Editorial
Die meisten Beiträge der vorliegenden Varia-Ausgabe beschäftigen sich mit Aspekten der Musik des 20. Jahrhunderts. Dass sich dieser thematische Schwerpunkt ergeben hat, ohne dass es geplant gewesen wäre, spiegelt das verstärkte Interesse an ›neuerer‹ Musik im jüngeren musiktheoretischen Diskurs wider.
Die einzige Ausnahme bildet der Beitrag von Hubert Moßburger, der die Reihe der Aufsätze eröffnet. Die Frage, ob ein Komponist bei der Vertonung eines Textes primär dem Sinn einzelner Wörter oder der Gesamtaussage folgen soll, beschäftigt Musiktheoretiker seit mehreren hundert Jahren. Die Antworten darauf fallen unterschiedlich aus, weil es für beide Möglichkeiten Argumente gibt. Moßburger verfolgt die Ausführungen diverser Autoren vom 16. bis ins 19. Jahrhundert.
Die Harmonielehre von 1911 gilt als Arnold Schönbergs bedeutendste musiktheoretische Schrift. In ihr legt er sein Verständnis von Tonalität ausführlich dar. Gerhard Luchterhandt analysiert dieses Verständnis und verfolgt dessen Fortführung in den Jahrzehnten nach 1911, insbesondere in den Schriften der amerikanischen Zeit. Allerdings lassen die Veränderungen, die in den Formulierungen zu beobachten sind, nicht immer auf eine gewandelte Überzeugung Schönbergs schließen, sondern können auch als Anpassungen an die amerikanische Lehrtradition oder die Gewohnheiten der amerikanischen Leserschaft interpretiert werden.
Die Bearbeitung des Bach’schen Choralvorspiels Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ durch Reinhard Febel unterscheidet sich auffallend von Bach-Bearbeitungen anderer Komponisten des 20. Jahrhunderts. Martin Grabow untersucht die Besonderheiten von Gebels Klaviertranskription und führt sie auf ein analytisches Interesse des Komponisten zurück, das den Blick auf andere Aspekte der Vorlage lenkt, als es in den Jahrzehnten zuvor beispielsweise bei Gerd Zacher der Fall war.
Die Ur-Aufführung der Geographischen Fuge von Ernst Toch bestand darin, dass eine Grammophonaufnahme mit überhöhter Geschwindigkeit abgespielt wurde. Ausgehend von diesem bemerkenswerten Umstand beleuchtet Carmel Raz das historische Umfeld, dem die Fuge ihre Entstehung verdankt.
Die Einarbeitung musikalischer Zitate in die eigene Komposition wurde – obwohl für sich genommen jahrhundertealte Praxis – zu einem prägenden Verfahren postmodernen Komponierens. Hee Sook Oh zeigt anhand von Werken dreier Komponisten, welche Erscheinungsweisen diese Praxis in Korea hervorgebracht hat. Sie arbeitet heraus, aus welchen Gründen koreanische Komponisten zu Zitaten greifen und welche Haltung zur westlichen Musik darin zum Ausdruck kommt.
Bei drei Beiträgen handelt es sich um die prämierten Einsendungen des letztjährigen Aufsatz-Wettbewerbs der GMTH. Matthias Ningel und Wendelin Bitzan haben das Thema ›Debussy‹ gewählt und untersuchen in ihren Beiträgen je ein Lied des Komponisten. Wendelin Bitzan zeigt anhand von Parameter-Analysen welche kompositorischen Mittel Debussy einsetzt, um das Mondbild in Verlaines Gedicht Claire de lune zu vertonen. Die multiperspektivische Analyse, die Matthias Ningel am Beispiel von La mer est plus belle durchführt, nimmt ihren Ausgang von einem bekannten biographischen Faktum, der Abneigung Debussys gegen den akademischen Musiktheorieunterricht.
Hugo Riemanns Lehre – eine umfassende Kompositionslehre, die Theorien über Harmonie, Metrik, Phrasierung usw. einschließt – hat bekanntlich präskriptiven Charakter. Ließ sich auch der Komponist Hugo Riemann vom Musiktheoretiker Riemann vorschreiben, wie zu komponieren sei? Stefanie Probst untersucht das Verhältnis zwischen Riemanns theoretischen und kompositorischen Äußerungen und findet in den Kompositionen Hinweise, die eine Kritik an den Theorien begründen.
Andreas Moraitis berichtet über die Nordic Conference on aural disciplines in higher music education, die im Oktober 2012 an der Norwegischen Musikakademie in Oslo stattfand. Johannes Menke schließlich erinnert in seinem Nachruf an Eckehard Kiem. Der Freiburger Musiktheoretiker, der von der ersten Stunde an zur GMTH gehörte, ist am Ende des letzten Jahres unerwartet verstorben. Die GMTH verliert eines ihrer profiliertesten Mitglieder.
Michael Polth
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