Grabow, Martin (2012), »Gegen den Strich. Zur Bedeutung von Analyse für Reinhard Febels Bearbeitung von BWV 639«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 9/2, 187–195. https://doi.org/10.31751/681
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 15/03/2013
zuletzt geändert / last updated: 04/08/2014

Gegen den Strich

Zur Bedeutung von Analyse für Reinhard Febels Bearbeitung von BWV 639

Martin Grabow

Die Bearbeitung des Choralvorspiels BWV 639 durch Reinhard Febel unterscheidet sich von den älteren Bach-Bearbeitungen des 20. Jahrhunderts dadurch, dass Febel die Vorlage nicht strukturell nachzeichnet und die Strukturen hierdurch verdeutlicht, sondern dekonstruiert. Der Beitrag versucht, die Eigentümlichkeit dieses Ansatzes darauf zurückzuführen, dass die Erkenntnisse, die der Bearbeiter aus der Analyse der Vorlage gewinnt, in neuartiger Weise für die Bearbeitung relevant werden.

Schlagworte/Keywords: Anton Webern; Arnold Schönberg; arrangements of Bach's works; Bach-Bearbeitungen; Choralvorspiel Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ BWV 639; Dieter Schnebel; Ferruccio Busoni; Gerd Zacher; J. S. Bach; Reinhard Febel

Wenn wir von der Hypothese ausgehen, dass jeder Bearbeitung eine mehr oder weniger intensive analytische Auseinandersetzung mit der Vorlage vorausgeht, dann ist die Frage interessant, ob eine Bearbeitung noch Hinweise auf die Ergebnisse der analytischen Beschäftigung erkennen lässt. Reinhard Febel hat das Choralvorspiel Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ[1] von Johann Sebastian Bach (BWV 639) für Klavier zu vier Händen bearbeitet. Die Bearbeitung enthält – gerade im Vergleich zu Bearbeitungen Ferruccio Busonis, Anton Weberns, Dieter Schnebels und Gerd Zachers – Ungewöhnliches, und die Frage ist, inwieweit das Ungewöhnliche Rückschlüsse auf Febels analytisches Verständnis der Komposition zulässt.

Auf den ersten Blick ist wenig Ungewöhnliches an Febels Bearbeitung von J.S. Bachs Choralvorspiel Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ: im Gegensatz zu anderen Bearbeitungen aus dieser Sammlung, in denen er den Satz etwa durch irritierende Mixturen anreichert – ändert er kaum etwas an der Vorlage. Dennoch scheint sich der vertraute Klang der Bach’schen Komposition allmählich zu verflüchtigen – er rieselt den beiden Pianisten gleichsam durch die Finger. Die Idee zur Gestaltung des Formverlaufs geht auf die Gestaltung der Choralmelodie bei Bach selbst zurück. Bei Bach nimmt der Umfang der Ornamentierung nach drei stärker verzierten ersten Choralzeilen stetig ab. Febel übersetzt diesen Vorgang in ein groß angelegtes Diminuendo. Da die Idee bereits bei Bach angelegt ist, wundert es nicht, dass sie auch andere Bearbeiter auf jeweils ihre Art aufgegriffen haben. So findet sich in Ferrucio Busonis Bearbeitung für Klavier eine dynamische Beruhigung in Kombination mit einer Verdunklung, die er durch die Vortragsbezeichnungen calando und più oscuro erreichen will.[2] Febels Version unterscheidet sich von derjenigen Busonis unter anderem im Hinblick auf die Entwicklung der Farbgebung. Er nutzt,das Mittel der Oktavversetzung, um das Choralvorspiel aus seiner engen Originallage heraus nach und nach über die gesamte Klaviatur zu verteilen (durch Transposition des Stückes von f-Moll mit dorischer Vorzeichnung nach a-Moll kann er den Umfang des Klaviers in voller Breite ausnutzen). Der klangliche Effekt dabei ist eine Aufhellung.

