter. Die in Beispiel 12 dargestellte Basslinie nimmt deutlich eine Wendung in den Vokalteilen vorweg, in dem der übermäßige Akkord fis-b-d durch einen Ges-Dur-Akkord ersetzt wird (Bsp. 13/Audiobsp. 10: Part 4, Strophe 1; ebenso in der anschließenden Wiederholung 9:02–9:11 sowie in der zweiten Strophe, 10:05–10:14 und 10:26–10:35 und in Part 7, 4:49–5:08/5:20–5:29).
Beispiel 13: Anfang des ›Chorus‹ (Shine On You Crazy Diamond 1, Part 4; Shine On You Crazy Diamond 2, Part 7), hier in der Fassung des ersten Auftretens (Shine On You Crazy Diamond 1, 8:41–8:50)
Audiobeispiel 10: Pink Floyd, Wish You Were Here; Shine On You Crazy Diamond 1, 8:38–9:03 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Der Ges-Dur-Akkord ist im gesamten tonalen Raum des Albums Wish You Were Here der entfernteste Punkt: Die Akkordik in Shine On You Crazy Diamond bewegt sich ansonsten zwischen c-Moll und D-Dur (als Dominante von g-Moll), der vorher schon angesprochene b-Moll-Akkord in Part 9a und ein darauf unmittelbar folgender f-Moll-Akkord schlagen gleichsam nachträglich eine Brücke zum Ges-Dur-Akkord (zu Part 9a vgl. Bsp. 16). Ferner wird am Ende der Strophen von Part 4 (9:23–9:44, 10:47–11:07) und Part 7 (5:42–6:02) die zuvor aus dem SOYCD-Motiv gewonnene chromatische Linie (vgl. Bsp. 11) erst ab-, dann auch aufwärts geführt (Bsp. 14/Audiobsp. 11).
Beispiel 14: Ab- und aufsteigende chromatische Linie im ›Chorus‹ von Shine On You Crazy Diamond 1, Part 4 (9:23–9:44)
Audiobeispiel 11: Pink Floyd, Wish You Were Here; Shine On You Crazy Diamond 1, 9:21–9:46 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Eine sehr ähnliche chromatische Linie findet sich in Have a Cigar gegen Ende des Intro (Bsp. 15/Audiobsp. 12).
Beispiel 15: Ab- und aufsteigende chromatische Linie in Have a Cigar gegen Ende des Intros (0:50–0:56) (die Synthesizer-Linie wird von der E-Gitarre und Bass verdoppelt)
Audiobeispiel 12: Pink Floyd, Wish You Were Here; Have A Cigar, 0:49–0:57 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Derlei Varianten- und Transformationstechniken stiften gut hörbare Bezüge gerade deshalb, weil sonst Chromatik im gesamten Album äußerst sparsam eingesetzt wird. Doch finden sich auch auf anderen Ebenen ähnliche Verfahren. So spielt Richard Wrights Solo in Shine On You Crazy Diamond Part 9 immer wieder auf das Motiv an, mit dem sein Solo in Part 1 – und damit das ganze Album – beginnt (Audiobsp. 13); interessanterweise erscheint das Motiv aber nie am Anfang einer Phrase (Bsp. 16/Audiobsp. 14).
Beispiel 16: Verwendung des Anfangsmotivs von Wrights Solo in Shine On You Crazy Diamond 1, Part 1, in Wrights Solo in Shine On You Crazy Diamond 2, Part 9
Audiobeispiel 13: Pink Floyd, Wish You Were Here; Shine On You Crazy Diamond 1, 0:00–0:14 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Audiobeispiel 14: Pink Floyd, Wish You Were Here; Shine On You Crazy Diamond 1, 9:03–10:45 (Harvest – SHVL 814, EMI Records, ℗ 1975 Pink Floyd Music Ltd.)
Es mag etwas fragwürdig erscheinen, Krebse und Krebsumkehrungen in Popmusik suchen zu wollen, doch schien Wright durchaus mit den Techniken der Zwölftonmusik vertraut gewesen zu sein (am deutlichsten tritt das in seinem Solobeitrag Sysyphus auf Ummagumma, 1969, zutage[34]).
Alles in allem waren Bezüge der hier dargestellten Art in der Konzertversion zwar durchaus schon angelegt, wurden jedoch in der Studioarbeit weiter verdichtet: Part 9a etwa, dessen Harmonik eine Verbindung zwischen dem Ges-Dur-Akkord der Vokalteile und dem sonstigen Akkordbestand von Shine On You Crazy Diamond schafft, entstand erst nach den Konzerten, und das Anfangsmotiv von Wrights Solo in Part 1, das in Part 9a eine so große Rolle spielt, kam in der auf der Konzerttournee gespielten Fassung noch nicht vor. Die offensichtlich improvisierte Einleitung, die Wright stattdessen spielte, wird auf dem Album hingegen nicht verwendet.
