Menke, Johannes (2012), »›Perdu avez vostre bon père‹. Nachruf auf Eckehard Kiem«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 9/2, 313–315. https://doi.org/10.31751/688
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 15/03/2013
zuletzt geändert / last updated: 18/11/2013

»Perdu avez vostre bon père«

Nachruf auf Eckehard Kiem

Völlig unerwartet ist unser Kollege Eckehard Kiem am 29. Dezember des vergangenen Jahres aus dem Leben gerissen worden – ein Schock für alle, die ihn kannten und die von diesem Ereignis völlig unvorbereitet getroffen wurden.

Im Laufe seiner fast 40jährigen Lehrtätigkeit hat er nicht nur das Fach Musiktheorie an der Freiburger Musikhochschule maßgeblich geprägt, sondern zudem Dutzende von Musiktheoretikern dort ausgebildet. Ich bin dankbar, mich zu dieser Schülerschar zählen zu dürfen.

Eckehard Kiem wurde 1950 in Berka vor dem Hainich geboren – ganz in der Nähe von J.S. Bachs Geburtsstadt Eisenach, der Wartburg und des Hörselbergs (also dem Schauplatz von Richard Wagners Tannhäuser). Wenn man so will, ist ihm die lebenslange Begeisterung für Kontrapunkt und Wagner in die Wiege gelegt worden. Die Familie zog später nach Mannheim, wo Kiem ein Musikstudium aufnahm, welches er in Freiburg fortsetzte. Dort studierte er Theorie bei Peter Förtig und Komposition bei Brian Ferneyhough und Klaus Huber. 1974 erhielt er einen Lehrauftrag, 1980 dann eine Professur für Musiktheorie, welche auch den Methodikunterricht für die Studierenden im Hauptfach Musiktheorie einschloss. Wer in den letzten 30 Jahren in Freiburg Theorie studierte, kam somit an ihm nicht vorbei. Obwohl aller pädagogischen Kniffe abhold, war er ein begnadeter Lehrer, der seine Schüler wie kaum ein anderer für die strukturelle Schönheit musikalischer Werke zu begeistern oder sie selbst zum Komponieren zu animieren vermochte.

Meine ersten Stunden bei ihm hatte ich in einem Fortgeschrittenen-Kurs, in dem eingeschworene Kontrapunktiker satztechnische Studien im Stil des 16. Jahrhunderts betrieben. Dies geschah auf recht hartgesottene Weise: Jede Woche mussten wir komplette drei- bis fünfstimmige Motetten in alten Schlüsseln abliefern, über die wir uns dann gemeinsam beugten und die Kiem treffend zu kommentieren wusste – man kann sich vorstellen, wie stolz wir auf uns und unseren Meister waren! Als ich 1995 mein Theoriestudium aufnahm, war es keine Frage, dass ich zu ihm gehen würde. Mein Studienfreund Ludwig Holtmeier hat in seiner Trauerrede die Atmosphäre in der Kiem-Klasse von damals auf den Punkt gebracht: »Es war ein gutes Gefühl, Kiemianer zu sein.« Wenn ich heute auf die Studienzeit zurückblicke, so ist es immer noch ein gutes Gefühl, wenngleich im Lauf der Zeit viele andere wichtige Einflüsse dazugekommen sind. Der Anspruch an das Fach, das kontinuierliche satztechnische Training, die Suche nach den verborgenen, aber wirksamen Strukturen und das Ringen darum, die Wirkung der Musik zur Sprache zu bringen, sind mir die nachdrücklichsten Erinnerungen und Prägungen.

Seine Analyseseminare waren legendär. Dort setzten wir uns in aller Ausführlichkeit und Intensität mit ausgewählten Werken auseinander. Nach dem Ergründen der strukturellen Geheimnisse ging es letztlich immer ganz emphatisch darum, wie wir das musikalische Kunstwerk erlebten, was es mit uns machte. Vielleicht war das der Glutkern von Kiems analytischem Humanismus. Hinzu kam: Kiem war nicht nur ein kompetenter, sondern auch ein warmherziger und umgänglicher Lehrer, ohne sich aber anbiedernd oder kumpelhaft zu gebärden. Wir wussten das zu schätzen, und nicht zuletzt ist er auch darin für viele für uns ein Vorbild geworden – und geblieben.

An der Freiburger Hochschule war er stets eine zentrale Figur und hatte in seiner langen Dienstzeit, die er leider nicht zu Ende führen konnte, alle erdenklichen Ämter inne: Fachgruppensprecher, Senatsmitglied, Hochschulratsmitglied etc. Ihm war immer daran gelegen, das Fach Musiktheorie in seiner Eigenständigkeit und mit seinem wissenschaftlichen wie künstlerischen Anspruch zu erhalten und auszubauen. Theorie aber war für ihn kein Selbstzweck. Oberstes Ziel blieb die Ausbildung von Musikern. Dass das Fach heute an seiner Hochschule ein hohes Ansehen genießt, ist auch sein Verdienst.