Ungewöhnlich an Febels Bearbeitung ist der Umgang mit der latenten Zweistimmigkeit in der Mittelstimme – ein weiterer Aspekt, der als Ergebnis einer analytischen Auseinandersetzung mit der Vorlage interpretiert werden kann.[3] Diese latente Zweistimmigkeit hatte bereits Busoni bemerkt und in seiner Bearbeitung in eine offensichtliche Zweistimmigkeit umgemünzt:

Abbildung

Beispiel 1: a) Ferrucio Busoni, Bearbeitung von J.S. Bachs Choralvorspiel BWV 639, Schluss; b) Originalfassung

Busoni transformiert die Scheinpolyphonie der Mittelstimme in eine reale Zweistimmigkeit. Durch Fortlassen der tiefsten Stimme im Auftakt entsteht so ein 7-6-Vorhalt zwischen der ›neuen‹ Altstimme und dem bei Busoni vorübergehend zum Bass mutierten, oktavierten Tenor. Die tiefere Stimme – den ›neuen‹ Tenor – versieht Busoni mit Tönen, die vormals nicht enthalten waren, weil einfaches Aushalten der Originaltöne eine falsch im Takt platzierte 7-6-Synkopenkette zum Bass zur Folge gehabt hätte. Die Ergänzung entspricht den Regeln des barocken Kontrapunkts und der Generalbasslehre. Während man in der ungewöhnlich tiefen Lage des Satzes, der klangvollen Oktavierung des cantus firmus und dem unvermittelten Übergang ins Akkordische das harmonie- und klangbewusste Denken der Spätromantik erkennen kann, offenbart sich in der grundsätzlich respektvollen und korrekten Haltung dieser Bearbeitung eine ungebrochene Traditionslinie, die beide Komponisten verbindet.

Wenn man die Art und Weise dagegenhält, in der Febel auf die Scheinpolyphonie der Mittelstimme eingeht, tritt der Abstand von hundert Jahren zwischen den beiden Bearbeitungen plastisch hervor. Febels Auseinandersetzung mit dem Werk Bachs steht am Ende eines Jahrhunderts voller bedeutsamer musikalischer Veränderungen und der Reflexion und Hinterfragung nahezu aller selbstverständlichen Voraussetzungen der europäischen Musikkultur. So lässt Beispiel 2[4] erkennen, dass Febel an einer im barocken Sinn harmonisch oder kontrapunktisch legitimierten Stimmführung nicht mehr interessiert ist. In seinem Satz nimmt die Verteilung der Töne auf die neuen Stimmen nicht durchgängig Rücksicht auf ihre Auflösungsbestrebungen, etwa wenn gleich zu Beginn des folgenden Beispiels ohne Not ein Nonvorhalt nicht aufgelöst wird. Anders als Busonis neue Stimmen, die gegebenenfalls mit Pausen durchsetzt sind, halten die Stimmen Febels ihren Schlusston grundsätzlich so lange aus, bis sie sich weiterbewegen. Daraus ergibt sich eine leichte Unschärfe für die Klavierfassung – auf Grund des schnellen Ersterbens der Töne, bilden sich aber trotzdem keine Härten, wie es auf der Orgel der Fall wäre.

Abbildung

Beispiel 2: a) Reinhard Febel, Bearbeitung von J.S. Bachs Choralvorspiel BWV 639, T. 7–8; b) Originalfassung

Febel fasst das Verhältnis zwischen der ›höheren Mittelstimme‹ und der Oberstimme als das einer 3-2-Synkopenkette auf. Diese Interpretation der Bach’schen Vorlage ist zwar möglich, aber im Falle des Tons a1 (erste Hälfte von T. 7) nicht unproblematisch; denn der Ton scheint primär als Leitton zu b zu fungieren (und müsste dementsprechend aufwärts geführt werden). Was an dieser Stelle passiert, ist im barocken Stil nur unter den Bedingungen einer frei umherschweifenden, motorisch bewegten Stimme möglich, lässt sich aber nicht in einen strengen vierstimmigen Satz übertragen. Nicht ohne Grund hatte Busoni nur in den letzten vier Takten des Choralvorspiels die Mittelstimmen auskomponiert.