Im Album wird in Part 2 von Shine On You Crazy Diamond die Variante des SOYCD-Motivs b-f-g-es vorbereitet, indem nach Wrightsʼ Solo Gilmour über die Akkordsequenz Gm–Dm–Cm–Gm improvisiert, wodurch der Ton es eingeführt wird (vgl. Bsp. 11); auch diese Verbindung fehlt in den Konzerten. (Die Passage wurde aus dem ersten Track des nicht realisierten Household Objects-Album übernommen.) Die verschiedenen Umdeutungen des SYOCD-Motivs standen zum Zeitpunkt der Konzerte zwar schon fest und auch der Formplan existierte in groben Zügen, doch ging das Stück am Ende von Part 7 umstandslos in einen dadurch abrupt wirkenden G-Dur-Schluss über, an dem freilich bereits – wie später im Album – der Anfang von Syd Barretts See Emily Play[35] zitiert wird.
Schließlich fehlen in der Konzertfassung gänzlich die Saxophonsoli von Dick Parry, die Part 5 erst seinen vorwärtstreibenden Charakter verleihen; und es fehlt nicht zuletzt der faszinierende stehende g-Moll-Klang, mit dem das Album so charakteristisch beginnt – einer jener Klänge, die, wie etwa der Anfang von Igor Strawinskis Psalmensymphonie (1930) oder von Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge (1956), die Identifikation des Werkes innerhalb von einer Sekunde erlauben: Auch dieser Klang ist eine Übernahme aus Household Objects.
Dance on a Volcano
Im Laufe der Studioarbeit empfand Pink Floyd also offenbar die Notwendigkeit, Shine On You Crazy Diamond ›aufzuschneiden‹, um zu einem kohärenten Album zu gelangen. Auch Jordan Rudess fügt in seine 2007 produzierte Coverversion von Genesisʼ Dance on a Volcano (1975/76) einen Schnitt ein, um längere Soli unterzubringen, doch geht es dabei wohl weniger um Notwendigkeiten als vielmehr um Möglichkeiten, um einen verspielten Kommentar. Zudem betont Rudess, dass Dance on a Volcano für ihn eine wesentliche Anregung darstellt:
I wanted to be respectful of the original since itʼs one of my favorite songs, but at the same time I wanted to try to create something that was new. So I not only re-orchestrated the piece but I also added some sections that I composed for it. I used many instruments on the recording. There was a wide array of hardware synthesizers as well as my continuum [fingerboard] being used for some of the lead lines.[36]
Über weite Strecken hält sich Rudess in seiner Coverversion sehr genau an das Original, die Besetzung – neben Rudess (Keyboards) Neal Morse (Gesang), Marco Sfoglio (Gitarre) und Rod Morgenstein (Schlagzeug) – umfasst wie das Original vier Musiker (allerdings mit etwas anderer Verteilung der Funktionen, da bei Genesis Phil Collins Gesang und Schlagzeug übernimmt); sogar Subtilitäten wie Tempogestaltung und bestimmte Gesangsverzierungen von Phil Collins werden übernommen. Variationen beschränken sich auf Details, auf den etwas orchestraleren Klang der Coverversion, auf etwas dichtere Schlagzeugarbeit.
Zur besseren Orientierung beim Vergleich der beiden Versionen wird hier zunächst eine Formübersicht gegeben (Tab. 2; Audiobsp. 15 und 16). Dance on a Volcano entfernt sich von den formalen Konventionen der Popmusik nicht so weit wie Wish You Were Here, und man kann von Intro, Verse, Refrain, Bridge und ausgedehntem instrumentalem Outro sprechen; die Bridge ist, wie häufig bei Genesis, sehr lang und in sich vielfach untergliedert, behält aber in Grenzen Bridge-Charakter.[37]
Tabelle 2: Form von Dance On a Volcano, mit Zeit- und Tempovergleich der Originalversion von Genesis und der Coverversion von Jordan Rudess
Audiobeispiel 15: Genesis, A Trick Of The Tail; Dance on a Volcano (gesamt) (Charisma – CDS 4001, ℗ 1976 Charisma Records)
Audiobeispiel 16: Jordan Rudess, The Road Home; Dance on a Volcano (Coverversion, gesamt) (Magna Carta – MA-9092-2, 2007)
Offensichtlich besitzt das Stück drei Tempoebenen. Rudessʼ Version ist insgesamt minimal langsamer, behält aber die Temporelationen bei – bis auf die Bridge, die im Tempo der Verse, nicht des Refrains gespielt wird; dadurch gewinnt Rudessʼ Version hier einen etwas stärker vorwärtstreibenden Charakter. Der Refrain besteht aus einer kurzen Gesangsphrase (»Better start doing it right«) und wird durch ein charakteristisches, sich mehrfach wiederholendes Instrumentalmotiv fortgeführt (Bsp. 17).
Beispiel 17: Instrumentalmotiv des Refrains von Dance on a Volcano (vgl. Audiobeispiel 15, 1:16–1:32 und an allen weiteren entsprechenden Stellen)
Das Instrumentalmotiv des Refrains, das auch – ohne vorangehende Gesangsphrase – am Ende des Intros sowie am Anfang und am Ende der Bridge auftritt, nutzt Rudess für einige der größeren Freiheiten, die er sich in den ersten vier Minuten gegenüber dem Original nimmt: Er ornamentiert es durch zahlreiche Glissandi, die Möglichkeiten des continuum fingerboards nutzend. Dieser von Lippold Haken entwickelte MIDI-Controller ähnelt einem Keyboard, doch sind die ›keys‹ durch eine berührungssensitive Spielfläche aus Neopren ersetzt; er erlaubt die Modulation eines Tones in drei Dimensionen: Die horizontale Verschiebung des Fingers beeinflusst die Tonhöhe, die vertikale kann frei parametrisiert werden, ebenso eine dritte Dimension, die durch den Fingerdruck gesteuert wird.[38] Dadurch eröffnet das continuum fingerboard Gestaltungsmöglichkeiten, die man sonst nur von der E-Gitarre kennt, also Glissandi, kontinuierliche Klangveränderungen etc.
