Klassen, Janina (2010), »Schneisen im Dickicht barocker Systemtheorie. Melanie Wald, Welterkenntnis aus Musik. Athanasius Kirchers ›Musurgia universalis‹ und die Universalwissenschaft im 17. Jahrhundert (= Schweizer Beiträge zur Musikforschung Bd. 4), Kassel u.a.: Bärenreiter 2006«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 7/3, 393–395. https://doi.org/10.31751/577
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 22/12/2010
zuletzt geändert / last updated: 30/06/2011

Schneisen im Dickicht barocker Systemtheorie

Melanie Wald, Welterkenntnis aus Musik. Athanasius Kirchers »Musurgia universalis« und die Universalwissenschaft im 17. Jahrhundert (= Schweizer Beiträge zur Musikforschung Bd. 4), Kassel u.a.: Bärenreiter 2006

Janina Klassen

Athanasius Kircher (1602–1680) ist in den letzten zwanzig Jahren zum heimlichen ›Star‹ unter den Universalisten des 17. Jahrhunderts aufgerückt. Umberto Eco hat ihm in dem Roman Die Insel des vorigen Tages[1] ein köstliches literarisches Denkmal gesetzt. Eco skizziert den in Fulda geborenen und in Rom an zentraler Stelle des Ordens wirkenden Kleriker und Gelehrten, der sich vorgenommen hat, eine Ordnung der Längengrade zu bestimmen, als einen ebenso kauzig-schrulligen wie listig-verschmitzten Jesuiten mit ungebremster Neugier und Sammelwut so, wie er einem auf mehreren zeitgenössischen Kupferstichen (meist nach einer Vorlage Cornelis Bloemaerts von 1665) entgegenblickt. Kircher besaß schon unter den Mitgliedern der zeitgenössischen Gelehrtengesellschaft Prominenz.

Im deutschen Musikdiskurs ist Kircher seit dem 17. Jahrhundert präsent. Dazu hat die 1662 erschienene, auf etwa ein Zehntel des ursprünglichen Umfangs kondensierte deutsche Übertragung der Musurgia von Andreas Hirsch wesentlich beigetragen.[2] Teile aus Kirchers Musikgeschichte, -theorie und Akustik wurden noch im 18. Jahrhundert abgekupfert. Und seit der Wiederentdeckung barocker Rhetorik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind auch einige von Kirchers spezifischen Kategorien wie der ›stylus phantasticus‹ und ein Teil seines musikalischen Figurenrepertoires (darunter die ›catabasis‹) allgemein bekannt. Allerdings liest man nicht von ungefähr immer wieder nur dieselben schmalen Zitate. Der Flirt mit Kircher wird nämlich auf eine harte Probe gestellt, wenn man sich näher mit seinen Schriften befasst. Allein der Umfang des von Ulf Scharlau 1970 erstmals herausgegebenen Reprints der Musurgia universalis[3] von über tausend im Nachdruck verkleinerten Foliantenseiten ernüchtert. Schnell verliert man sich in der Fülle des in maßlosem Vollständigkeitswahn Zusammengetragenen. Zudem präsentiert Kircher das gesammelte Wissen in einem ausufernden System von weit verzweigten hierarchischen Ordnungsschemata und erzeugt mit seinen detailverliebten Untergliederungskategorien ein nur schwer durchschaubares Gewirr. Schließlich verdunkelt auch Kirchers jesuitisches, barock gekräuseltes und mit Gräzismen durchsprenkeltes Neulatein den Corpus zu einem inhaltlich wie poetisch oft hermetischen Text.