Wenn man wie Ernst Kurth davon ausgeht, dass »in Bachs Linien […] eine Technik herausgebildet [ist], nach welcher in der einstimmigen Linienentwicklung eine Mehrstimmigkeit latent liegt und welche das Erfassen und Ergänzen von reicherer und vielfältigerer musikalischer Verarbeitung im Hören anregt, als sie in der einen Stimme zu wirklichem Erklingen gelangt«[5], dann würde jede Interpretation am Instrument und jede Bearbeitung, die Bachs latente Mehrstimmigkeit in eine offensichtliche umwandelt, eine Vereinfachung darstellen. Eine solche vereinfachende Enträtselung vermeidet Febel, indem er die Mittelstimme auf eine unkonventionelle Weise aufspaltet, die durch die impliziten Tonverhältnisse nicht mehr gedeckt ist: Gegen Ende der Bearbeitung verteilt Febel die Mittelstimme auf vier Stimmen, die ursprüngliche Linie zerstäubt zu einzelnen Punkten, die nur in ihrer Gesamtheit die Stimme Bachs erkennen lassen. Man könnte sagen, dass die analytische Erkenntnis, derzufolge die Mittelstimme latent mehrstimmig angelegt ist, über die Grenzen des im barocken Kontrapunkt Sinnvollen in gewollte Übertreibung und Zuspitzung der Idee »Auskomposition der Scheinpolyphonie« hinausgetrieben wird. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass hier die einzige Stelle ist, an der Febel Töne verändert.[6] Das folgende Notenbeispiel enthält die letzten beiden Takte der Bearbeitung im Vergleich mit dem Original:

Abbildung

Beispiel 3: a) Reinhard Febel, Bearbeitung von J.S. Bachs Choralvorspiel BWV 639, Schluss; b) Originalfassung

Eine ähnlich ungewöhnliche Diskrepanz zwischen Vorlage und Bearbeitung fällt auf, wenn man untersucht, wie Febel den Aufspaltungsprozess und die Organisation der Registerverlagerung in die Form des Choralvorspiels integriert; denn Febel passt diese Vorgänge nicht immer den melodischen Gliederungabschnitten der Vorlage an. In den ersten vier Takten lässt er jede der drei Stimmen in Oktaven spielen, die dann in der Wiederholung dieses Abschnitts allmählich weg brechen, so dass die Takte 8 und 9 dem Notentext des Originals besonders nahe kommen. Aus dieser Mittellage heraus verteilt Febel das Stück dann allmählich durch Registerverlagerung einzelner Stimmen über die gesamte Klaviatur. Dabei handelt es sich um einen regelmäßigen Prozess[7], der jedoch dem formalen Ablauf der Bach’schen Vorlage, wie sie sich in den Choralzeilen manifestiert, frei überlagert wurde. Dies kann man gut an der Behandlung des cantus firmus ablesen: Ab Takt 11 springt die Choralmelodie durch Oktavtransposition allmählich in höhere Lagen – die Verlagerung wird aber nicht an den Einschnitten der Choralzeilen vorgenommen, sondern innerhalb der Sinnabschnitte und dekonstruiert so die ursprüngliche Melodiestruktur.


Wie stellt sich diese ungewohnte Bearbeitungstechnik Febels im Kontext anderer Bach-Bearbeitungen des 20. Jahrhunderts dar? Leuchttürme mit großer Strahlkraft sind die ab 1922 entstandenen Bach-Bearbeitungen der Zweiten Wiener Schule.[8] Beispielhaft für die Motivation dieser Arbeiten sei aus einem Brief Anton Weberns zitiert, in dem er sein Anliegen bei der Bearbeitung des sechsstimmigen Ricercars aus dem Musikalischen Opfer (1934–35) darlegt:

Meine Instrumentation versucht […] den motivischen Zusammenhang bloßzulegen. Das war nicht immer leicht. Natürlich will ich darüber hinaus andeuten, wie ich den Charakter dieses Stückes empfinde; dieser Musik! Diese endlich zugänglich zu machen, indem ich versuchte darzustellen (durch meine Bearbeitung), wie ich sie empfinde, das war der letzte Grund meines gewagten Unternehmens! Ja, gilt es nicht zu erwecken, was hier noch in der Verborgenheit dieser abstrakten Darstellung durch Bach selbst schläft und für fast alle Menschen dadurch einfach noch gar nicht da oder mindestens völlig unfassbar ist?[9]