Der Abschnitt des Songs jedoch, in dem Rudess am deutlichsten von der Vorlage abweicht, ist das Outro, die ausgedehnte instrumentale Schlusspartie (vgl. Tab. 2). Anfangs erhält jede viertaktige Phrase des Originals gegen Ende hin zunehmend virtuosere Ausgestaltung in der Art Liszt’scher Paraphrasen (Bsp. 18): Einfügung von Oktavierungen, Figurationen, Arpeggien etc. – ein Typus figurativer Variantenbildung, den Rudess auch am Konzertflügel virtuos beherrscht.[39]
Beispiel 18: Vergleich zweier Passagen im Outro von Genesis Dance on a Volcano und Jordan Rudessʼ Coverversion
Von dieser Art Ornamentierung abgesehen entspricht Rudess’ Version von 4:20 bis 5:08 dem Genesis-Original von 4:19 bis 5:07. Danach fügt Rudess einen selbstständigen Teil für ausgedehnte Improvisationen ein; dieser Teil beginnt mit dem Gitarrensolo des Gastmusikers Marco Sfogli (5:08–6:36), es folgt ein viersekündiger Abschnitt, in dem Rudess das Original stark uminstrumentiert – bei Genesis fügt sich der entsprechende Abschnitt dynamisch und klanglich nahtlos in die Umgebung ein –, ihm liegt ein prägnantes Motiv zugrunde (Bsp. 19, vgl. Audiobsp. 15 5:07–5:11, Audiobsp. 16 6:36–6:40).
Beispiel 19: Aus einer Partie des Outros von Genesis’ Dance on a Volcano (Audiobsp. 15, 5:07–5:11) gewonnenes Motiv, das Jordan Rudess zur Einrahmung seines Keyboardsolos nutzt (Audiobsp. 16, 6:36–6:40, 7:39–7:42)
Rudessʼ Instrumentation – flöten- und marimbaartige Synthesizerklänge, wenig Schlagzeug, keine E-Gitarre, kein Bass und damit eine auffällig transparentere und hellere Textur als im Rest des Stückes – betont die Differenz zum Original und hebt sein darauffolgendes Synthesizer-Solo (6:36–7:39) sehr deutlich vom Rest des Stückes ab. Rudess inszeniert also sein Solo (was er mit dem Solo von Marco Sfogli nicht tut), wenn auch in der Form eines ironischen Understatements, er setzt es gleichsam in Anführungszeichen.
Die gleiche Partie, die das Solo einleitet (Bsp. 19), führt an dessen Ende (7:39–7:42) wieder zur Rückkehr in die Harmonik und Motivik der Vorlage von Genesis, sie tritt also zweimal auf (bei Genesis hingegen nur einmal). Die Einschübe von Rudess (d.h. die Soli von Marco Sfogli und Rudess selbst) sind rhythmisch komplizierter gestaltet als das Original (anstelle eines 7/8-Taktes erst 7+6+7+7/8, später 6+7/8) und sie unterscheiden sich auch harmonisch deutlich von der Genesis-Fassung. Tabelle 3 zeigt die Harmonik von Sfoglis Gitarrensolos, Rudessʼ Solo basiert auf nahezu der gleichen Harmoniefolge, eine kleine Terz nach oben transponiert (am Anfang steht anstelle von Am–D/A–Dm/A–Am die Folge Am–B/A–Gm/A–Am; die Zeilengliederung der Tabelle soll die harmonische Gliederung verdeutlichen, dient also nur als Lesehilfe.)
Tabelle 3: Akkordschema von Marco Sfoglis Gitarrensolo (mit Taktangaben).
Die ersten acht Zeilen von Tabelle 3 (32 Takte) zeigen typische ›Jam-Folgen‹, die freie virtuose Entfaltung zulassen; danach steigert sich das harmonische Tempo erheblich, die auftretenden Slash-Akkorde[40] jedoch bezeichnen fast durchweg Umkehrungen von Dreiklängen oder Septakkorden: Es finden sich nur zwei Ausnahmen gegen Ende (A/C und E/F#). Solche Akkordfolgen kennt man aus dem Fusion Jazz, und es kann durchaus sein, dass Rudess damit nicht nur seine eigene Liebe zu diesem Genre ausdrücken, sondern auch auf eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Genesisʼ Song und dem Fusion Jazz hinweisen will. Dance on a Volcano enthält insgesamt eine beträchtliche Zahl von Harmonien, die sich schlecht durch gängige Akkordsymbole ausdrücken lassen (gleich am Anfang etwa steht d-gis-a) und die auch wesentlich schwieriger als die von Rudess gewählten Akkorde im Solo zu behandeln wären: In ihrer sehr speziellen Bauart lassen sie kaum Hinzufügung anderer Töne zu. So wird der Schnitt, den Rudess im instrumentalen Outro unterbringt, zu einer Gelegenheit, neben der eigenen Virtuosität (und der seiner Mitspieler) mit der Anspielung auf den Fusion Jazz auch eine intertextuelle Genre-Referenz einzuführen, die wiederum einen Hinweis darauf gibt, warum für Rudess Dance on a Volcano ein so wesentliches Stück ist.