Melanie Wald schlägt hier Schneisen durch das Dickicht. Sie gehört zu einer feinen international besetzten illustren Gruppe von Kircherspezialisten, deren Ergebnisse vor allem auf den verschiedenen Symposien aus Anlass von Kirchers vierhundertsten Geburtstag 2002 vorstellt wurden und inzwischen veröffentlich sind. Wald führt klug und bündig in den Aufbau der Schrift ein. Und ihre eleganten Übersetzungen einschlägiger Passagen sind ein wahrer Hochgenuss. Doch geht es um mehr als bloße Navigationshilfen für die Leserschaft. Vielmehr öffnet die Autorin weite Horizonte, indem sie zeigt, dass Kirchers überregulierte philologische Wissenspräsentation, die Gliederung der Musurgia in zehn Bücher, mit Kapiteln, Abschnitten und verwirrenden weiteren Untereinheiten wie Fragestellung (›erotema‹), Vorübung (›progymnasma‹), Konstruktion (›machinamentum‹), Experiment sowie diversen Paragraphen, Teil eines umfassenden Konzepts barocker Welterkenntnis ist (71 ff). Die Systeme spiegeln die Anordnung des Wissens und sind mit metaphysischer beziehungsweise religiöser Bedeutung aufgeladen. So symbolisiert die Zahl Zehn Universalität. Auch die reichen, teils emblematischen Bildmaterialien (Titelkupfer, Rosetten, Tafeln, Tabellen, Konstruktionsskizzen, Figuren und weitere Abbildungen) haben mehrfache Funktionen. Sie dienen der Visualisierung und Memorierung von Wissen, können darüber hinaus aber auch auf eine weitere Bedeutungsebene verweisen, die erst durch einen aus den Beschreibungen zu übertragenden zweiten Sinn aufzuschließen ist. So repräsentiert Kirchers Musurgia einen vielschichtigen Kosmos mit dem Ziel, durch die Erforschung der Welt einen Weg zur Gotteserkenntnis zu öffnen.

Ganz konkret erfüllte Kircher damit einen Auftrag der ignatianischen Gesellschaft, der mit durchaus handfesten machtpolitischen Interessen verbunden war, wie die Autorin nachzeichnet. Die Musurgia universalis erschien 1650, einen ›anno santo‹ (heiligem Jahr), in dem Rom in den Mittelpunkt rückte. Dort tagte auch eine Generalkongregation des Ordens, zu der Mitglieder aus der ganzen Welt anreisten. An sie wurde Kirchers Schrift großzügig verteilt. Auch die weltliche Obrigkeit wurde gebührend berücksichtigt, wie Kaiser Ferdinand III. Ein Jahr nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs hatten die Katholiken in Zentraleuropa entschieden an Einfluss verloren, und die Jesuiten arbeiteten an vielen Stellen daran, die Autorität ihrer Kirche wieder herzustellen. Als eines ihrer schlagenden Instrumente sollte die Rückgewinnung der Deutungshoheit über das Weltwissen dienen. Kirchers Aufgabe bestand darin, das universale Wissen zu sammeln, im Sinne des Ordens zu interpretieren und es anschaulich medial aufzubereiten. Dafür hatte man ihn ans Collegium Romanum berufen. Mittel für die Erforschung und Verbreitung standen ihm zur Verfügung. Die Brisanz dieses ambitionierten maßlosen Plans lag darin, das alte nach wie vor von der Kirche allein akzeptierte geozentrische Kosmosmodell zu restituieren, das Kopernikus mit seinem bereits 1547 erschlossenen und durch Kepler und Galilei 1609 mathematisch und experimentell bestätigten heliozentrischen Weltbild längst zu Fall gebracht hatte.[4]

Die Attraktion von Kirchers Unterfangen macht nun gerade die besondere Mischung aus überlieferter Gelehrsamkeit in aristotelisch-scholastischer Tradition und der Aufgeschlossenheit gegenüber den Erkenntnismethoden moderner Naturwissenschaften aus, durch die die fundamentale Krise der Weltordnung ausgelöst worden war. So hält Kircher an der Empirie, dem Sammeln von Beobachtungen, sowie an der Kombinatorik als Erkenntnismethode fest. Dafür werden indes neue wissenschaftliche Instrumente eingesetzt und mechanische beziehungsweise mathematische Gesetze zur Erklärung herangezogen. Doch bleibt das Ziel immer theologisch verankert. Es gelte, so Kircher, durch die Erforschung der den Einzeldingen zugrunde liegenden Ordnungen »die unerschöpfliche Macht des Urhebers« (46) zu erkennen. Danach schafft der Schöpfergott eine unsichtbare Verbindung zwischen materieller und intelligibler Natur, wie sie etwa im Magnetismus sichtbar wird. Auch die Auslösung von Affekten und die medizinischen Heilwirkungen durch Musik werden so sympathetisch begründet. Grundlage der von Kircher ausgefalteten Ideen ist die Vorstellung einer zahlenmäßigen Bestimmtheit der Weltordnung, nach der Erscheinungen der Außenwelt als Abbilder von Zahlen gelten, gemäß dem Weisheitsspruch, Gott habe alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet (Weish. 11, 20). Dabei greift Kircher mit den Analogien von Mikro- und Makrokosmos, Sichtbarem und Unsichtbaren hermetische Diskurse auf, die christlich uminterpretiert wurden wie Wald ausführt (52ff.). Durch diese konsequente Rückbindung auf eine vom Glauben bekräftigte mystische Magie galten große Teile der Musurgia schon in der Frühaufklärung als veraltet. Gleichwohl bot Kircher bei allen fundamentalen Fehlannahmen doch soviel positives neues Wissen (etwa in der Akustik), dass auch hundert Jahre später noch daraus geschöpft wurde.