Noch vor der geäußerten Absicht einer ›Popularisierung‹ und einer Intensivierung des subjektiv wahrgenommenen Charakters formuliert Webern an erster Stelle das Anliegen, durch gezielte Instrumentation die motivischen Beziehungen zu verdeutlichen, die in der Komposition angelegt sind. Carl Dahlhaus, der in einem Aufsatz das Eigentümliche der Vorgehensweise Weberns herausarbeitet und dafür den Begriff »analytische Instrumentation« prägt, nennt das Resultat dieser Haltung paradox; denn indem »Webern die motivischen Zusammenhänge zwischen den Stimmen ausinstrumentiert, zerfallen die Stimmen selbst, deren Beziehungen verdeutlicht werden sollen.«[10] Nichtsdestotrotz wirke etwa Weberns Instrumentation des Ricercar-Themas, obwohl sie den Gegenstand siebenfach zergliedert, dennoch Zusammenhang stiftend.

Die Absicht, den motivischen Beziehungsreichtum der bearbeiteten Kompositionen hörbar zu machen, bestimmt die Bach-Bearbeitungen Weberns. Auch Schönbergs kompositorisches Interesse und seine Absicht, das eigene Schaffen historisch zu legitimieren, finden hier zusammen. Essentiell für das kompositorische Denken Schönbergs ist die Idee der entwickelnden Variation, die ihn in äußerster Konsequenz zur Erfindung der Zwölftontechnik geführt hat.[11] Die Idee der »Entwicklung durch Variation« steht in der Tradition des im 19. Jahrhundert an Beethovens Werken entwickelten Gedankens, dass ein in sich vollendetes Kunstwerk auf einer organischen Form beruhe, die entstehe, indem sich ein Motiv durch Umformung und Veränderung zu einem größeren Ganzen entwickele, wie ein Keim, der aus sich selbst heraus zur Pflanze heranwächst.[12] Schönbergs Bearbeitungen von Kompositionen aus der Barockzeit waren von der Intention getragen, die »Entwicklung durch Variation« auch in Kompositionen vor Beethoven nachzuweisen.[13]

* * *

Schönbergs Methode, die (teils impliziten) Strukturen einer historischen Vorlage durch Bearbeitung nachzuzeichnen und zu verdeutlichen, übte in der Zeit danach eine große Faszination aus und blieb bis in die 70er Jahr des 20. Jahrhunderts aktuell. Beispielsweise wird die Bearbeitung des Contrapunctus I aus J.S. Bachs Kunst der Fuge[14] durch Dieter Schnebel von dem Gedanken getragen, die Strukturen der Vorlage mit modernen Mitteln herauszuarbeiten. Zu den modernen Mitteln gehört etwa die Ausnutzung des Aufführungsraums. So hat Schnebel die Fuge für ein Gesangs-Ensemble mit zwanzig Stimmen eingerichtet. Die Sänger werden bei der Aufführung derart im Publikum verteilt, dass »Extensionen und Kontraktionen der melodischen Linien als räumliche Ausdehnung und Zusammenziehung«[15] erlebt werden können. Weniger mit der grundsätzlichen Absicht, »das Potential des Vergangenen, seine vielleicht noch unentdeckten Möglichkeiten«[16] zu erschließen, als vielmehr mit den spürbaren Eingriffen in den vertrauten Tonsatz geht Schnebel über Webern und Schönberg hinaus. Durch Ergänzung eines neuen Tons im Thema stellt er beispielsweise den fast spiegelsymmetrischen Bau des Themas heraus.