Kompositorische Strategien bei Pink Floyd
Wir sehen den Bruch, den Schnitt bei Rudess als Mittel, um gleichsam einen persönlichen Kommentar abzugeben; bei Pink Floyd hingegen dient er dazu, komplexere Bezüge innerhalb eines Albums herzustellen und Raum zu gewinnen, um in den ursprünglichen Songs bereits angelegte Tendenzen weiter auszuführen.
Wenn wir versuchen, die Strategien zu verstehen, mit denen Pink Floyd ein sich über das gesamte Album Wish You Were Here spannendes Netz von Bezügen legt, so dürfen wir nicht vergessen, dass David Gilmours SOYCD-Motiv von Anfang an von den Mitgliedern der Gruppe nicht einfach als abstrakte musikalische Figur, sondern als etwas höchst semantisch und emotional Aufgeladenes verstanden wurde:
these four notes seem to capture many of the feelings that the band had for Barrett. It its striking how much emotion the band attributed to this short instrumental phrase: over the years they described it as ›very sad,‹ ›plaintive,‹ ›poignant,‹ and ›mournful‹.[41]
Im Licht der Texte von Wish You Were Here[42] und Aussagen der Bandmitglieder nimmt die Arbeit an diesem Motiv durchaus den Charakter eines, vor allem im Falle von Roger Waters, obsessiven Nachdenkens über das Schicksal von Syd Barrett an: Was trieb das eigentlich originellste Mitglied von Pink Floyd in übermäßigen Drogenkonsum und geistige Selbstzerstörung – und wie geht man, als Zeuge eines schockierenden Persönlichkeitszerfalls, damit um?
So nimmt es nicht Wunder, dass Cohen den Gesamtverlauf von Shine On You Crazy Diamond auf das Fünf-Phasen-Modell des Sterbeprozesses von Elisabeth Kübler-Ross bezieht und dabei deren Modell des Umgangs mit Verlust und Trauer auch im Entstehungsprozess des Albums wiedererkennt.[43] »Anger«, Zorn, ist eine Emotion, die nicht nur aus Part 6 von Shine On You Crazy Diamond, sondern überdeutlich auch aus Welcome to the Machine und Have a Cigar spricht; das einzige Stück von Wish You Were Here, das sich nicht dem Fünf-Phasen-Modell fügt, ist das Titelstück, dessen nostalgischer Charakter jedoch durchaus – wie angedeutet – in die Narration des Gesamtkonzeptes eingebunden werden kann.
Solch eine Deutung lässt die zunehmende Verdichtung innerer musikalischer Bezüge bei der Herstellung von Wish You Were Here als Ergebnis eines psychischen Prozesses erscheinen. Doch gibt es auch Hinweise darauf, dass der künstlerische Arbeitsprozess von Pink Floyd bereits zuvor durchaus bewusst gewählte Strategien umfasste, die das Entstehen musikalischer Kohärenz begünstigten. Am transparentesten ist hierbei wohl der Entstehungsprozess des Songs Echoes auf dem Album Meddle: Aus drei getrennten ganztägigen Sessions gingen 36 Musiksegmente hervor, die später abgehört und in eine neue Reihenfolge gebracht wurden; der daraus entstehende Probeschnitt war dann Grundlage, gewissermaßen Skizze, für die weitere Arbeit.[44] Für Pink Floyd stellte Echoes einen wesentlichen Schritt in Richtung auf die kohärente Großform eines Konzeptalbums dar.
Als frühere Variante dieses Verfahrens könnte vielleicht die stark an avantgardistische Montagemethoden erinnernde Vorgehensweise angesehen werden, die Nick Mason für den zweiten Teil von The Grand Vizierʼs Garden Party wählte (auf Ummagumma): Aufnahmen von Schlagzeugsoli wurden in Schnipsel von 1, 2 und 3 Inch Länge geschnitten und in zufälliger Reihenfolge wieder aneinandergeklebt[45]; das Endergebnis deutet freilich darauf hin, dass Mason nicht den ganzen Teil zufällig entstehen ließ (wie Jones behauptet), sondern – da sich charakteristische Klänge mehrfach wiederholen – die durch zufälliges Zusammenkleben entstandenen Sounds in eine dramaturgisch sinnvolle Reihenfolge brachte.
Der Gesamtablauf des Songs A Saucerful of Secrets (vom gleichnamigen, 1968 erschienenen Album) hingegen wurde durch eine Art architektonische Skizze vorab geplant:[46] Ganz ohne Vorplanung ließen sich namentlich zu Zeiten von 4- und 8-Spur-Bandmaschinen komplexere Tracks ohnehin nicht bewältigen[47], jedoch konnten weder Waters noch Mason Noten lesen[48] und entwickelten ihre eigenen, privaten Notationstechniken.
So betrachtet, lässt sich Vorausplanung mithilfe von graphischen Skizzen gerade bei Stücken wie dem Mittelteil des Songs A Saucerful of Secrets mit seinen ›psychedelischen‹, sich herkömmlicher Notation entziehenden Klängen als eine vielleicht der Not geschuldete, aber durchaus sachgerechte und sogar das Denken in unkonventionellen Kategorien fördernde Problemlösungsstrategie betrachten.