Während meiner Lehrtätigkeit an der Freiburger Musikhochschule, 1999 bis 2009, waren wir Kollegen. Wir, die jüngeren, begeisterten uns immer mehr für historische Traktate, mit denen uns Ludwig Holtmeier eifrig belieferte, und begannen, praxisorientierte Elemente der historischen Kompositionsausbildung für unsere Lehre fruchtbar zu machen. Kiem mochte sich unserer Emphase nicht ganz anschließen. Er witterte einen Rückfall in regelfixiertes Handwerk, um das zu überwinden, wie er immer wieder sagte, seine Generation doch angetreten sei. Wir hatten hingegen gar nicht das Gefühl, einen entgegengesetzten Weg einzuschlagen; denn er war es, der uns für das Historische sensibilisiert hatte: mit der Vermittlung des Repertoires, dessen stilistischen Differenzen und dem Hinweis auf sachgemäßen Umgang, etwa der Warnung, in vorbarocker Musik nicht einfach mit dem modernen Akkordbegriff zu operieren. In seinem Unbehagen äußerte sich vielleicht aber auch berechtigte Kritik. Seine Warnung, die musikalischen Werke könnten ihres Kunstcharakters beraubt und als Beispielfundus für die Relevanz einer – in diesem Fall historischen – Theorie missbraucht werden, ist nicht unberechtigt und sollte Ansporn zur Selbstkritik bleiben. Dass wir unseren Diskurs nie werden weiterführen können, ist nicht nur persönlich schmerzlich, sondern auch fachlich.

Kiem war GMTH-Mitglied der ersten Stunde und gehörte dem wissenschaftlichen Beirat an. Viele werden sich an seine beiden Keynote-Vorträge erinnern; der eine auf dem ersten Kongress in Dresden über »Aspekte des Historischen in der Musiktheorie«, der andere auf dem EUROMAC in Freiburg über Jacobus Vaet, um dessen Wiederentdeckung er sich sehr verdient gemacht hat.

Kiem war aber nicht nur Lehrer. Als Autor hat er zahlreiche Aufsätze vor allem zu analytischen Fragestellungen verfasst. 1998 wurde er wissenschaftlicher Beirat beim Ring-Projekt der Stuttgarter Staatsoper, und durch das Buch über Richard Wagner (Richard Wagner und seine Zeit, Laaber 2003), das er gemeinsam mit Ludwig Holtmeier herausgegeben hat, ist er auch einem größerem Publikum bekannt geworden.

Eine persönliche Bemerkung zum Autor Kiem sei noch gestattet: Ich bewundere nach wie vor seine Fähigkeit und seinen Mut, über die Wirkung von Musik zu sprechen. Als Beispiel lese man die Passage über eine harmonische Progression bei Hector Berlioz:[1] ein kräftiger Fundamentschritt dort wirke »frisch, stark, – fast möchte man sagen ›gesund‹«, während einem später erreichten D-Dur Akkord »etwas Alltägliches, Nichtssagendes, Bleiches, ja geradezu etwas Ernüchterndes und Schales« zuwachse. Eine solche Analysesprache ist selten geworden. Wie wichtig aber ist und bleibt es, über die Wirkung der Musik sprechen zu wollen und zu können!

Musik und Ästhetik zusammenzubringen war ihm ein Anliegen. So nimmt es kein Wunder, dass Kiem zusammen mit Ludwig Holtmeier, Richard Klein und Claus-Steffen Mahnkopf Mitbegründer der Zeitschrift Musik & Ästhetik wurde und bis zu seinem Tod einer ihrer Redakteure war.

Nicht zu vergessen ist seine Tätigkeit als Komponist. Wenn man ihn darauf ansprach, neigte er zur Bescheidenheit. Für ihn persönlich aber hatten seine sorgfältig ausgearbeiteten Werke sicherlich eine große Bedeutung, und er hat ein nicht unbeträchtliches Œvre hinterlassen, das auch groß besetzte Orchester- und Vokalwerke enthält. Es ist zu hoffen, dass sie auch in Zukunft zu hören sein werden.

Kiem war daneben immer ein passionierter ausübender Musiker. Neben seiner Aktivität als Pianist ist vor allem seine Tätigkeit als Gründer, Sänger und Leiter des Dufay-Ensembles hervorzuheben. Das Ensemble gehört inzwischen zu den international namhaften Ensembles für Vokalmusik der Renaissance und hat sich in den letzten Jahren mit preisgekrönten Einspielungen vor allem um die Wiederentdeckung des habsburgischen Hofkapellmeisters Jacobus Vaet verdient gemacht.

Als nahezu alle Sänger, die seit seiner Gründung im Dufay-Ensemble tätig waren, auf der Trauerfeier für ihren Leiter die Déploration auf den Tode Ockeghems von Josquin Desprez sangen, war dies ein unbeschreiblich berührender Moment. Dort heißt es im Text: »Et plorez grosses larmes d’œil, perdu avez vostre bon père.« – »und weint viele Tränen, verloren habt ihr euren guten Vater.«

Johannes Menke

Anmerkungen

1

Eckehard Kiem, »Grenzbereich und Ausdruckskonstruktion«, Musik & Ästhetik 6, Stuttgart: Klett-Cotta 1998, 31f.

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