Alle Eingriffe, insbesondere die klanglich ungewohnte Präsentationsform, dienen dem übergeordneten Ziel, die »Verkalkungen des Traditionellen abzuschlagen«.[17] Während aber Schönberg und Webern, ähnlich wie Mozart oder Mendelssohn[18], noch daran arbeiteten, vergessenen Werken der Barockzeit (zusätzliche) Aufführungsmöglichkeiten zu verschaffen bzw. sie überhaupt wieder bekannt zu machen, will Schnebel aus einer veränderten historischen Situation heraus, in der die Kunst der Fuge – wenn nicht als Werk so doch als ein Vertreter Bach’schen Stils – durch massenhafte mediale Verbreitung omnipräsent ist, dem Stück seine Übervertrautheit nehmen und auf diese Weise ein neues Hören ermöglichen.

Bereits vier Jahre vor Schnebel präsentierte Gerd Zacher mit Die Kunst einer Fuge[19] eine Sammlung von zehn Bearbeitungen des Contrapunctus I für Orgel. Zacher, der ein ähnliches Anliegen verfolgt wie Schnebel, nennt die Bearbeitungen ausdrücklich zehn Interpretationen, weil er keine Note des Contrapunctus I verändert habe und sich strikt an die von einer Orgel bereitgehaltenen Mittel der Interpretation halte (zur Klassifizierung als Interpretation passt, dass diese Stücke nur als Einspielungen vorliegen). Die Kunst einer Fuge ist experimentierfreudig, die Vorlage wird in wechselnden Versuchsanordnungen präsentiert. So wird in der Alt-Rhapsodie für Johannes Brahms getestet, was passiert, wenn man alle Stimmen in dieselbe Oktavlage projiziert. Timbres-durées für Olivier Messiaen führt hingegen vor Ohren, welcher Effekt sich ergibt, wenn man Notenwerte an die Registrierung koppelt; und wie das Stück klingt, wenn man den Blasebalg der Orgel ausschaltet, sobald das Thema nicht mehr präsent ist, hört man in Sons brisés für Juan Allende-Blin. Dieser multiperspektivische Ansatz macht es möglich, dass der Hörer dasselbe Werk in sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen erlebt, deren Gesamtaussagen sich durchaus auch widersprechen können.[20] Man kann sich bei diesem Vexierspiel des Eindrucks nicht erwehren, nur Zeuge einer technischen Untersuchung der äußeren Abmessungen des Contrapunctus I zu sein, in der diverse Komponenten des Satzes unter außergewöhnlicher Belastung auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft werden, während die Intentionalität des Bearbeiters und der Vorlage seltsam unbestimmt bleiben, doch wird dem Hörer von Zachers Bearbeitungen gerade durch diese Vorgehensweise eine Mehrdimensionalität der Bach’schen Vorlage vor Ohren geführt, die eben auch die Gesamtaussage betreffen kann.

Die Unbefangenheit, fast ›Respektlosigkeit‹, mit der sich Schnebel und besonders Zacher ihrer Vorlage nähern, mag den Grund dafür darstellen, dass Febels Bearbeitungen der Choralvorspiele 30 Jahre später kaum Befremden auslösen. Sie ist aber auch Voraussetzung dafür, dass Febel seine Dekonstruktionen ebenso unspektakulär wie überzeugend vornehmen kann. Die älteren Bearbeitungen bilden das Fundament, auf dem sein eigener Ansatz erst sicher zum Stehen kommt. Febel verfolgt durchaus ein ähnliches Anliegen wie Schnebel und Zacher, wenn er dafür sorgt, dass in seiner Bearbeitung der historische Abstand zur Vorlage spürbar wird. Die Tatsache, dass dies geschieht, indem Febel motivische Strukturen ignoriert und ›an der Vorlage vorbei‹ komponiert, darf aber als Hinweis darauf verstanden werden, dass er sich von seinen Vorgängern und ihrem pädagogischen Verdeutlichungs-Eifer (der inzwischen bevormundend wirkt) distanziert. Anstatt zu zeigen, wie die Komposition im Detail gemacht ist, entwickelt er aus den analytischen Erkenntnissen Ideen, die dann unabhängig von den Strukturen, denen sie sich verdanken, in abstrahierter Form auf die Vorlage angewandt werden. Auch das übergeordnete Konzept, im Verlauf des Stückes einen Prozess zu gestalten, könnte, wie eingangs gezeigt, eine Reaktion auf die Vorlage sein. Andererseits offenbart sich hier ein sehr persönlicher Blick auf die Vorlage; denn Febel beschäftigt sich auf diese Weise anhand des Choralvorspiels mit einem Phänomen, dem man in seinem Schaffen immer wieder begegnet. Markante Beispiele für ausgedehnte Prozesse in Werken Febels sind die Variationen für Orchester (1980), in denen ein armenisches Volkslied entsteht und verschwindet, sowie Charivari (1979), in dem Febel die musikgeschichtliche Entwicklung von Tonalität hin zur Atonalität nachkomponiert.[21] Auch in Febels Bearbeitung von BWV 639 ist Alles ständig in Bewegung:[22] Man erlebt, wie sich die Bearbeitung allmählich von der Vorlage ablöst und der nah geglaubte Bach immer weiter in die Ferne entrückt.