Der Begriff ›Strategie‹ impliziert freilich eine Zielgerichtetheit, die nicht immer gegeben sein muss. Der Anfangsklang von Echoes – ein sehr eigenartig verzerrter Klaviersound – ist ein Beispiel für ein Zufallsprodukt, das sich, sehr zur Frustration der Gruppe, später nicht wiederholen ließ. Entscheidend ist für solche Prozesse natürlich auch die filternde Wahrnehmung der Künstler*innen, die darüber bestimmt, welche solcher ›Zufälle‹ man für ein Stück nutzt und welche nicht. Doch hört man immer wieder von Popmusiker*innen von derartigen glücklichen Zufällen und Ergebnissen, die sich oft keineswegs auf geradlinigem Weg ergaben. Jørn Ellerbrook, früherer Keyboarder der deutschen Hardrockband Helloween, meinte hierzu:
Meist wird hinterher so getan, als sei das Ergebnis geplant, dabei war es im Grunde nur Gedaddel. So war es zum Beispiel, als die ersten AKAI-Sampler kamen, irgendjemand probierte dann mal aus, was passiert, wenn man zwei verschiedene Samples übereinanderlegt, und schon hatte man einen neuen Sound.[49]
Ein schiefer Vergleich?
Es ließe sich kaum ein größerer Kontrast zu den experimentellen, mitunter auch wohl chaotischen Methoden von Pink Floyd denken als die Vorgehensweise, die Jordan Rudess für seine Coverversion von Dance On A Volcano wählte:
I’ve been working with the same transcriber for 18 years and it started with asking him to [do] transcriptions of everything I needed. After he would notate the parts, we would talk about them and make sure I was satisfied with everything. Having come from a classical background Iʼm always interested to see things written out. […] in the days when I recorded this version I had midi routed to all [synthesizers] and I would run around the room and just supervise the automation and make sure everything was flowing smoothly.[50]
Solche Techniken sind auf Effizienz berechnet, auf ihrer Basis entfaltet Rudess seine Virtuosität: Improvisation mit dem continuum fingerboard – das sehr viel mehr klangliche Gestaltungsmöglichkeiten als ein herkömmliches Keyboard bietet, aber auch sehr viel größere Fingerkontrolle erfordert – über eine rhythmisch und gegen Ende auch harmonisch halsbrecherische Progression ist ein musikalischer ›stunt‹. Die musikalische Analyse fördert keine subtilen harmonischen oder motivischen Bezüge zu Tage, stattdessen einen eklektischen, aber auch souveränen, verspielten und zuweilen selbstironischen Umgang mit sehr unterschiedlichen Traditionen von Liszt über Fusion Jazz bis zum Heavy Metal (der vor allem das Klangbild von Rudessʼ Coverversion prägt).
Auf der andern Seite steht bei Pink Floyd ein komplexer, kaum im Voraus berechenbarer und für die Musiker selbst oft quälender Produktionsprozess, und als Resultat ergibt sich nicht nur ein äußerst dichtes und vielschichtiges Netz musikalischer Beziehungen (bei im Vergleich zu Genesis und Rudess doch deutlich einfacherer Harmonik und Rhythmik!), sondern auch – namentlich in Shine On You Crazy Diamond – eine komplexe Form, die in der Popmusik kein Gegenstück hat. Das Finden solch einer Form lässt sich kaum denken ohne die Erfahrungen, die Pink Floyd mit dem Hin- und Herschieben musikalischer Schnipsel – wie in Echoes – und mit graphischer Vorplanung elektronischer Montagen – wie in Saucerful of Secrets – gesammelt hatte, wohl auch nicht ohne die kompositorische Kompetenz von Richard Wright. Es lässt sich aber ebenso wenig denken ohne den biographischen Hintergrund, die Tragödie des ehemaligen Bandmitglieds Syd Barrett, die alle Bandmitglieder gleichermaßen anging; und Tragödien dieser Art dürften viele Fans von Pink Floyd damals aus eigener Anschauung vertraut gewesen sein – es sei nur an das Nachwort von Philip Dicks 1977 erschienenem Science Fiction Roman A Scanner Darkly erinnert, dessen erste Zeilen hier zitiert werden mögen:
This has been a novel about some people who were punished entirely too much for what they did. They wanted to have a good time, but they were like children playing in the street; they could see one after another of them being killed – run over, maimed, destroyed – but they continued to play anyhow. We really all were very happy for a while, sitting around not toiling but just bullshitting and playing, but it was for such a terribly brief time, and then the punishment was beyond belief: even if we could see it, we could not believe it. For example, while I was writing this I learned that the person on whom the character Jerry Fabin is based killed himself. My friend on whom I based the character Ernie Luckman died before I began the novel…[51]
In einer derartigen Perspektive ließe sich vielleicht sogar die Produktion von Wish You Were Here als performance für ein fernes Publikum betrachten.
Doch auch ohne solche Spekulation zeigt sich, dass den so gegensätzlichen Verfahrensweisen von Pink Floyd und Rudess durchaus ebenso gegensätzliche musikanalytische Befunde entsprechen, trotz des gegebenen Traditionszusammenhangs, trotz der in beiden Fällen vorliegenden Komplexität der Ergebnisse. Es wäre zu prüfen, inwieweit derlei Korrespondenzen zwischen Produktionsprozess und musikalischer Struktur in andern Werken der Popmusik zu verzeichnen sind.