Musik galt bereits bei Boethius als sinnfälligstes Beispiel für das Funktionieren einer göttlichen Harmonie. Ihre durch den Zusammenklang verschiedener Proportionen entstehende, im Kosmischen verankerte Ordnung war allerdings an das geozentrische Weltbild geknüpft. Wenn Musik 1650 zu einem »Sehnsuchtspunkt der verlorenen Einheit« (122) wurde, dann wahrscheinlich nicht allein im theologisch-kosmischen, sondern nach den Wirrungen des Dreißigjährgen Kriegs wohl auch im ganz alltäglichen politischen und emotionalen Sinne. Mit seiner Bestimmung von Musik als »zwieträchtige Eintracht bzw. einträchtige Zwietracht«[5] (176) etabliert Kircher einen modernen Harmoniebegriff, der es ihm ermöglicht, über eine symbolische, die Gegensätze der Erscheinungen einbegreifende Weltordnung hinaus die zeitgenössische Musik zu erfassen, deren Kunsthaftigkeit durch gesetzmäßige Kon- und Dissonanzfolgen geregelt wurde. Die Musiklehre im engeren Sinne zielt auf eine »Verwirklichung des Erkannten«, so Wald (121). Dieser Skopus äußert sich bereits im Titel. Der gräzisierende Ausdruck ›musurgia‹, zusammengesetzt aus ›mousa‹ und ›ergein‹ (machen, herstellen, 182), unterstreicht die tatkräftige Umsetzung erkannter Ordnungen in Musik. Dazu sollte das berühmte ›Komponierkästchen‹, die ›Arca musurgica‹, dienen. Es zeugt von Kirchers eigener Faszination von Maschinen – hier eher einem »Zettelkasten« (135) – beim Einsatz von Grundelementen der Kombinatorik. Nicht nur Ferdinand III. sondern vor allem die jesuitischen Missionare dürften hier die ersten Adressaten gewesen sein.

Walds Interesse gilt Kirchers Verschränkung von Theorie und Praxis, mit dem Ziel, durch eine »beständig aktivierte Sympathie von Urbild und Abbild« die Gesetzmäßigkeiten der Weltordnung in der Musik sinnlich und kontemplativ zu erfahren (9 und 183f). Ihre Untersuchung enthält indessen entschieden mehr. Mit der Einführung in Kirchers Denken, seiner Verwurzelung in bestimmten jesuitisch-theologischen Diskursen und der Auseinandersetzung mit neuen naturwissenschaftlichen Methoden bietet sie einen hoch qualifizierten Einstieg in das Gelehrten-Universum des 17. Jahrhunderts, den jede/r lesen sollte, der sich mit musikalischen Phänomenen dieser Zeit – und nicht bloß mit Kircher – befasst. In diesem Sinne ist das Buch ein Grundlagentext.

Anmerkungen

1

Eco 1995.

2

Hirsch 2006.

3

Kircher 2006.

4

Kanitscheider 1986, 100ff.

5

»quam discors concordia vel concors discordia«.

Literatur

Eco, Umberto (1995), Die Insel des vorigen Tages, übers. v. Burkhart Kroeber, München: Hanser.

Hirsch, Andreas (2006), Artis magnae de consono et dissono ars minor; das ist Philosophischer Extract und Auszug aus deß Welt-berühmten Teutschen Jesuisten Athanasii Kicheri von Fulda Musurgia Universali, Schwäbisch-Hall 1662, Reprint hg. v. Melanie Wald, Kassel u.a.: Bärenreiter.

Kanitscheider, Bernulf (1986), Kosmologie. Geschichte und Systematik in philosophischer Perspektive, Stuttgart: Reclam.

Kircher, Athanasius (1650), Musurgia universalis, Rom, Reprint hg. v. Ulf Scharlau, Hildesheim: Olms 2006.

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