Anmerkungen

1

Die Bearbeitung ist Bestandteil der 1999 von Reinhard Febel (*3.7.1952) komponierten Sammlung Sieben Choralvorspiele nach Johann Sebastian Bach, in der er die Orgelstücke aufs Klavier zu vier Händen übertragen hat (UA am 14.2.2000 in Gießen).

2

Es hat eine längere pianistische Tradition, die Choralvorspiele Bachs für Klavier zu bearbeiten und ihnen so über ihre Bestimmung als Gebrauchsmusik im Gottesdienst hinaus zu breiterer Aufmerksamkeit zu verhelfen. Neben der hier erwähnten Bearbeitung von Busoni (aus: Zehn Choralvorspiele von J.S. Bach für Pianoforte bearbeitet [KiV B 27], entstanden 1898) existieren etwa Bearbeitungen von Max Reger, August Stradal, Wilhelm Kempff.

3

Ernst Kurth (1917, 262ff.) beschreibt bei Bach ausführlich verschiedene Ausprägungen, in der Einstimmigkeit mehrere Stimmen anzudeuten, also Scheinpolyphonie entstehen zu lassen.

4

Es handelt sich um die Takte 11 und 12 der Bearbeitung des Choralvorspiels im Vergleich mit dem Originalsatz. Zur leichteren Vergleichbarkeit wurde Febels Bearbeitung in diesem und im folgenden Notenbeispiel von a-Moll nach f-Moll transponiert.

5

Kurth 1917, 263.

6

Hier ist nicht die Veränderung der absoluten Tonhöhe durch Okatvtransposition gemeint, die ja einen der Grundgedanken dieser Bearbeitung darstellt. Febel ändert am Schluss vier Töne hinsichtlich ihrer relativen Tonhöhe.

7

Es lassen sich ähnliche Proportionsverhältnisse benachbarter Abschnitte feststellen (ca. 1:1,3).

8

Es handelt sich um insgesamt vier Bearbeitungen: Arnold Schönberg hat 2 Choralvorspiele (1922) sowie Praeludium und Fuge Es-Dur (1928), Anton Webern das sechsstimmige Ricercar aus dem Musikalischen Opfer (1934–35) für Orchester bearbeitet.

9

Anton Webern an Hermann Scherchen am 1. Januar 1938; zitiert nach Zacher 1983.

10

Dahlhaus 1969, 205. Vgl. auch Schönberg 1976.

11

Schmidt 2005, 1625.

12

Schmidt 1990, 41.

13

Schönberg beschränkt sich allerdings nicht darauf, die Musik Bachs in seinem Sinne auszulegen; auf einem Nebenschauplatz versucht er, die Überlegenheit seines kompositorischen Denkens zu beweisen, indem er »praktische Stilkritik« übt und in Bearbeitungen von Kompositionen Händels und Monns durch massive Eingriffe motivischen Zusammenhang dort herzustellen trachtet, wo er ihn im Original vermisst (vgl. Müller 1992).

14

Bach-Contrapunctus I aus der Serie Re-Visionen (1972). Jede der vier Stimmen der Vorlage wird durch fünf solistisch behandelte Sänger der vier Stimmlagen ausgeführt.