Anmerkungen
An dieser Stelle sei allen gedankt, die bei der Entstehung dieses Aufsatzes halfen: an erster Stelle Rolf Wöhrmann, der den Kontakt zu Jordan Rudess herstellte; Jordan Rudess selbst für seine Bereitschaft, einige seiner ›Betriebsgeheimnisse‹ zu verraten; Christian Koehn für lange Diskussionen über Popmusik und Musikethnologie; Frank Zabel für viele Gespräche über musiktheoretische Interpretation von Popmusik; Jørn Ellerbrook (früherer Keyboarder von Helloween), Jonas Potthoff und Jonas Serkombe für Einblicke in das Denken von Popmusikern aus erster Hand; Gunna Wedekind für Hilfe bei der Materialbeschaffung; Wolfgang-Andreas Schultz, Annette Mayer, Roland Sendel, Manfred Stahnke, Hans Peter Reutter, Miki Osawa, Hermann Heßling und Yvonne Wasserloos, die jeweils sehr unterschiedliche – musikalische und außermusikalische – Sichtweisen auf die in diesem Text behandelten Themen mitbrachten und dadurch unser Bewusstsein für die Thematik schärften; schließlich danken wir allen Studierenden, mit denen wir die Ergebnisse unserer Analysen diskutierten und deren Interesse die Arbeit beflügelte, und den vielen Menschen, die wir bei der Aufzählung vergessen haben. | |
Eine eingehende Darstellung findet sich z.B. bei Rüther 2008. | |
Auslander 2004, 5. Vgl. dazu auch Cook 2013, 337–373. | |
Spicer 2000, 84. | |
Vgl. z.B. Wicke 2003. | |
Fast 2001, vgl. Wicke 2003, 111. | |
Huschner 2016, vgl. auch Roland Huschners Beitrag in der vorliegenden Ausgabe. | |
Veröffentlicht 1975/76 als erster Track des Genesis-Albums A Trick of the Tail. | |
Dream Theater, »Making of Six Degrees of Inner Turbulence« (2014); | |
Vgl. Stockhausen 1971, 72. | |
Edington 2012. | |
Rose 1995. | |
Cohen 2015; Cohen Druck i.V. | |
Sedgewick 1975, 9. | |
Schaffner 1991, 187. | |
Frankreich-Tournee Juni 1974; Großbritannien-Tournee November und Dezember 1974. Genaue Tourneedaten: https://en.wikipedia.org/wiki/Pink_Floyd_1974_tours (18.5.2017). | |
Nick Mason zu dieser Methode: »It was a hell of a good way to develop a record […]. You really get familiar with it; you learn the pieces you like and what you don’t like. And it’s quite interesting for the audience to hear a piece developed: if people saw it four times, it would have been very different each time.« (Schaffner 1991, 173) | |
Kent (1974, 23) dazu u.a.: »The Floyd in fact seem so incredibly tired and seemingly bereft of true creative ideas one wonders if they really care about their music anymore. I mean, one can easily envisage a Floyd concert in the future consisting of the band simply wandering on stage, setting all their tapes into action, putting their instruments on remote control and then walking off behind the amps in order to talk about football or play billiards. I’d almost prefer to see them do that. At least it would be honest.« Dazu Waters: »Scared as I was of […] my relationship with audiences […], [I had] weird concerns about not making any contact with the audience. During much of that tour we made during 1974 we didn’t, we were […] very disconnected.« (Edington 2012, 9:08) | |
Kent 1974, 22. | |
Vgl. Edington 2012, 8:40–10:10. Mason z.B. nannte die Konzerte der Tournee 1974 »shambolic […], I mean […] it lacked enthusiasm, it lacked a sense of purpose« (ebd., 8:53–9:01). | |
Am Ende entstand Wish You Were Here im Laufe von über einem halben Jahr und ca. 40 Aufnahmetagen in den Abbey Road Studios, verteilt über die ersten sieben Monate des Jahres 1975; zu deren exakter Datierung vgl. http://www.cs.umd.edu/~dekhtyar/errorfest/ShineOn.html#page_63 (18.5.2017). | |
Gilmour spricht von einem »legendary argument« (Edington 2012, 13:06), Roger Waters von einem »fight« (ebd., 13:27). | |
Analoge Beobachtungen lassen sich im Vergleich der Konzertfassungen der anderen beiden auf der Tournee neu vorgestellten Stücke (Raving and Drooling, You Gotta be Crazy) mit ihren jeweiligen Albumversionen anstellen (für You Gotta be Crazy, aus dem später Dogs wurde, vgl. Cohen 2015). | |
Die grundlegende formale Idee hierfür sieht Gilmour schon im Song Saucerful of Secrets des gleichnamigen Albums von 1968 (vgl. Schaffner 1991, 134f.). | |
Vgl. etwa für Genesisʼ Supper’s Ready (1972) Spicer 2000; für Radioheads Kid A (2000) Letts 2005, 48–53; in Dream Theaters Octavarium (2005) ist der Tonartenplan (die chromatische Skala von F ausgehend, wobei die ›weißen Tasten‹ lange und die ›schwarzen Tasten‹ sehr kurze Stücke erhalten) ganz offensichtlich eine Konstruktion, die der Herstellung des Albums voranging. | |
Edington 2012, 1:38–1:51. (Der angesprochene Ort war ein Proberaum im Londoner Stadtteil King’s Cross.) | |
Laut Wikipedia z.B. Alan Parsons, Jean-Michel Jarre, Hawkwind, Brian Eno, The Who, Gong, vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/EMS_VCS_3 (18.5.2017). | |
Edington 2012, 48:21–48:44. | |
Ebd., 52:36–52:50. | |
Rose 1995, 82. | |
Vgl. Cohen 2016, 7 (Anm. 9); vgl. auch Harris 2005, 78. Sicher ist das dorische Pendel keine besonders ungewöhnliche Akkordfolge; allerdings dominiert sie bei Pink Floyd über alle andern Standardwendungen – die ›16-25‹ (C Am Dm7 G7) spielt z.B. bei Pink Floyd überhaupt keine Rolle. | |
Shine On You Crazy Diamond wird von Part 2 bis 7 im – allerdings, was die Transkriptionen betrifft, sehr unzuverlässigen – Wish You Were Here Songbook im 3/4-Takt notiert; Gilad Cohen (2016) notiert seine Notenbeispiele aus Part 2, 3 und 4 von Shine On You Crazy Diamond im 12/4-Takt, die Beispiele aus Part 5 und 6 im 6/4- bzw. 12/8-Takt, die Beispiele aus Part 9 im 12/8-Takt. Philip Rose (1995) notiert seine Beispiele aus Part 2 und 4 im 6/4-Takt. Die Beispiele des vorliegenden Aufsatzes sind für Shine On You Crazy Diamond Part 2 bis 7 konsequent im 12/4-Takt notiert, Part 9 erschien uns jedoch im 4/4-Takt plausibler (wie er auch im Wish You Were Here Songbook notiert ist). Die Transkriptionen des Artikels weichen in Details, vor allem in Part 9, von den Vorlagen ab. | |
Vgl. Cohen Druck i.V. | |
Ummagumma besteht aus zwei LPs, eine mit Konzertmitschnitten von vier älteren Pink Floyd-Stücken, eine mit jeweils einem längeren Werk von David Gilmour, Richard Wright, Nick Mason und zwei kürzeren Stücken von Roger Waters. | |
See Emily Play (1967), von Syd Barrett geschrieben, war die zweite Single von Pink Floyd und stand 1967 zwölf Wochen lang in den UK Top 10, vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/See_Emily_Play (18.5.2017). | |
E-Mail von Rudess an die Autoren, 25.2.2017. | |
Vgl. Kaiser 2011, 65. | |
Vgl. Rudess 2008, 8 sowie https://en.wikipedia.org/wiki/Continuum_Fingerboard (18.5.2017). | |
Rudessʼ Virtuosität als Pianist, stärker von klassischer Musik als vom Jazz geprägt, lässt sich sehr deutlich in folgendem Video erkennen, in dem er den ersten Satz seines Klavierkonzertes spielt: https://www.youtube.com/watch?v=MaB7UtBCDT8 (18.5.2017). | |
Akkorde, deren Basston nicht mit dem Grundton des Akkordes übereinstimmt, geschrieben als Akkord/Basston. | |
Cohen Druck i.V., 5. | |
Hierfür sei vor allem auf Rose 1995, 60–92 verwiesen. Der Text von Shine On You Crazy Diamond bezieht sich unmittelbar auf Syd Barrett (ebd., 63), die Texte von Welcome to the Machine (ebd., 74f.) und Have a Cigar (ebd., 79–81) kritisieren das Musikbusiness, dem Pink Floyd Mitschuld am psychischen Zerfall von Syd Barrett gab (siehe beispielsweise Gilmour in Edington 2012, 16:15–16:22); der Text von Wish You Were Here kann direkt auf Syd Barrett bezogen werden, aber Waters möchte die Aussage genereller verstanden wissen (z.B. ebd., 51:41–52:30). | |
Cohen Druck i.V., 3ff. | |
Vgl. Jones 1996, 84; Schaffner 1991, 164. | |
Jones 1996, 55. Jones gilt als besonders unzuverlässige Quelle, doch würde die beschriebene Vorgehensweise sich mit dem Charakter der Klänge im fraglichen Stück decken. Das von Jones erwähnte Detail, dass Mason das Band nicht selbst schneiden durfte, weil er kein Gewerkschaftsmitglied war, spricht ebenfalls dafür, dass es sich nicht um eine Erfindung Jonesʼ handelt. Laut David Gilmour macht Jones eher bei neueren als bei älteren Stücken Pink Floyds Fehler (vgl. Cavanagh 1999). Leider gibt Mason in seiner Autobiographie keine Details zum Herstellungsprozess von The Grand Vizier’s Garden Party preis. Im Übrigen ging auch George Martin bei Being for the Benefit of Mr. Kite! (auf dem Beatles-Album Sgt. Pepperʼs Lonely Hearts Club Band, 1967) ähnlich vor (Lewisohn 1988, 99). | |
Jones 1996, 38; Harris 2005, 60f. Vgl. auch die Diskussion über den Zusammenhang zwischen den Strukturkonzepten bei Pink Floyd und dem akademischen Hintergrund – Waters, Wright und Mason hatten Architektur studiert – bei Schaffner 1991, 129–131, 164. | |
Vgl. Nick Mason in Schaffner 1991, 130. | |
Vgl. zu Waters Jones 1996, 70 und Schaffner 1991, 152; zu Mason ebd., 236. | |
Telefongespräch Ellerbrooks mit den Autoren, 11.2.2017. | |
E-Mail von Rudess an die Autoren, 25.2.2017. | |
Dick 1977, 218. |
Literatur
Auslander, Philip (2004), »Performance Analysis and Popular Music: A Manifesto«, Contemporary Theatre Review 14/1, 1–13.