15

Schnebel 1998.

16

Ebd.

17

Ebd.

18

Mozart bearbeitete zwischen 1788 und 1790 mehrere Oratorien Händels, indem er ihnen eine neue klangliche Gestalt gab und Koloraturen vereinfachte, um die Musik zu modernisieren und für eine Aufführung in der »Musikalischen Gesellschaft« Gottfried van Swietens einzurichten. Mendelssohn vergrößerte für die Wiederaufführung der Matthäuspassion von J.S. Bach die Besetzung und nahm erhebliche Kürzungen vor (vgl. Müller 1992).

19

Gerd Zacher, Die Kunst einer Fuge J.S. Bachs Contrapunctus I in zehn Interpretationen, Einspielung auf CD 6184-2 bei Wergo.

20

Die zweite Interpretation etwa nennt sich Crescendo für Robert Schumann und geht von der Idee aus, die Registrierung bei jedem Themeneinsatz aufzustocken, bis am Ende der Fuge das volle Werk im Einsatz ist, so dass die Fuge einen triumphalen, krönenden Abschluss erlebt. Das ist der gegenteilige Verlauf der bereits erwähnten neunten Interpretation Sons brisés für Juan Allende-Blin.

21

»Von Anfang an vereinigte Febel strukturelles Kalkül mit unmittelbar nachvollziehbaren Form- und Materialverläufen.« (Nonnenmann 2004, 2)

22

Alles ständig in Bewegung lautet der Titel von Febels Sammlung eigener Texte zur Musik (Febel 2004).

Literatur

Boulez, Pierre (2000), Leitlinien, Kassel: Bärenreiter/Metzler.

Dahlhaus, Carl (1969), »Analytische Instrumentation«, in: Bach-Interpretationen, hg. von Martin Geck, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 197–206.

Febel, Reinhard (2004), Alles ständig in Bewegung Texte zur Musik 1976–2003 (= Quellentexte zur Musik des 20./21. Jahrhunderts 11/1), hg. von Rainer Nonnenmann, Saarbrücken: Pfau.

Gruber, Gerold (1994), Art. »Analyse« in: Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., hg. von Ludwig Finscher, Sachteil Bd. 1, Kassel u.a.: Bärenreiter, 577–591.

Kaiser, Ulrich (1998), Gehörbildung. Satzlehre, Improvisation, Höranalyse, Grundkurs (= Bärenreiter Studienbücher Musik 10), Kassel u.a.: Bärenreiter.

Kurth, Ernst (1917), Grundlagen des linearen Kontrapunkts, Berlin: Max Hesses Verlag.

Kühn, Clemens (1993), Analyse lernen (= Bärenreiter Studienbücher Musik 4) Kassel u.a.: Bärenreiter.

Müller, Antje (1992), »Die Wiederentdeckung alter Musik«, in: Musikalische Metamorphosen (= Bärenreiter Studienbücher Musik 2), hg. von Silke Leopold, Kassel u.a.: Bärenreiter, 147–156.

Nonnenmann, Rainer (2004), »Reinhard Febel«, in: Komponisten der Gegenwart, hg. von Hans-Werner Heister und Wolfgang Sparrer, München: edition text + kritik.

Schmidt, Christian-Martin (2005), »Schönberg«, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., hg. von Ludwig Finscher, Personenteil Bd. 14, Kassel u.a.: Bärenreiter, 1580–1646.

Schmidt, Lothar (1990), Organische Form in der Musik (= Marburger Beiträge zur Musikwissenschaft 6), Kassel u.a.: Bärenreiter.

Schnebel, Dieter (1998), Text im Beiheft zur CD Re-Visionen, Mainz: Wergo 6616-2.

Schönberg, Arnold (1976): »Brahms, der Fortschrittliche«, in: Stil und Gedanke (= Gesammelte Schriften 1), hg. von Ivan Vojtech, Frankfurt a.M.: Fischer, 35–71.

Zacher, Gerd (1983), »Zu Anton Weberns Bachverständnis«, in: Musik-Konzepte Sonderband Anton Webern I, München: edition text + kritik, 290–305.

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