Cavanagh, David (1999), »Cash for Questions with David Gilmour«, Q-Magazine 153, Juni 1999.
http://pfco.neptunepinkfloyd.co.uk/band/interviews/djg/djgcash.html (17.5.2017)
Cohen, Gilad (2015), »Expansive Form in Pink Floydʼs ›Dogs‹«, music theory online 21/2.
http://www.mtosmt.org/issues/mto.15.21.2/mto.15.21.2.cohen.html (30.4.2017)
––– (Druck i.V.), »›The Shadow of Yesterdayʼs Triumph‹: Pink Floydʼs ›Shine On‹ and Stage Theories of Grief«, Music Theory Spectrum, http://www.giladcohen.com/live [Manuskript; Menüpunkt »research«] (30.4.2017).
Cook, Nicholas (2013), Beyond the Score: Music as Performance, New York: Oxford University Press.
Dick, Philip (1977), A Scanner Darkly, New York: Doubleday, Reprint London: Orion Publishing Group 2006.
Edington, John (Rg.) (2012), The Story of Wish You Were Here, DVD, UK: Eagle Rock Entertainment. https://www.youtube.com/watch?v=wbM2_-JeDuY (30.4.2017)
Fast, Susan (2001), In the Houses of the Holy. Led Zeppelin and the Power of Rock Music, New York: Oxford University Press.
Harris, John (2005), The Dark Side of the Moon – The Making of the Pink Floyd Masterpiece, Cambridge: Da Capo Press.
Huschner, Roland (2016), »[…] if it would be me producing the song…« Eine Studie zu den Prozessen in Tonstudios der populären Musikproduktion, Phil. Diss., Humboldt-Universität zu Berlin. http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/huschner-roland-2016-07-18/PDF/huschner.pdf (30.4.2017)
Jones, Cliff (1996), Echoes: The Stories Behind Every Pink Floyd Song, London: Carlton Books.
Kaiser, Ulrich (2011) »Babylonian Confusion. Zur Terminologie der Formanalyse von Pop- und Rockmusik«, ZGMTH 8/1, 43–75.
Kent, Nick (1974), »Floyd Juggernaut… the road to 1984?«, New Musical Express, 23. November 1974, 23f. https://blog.ryjones.org/1974-new-music-express-nick-kent-pink-floyd-review (15.5.2017)
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Lewisohn, Mark (1988), The Complete Beatles Recording Sessions, New York: Harmony Books.
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Rudess, Jordan C. (2008), The Dream Theater Keyboard Experience, Van Nuys, CA: Alfred Publishing.
Rüther, Tobias (2008), Helden. David Bowie und Berlin. Berlin: Rogner & Bernhard.
Schaffner, Nicholas (1991), Saucerful of Secrets – The Pink Floyd Odyssey, New York: Harmony Books, Reprint New York: Dell Publishing 1992.
Sedgewick, Nick (1975), »A Rambling Conversation with Roger Waters Concerning all this and that«, in: Wish You Were Here-Songbook, London: Pink Floyd Music Publishers, 9–23.
Spicer, Mark (2000), »Large-Scale Strategy and Compositional Design in the Early Music of Genesis«, in: Expression in Pop-Rock Music: A Collection of Critical and Analytical Essays, hg. von Walter Everett, New York: Garland Publishing, 71–111.
Stockhausen, Karlheinz (1971), »Stop für Orchester (1965)«, in: ders., Texte zur Musik, Bd. 3, hg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont, 72–74.
Wicke, Peter (2003), »Popmusik in der Analyse«, Acta Musicologica 75/1, 107–126. http://www2.hu-berlin.de/fpm/textpool/texte/wicke_popmusik-in-der-analyse.htm (30.4.2017)
Videos
Pink Floyd, Audiomitschnitt vom Konzert 15.11.1974, Empire Pool, Wembley, London. https://www.youtube.com/watch?v=9V93XtG04GI (fälschlich ausgewiesen als 15.12.1974, an diesem Tag fand kein Konzert statt) (18.5.2017)
Pink Floyd, Audiomitschnitt vom Konzert 16.11.1974, Empire Pool, Wembley, London, England (Alan Freeman Show, BBC Radio 1, broadcast 11 January 1975). https://www.youtube.com/watch?v=F9vJy7lDHzk (18.5.2017)
Diskographie
Pink Floyd, Wish You Were Here, Columbia PC 33453 (1975) (LP); EMI, 50999 028945 2 2 (2011) (CD).
Genesis, A Trick of the Tail Deutschland/Europa: Charisma Records 6369 974 (1975) (LP); UK: Charisma Records CDS 4001 (1976) (LP); Virgin Records/Charisma Records (1984) CDSCD 4001 (CD).
Jordan Rudess, The Road Home, Magna Carta MA-9092-2 (2007) (CD).
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