Editorial
Hier stehe ich nun, ich bin Mitte fünfzig, und ungefähr vor einem Jahr brachte mich etwas völlig aus der Fassung. […] Ich begann mich zu fragen, ob Musik überhaupt eine Kunstform ist. Nun das ist etwas, was einen aus der Fassung bringen kann. Und ich glaube, der Grund, warum ich aus der Fassung geriet, waren meine Doktoranden. Weil keiner von ihnen sie behandelt, als wäre sie eine Kunstform. Ja, sie ist eine Musikform, sie ist eine Gedächnisform, sie ist eine Form, von der man angeblich erwartet, dass sie dies oder das tut, wenn man dies oder das macht. […] Ich meine, worum geht es hier eigentlich, all diese im Voraus festgelegten Posen, im Voraus festgelegten Gefühle? Haben wir zum Beispiel irgendetwas in der Musik, das wirklich alles auswischen würde? […] Ich habe da meine Zweifel.
Morton Feldman
Schon häufiger haben sich, ohne dass dies planerische Absicht gewesen wäre, Berührungspunkte zwischen Beiträgen einer Varia-Ausgabe der ZGMTH ergeben. In der vorliegenden Ausgabe betrifft dies die von Morton Feldman anhand der Gegenüberstellung von ›Musikform‹ und ›Kunstform‹ aufgeworfene Frage, ob Musik ihrer selbst entkommen könne. Dabei lässt sich Feldmans Formulierung von den »im Voraus festgelegten Gefühle[n]« und »Posen« so verstehen, die Hypermnesie, der »Gedächnisform« Musik habe ihren Beweggrund zuvörderst in tiefreichenden psychischen und sozialen Invarianten. Musik wäre demnach nicht schlicht »unsere Welt als andere« (Bernhard Waldenfels), sondern deren Allegorie gerade in ihren (scheinbar?) unveränderlichen Momenten.
Was bedeuten derlei Überlegungen für die ›conceptual models‹ musikalischer Analyse? Gibt es auch hier eine permanente Erinnerung? Und wenn ja: Soll, will und kann man ihr entfliehen?
Anknüpfend an ihren in der ZGMTH 1/3 (2006) veröffentlichten Beitrag »Probleme der Stilanalyse«[1] diskutiert Ana Stefanovic an Topoi orientierte Analyseansätze, die Musik atomistisch auf ein Spiel mit formalen Elementen reduzierten, anstatt die Topoi in den narrativen und diskursiven Strukturen selbst zu erkennen. Den Bezugspunkt Ihrer Überlegungen bildet dabei Beethovens Pathetique.
Um narrative Strukturen geht es auch Volker Helbing, der sich Giacinto Scelsi zuwendet. Dessen Schaffensweise folgte bekanntlich einem höchst unkonventionellen Werkbegriff. Umso erstaunlicher ist, welche Kommensurabilität die vermeintliche Formlosigkeit von Scelsis viertem Streichquartett gewinnen kann, vergegenwärtigt man den musikalischen Prozess aus der Perspektive der Dramentheorie.
Veröffentlicht werden in dieser Ausgabe auch die drei prämierten Beiträge des ersten Aufsatzwettbewerbs der GMTH.[2] Zunächst widmet sich Andreas Lang dem Ensemblestück kairos incised (2007) des jungen New Yorker Komponisten Mark Barden. Bardens kompositorische Auseinandersetzung mit dem ›rechten Augenblick‹ und den »ersten minutiösen Reaktionen darauf« – so Barden über sein Stück – zeichnet Lang instruktiv nach, nicht ohne Bardens Selbstauskünfte zur Programmatik seiner Komposition zu hinterfragen. Mit Blick auf Feldmans Einwand formuliert: Kann eine Musik, die das Kairos in der Zeit darzustellen versucht und dabei notwendigerweise zerdehnt, überhaupt dem Chronos entgehen?
Obgleich nur vier Jahre Bardens Komposition von derjenigen Sven-David Sandströms trennen, handelt es sich um stilistisch völlig unterschiedliche Musiken – gilt der schwedische Komponist doch als herausragender Vertreter der musikalischen Postmoderne. Wie Vanselow detailliert herausarbeitet, bezieht sich Sandströms Motette Lobet den Herrn (2003) auf das gleichnamige, Johann Sebastian Bach zugeschriebene Werk. Sandström übernehme »einige – meist formale – Aspekte gleichsam als ein ›äußeres‹ Gefäß […], während die ›innere‹ Ausgestaltung gänzlich der eigenen Idiomatik verpflichtet« bleibe. – Der Komponist fügt sich dem »Zweifel« und ergibt sich der »Gedächtnisform«?
Als Friedrich Nietzsche im Oktober 1871 sein Fragment an sich niederschrieb, griff er auf eine frühere Skizze zurück, die, wie andere kurze Klavierstücke aus Nietzsches Nachlass, bis dato unausgeführt geblieben war. Über die ästhetische Bedeutsamkeit der kleinen Komposition mag man streiten. Ihr ›Gehalt‹ freilich ist leicht fasslich: Nach einem lichten Beginn sinkt die Musik in die Tiefe und gerät ins harmonische Abseits, der Fluss des ohnehin mit »sehr langsam« überschriebenen Stückes kommt fast zum Erliegen. Eine rettende Sequenz führt zunächst in den nunmehr überhöhten Anfang zurück, worauf das Stück nach einem abermaligen Spannungsabfall umso ernüchternder verebbt. Wie aus der Luft gegriffen erscheint der Beginn, das Ende, als hätte ein ins Bodenlose führender Abstieg seinen Fluchtpunkt noch nicht endgültig erreicht.
Nietzsche notiert im letzten, abbrechenden Takt »da capo con malinconia«. Diese Anweisung macht das Stück zum Paradox, hebt sie doch das Fragmentarische auf und erklärt es zum Perpetuum mobile. Gerade darin aber besteht die Pointe: Zwar wird die Endlichkeit eines in sich geschlossenen Werkes verweigert, was insbesondere mit den aufgeklärten Augen der Moderne als emanzipatorischer Akt in Gegenwehr zum Anspruch auf Totalität gewertet werden könnte, doch ist das Bild der Unendlichkeit, auf das nun der Blick fällt, mitnichten paradiesisch: Indem Nietzsches Fragment sich in einen vom kompositorischen Subjekt unabhängigen ›Verlauf‹ einzublenden scheint, wird es zum musikalischen Gleichnis einer bloß episodischen (und insofern brüchigen) Teilhabe am ›Ganzen‹.
Dass die durch dergleichen Strategien motivierte Melancholie sich bei Frédéric Chopin mal als Suspension bis an die Grenze des Kulinarischen gebärden, mal ins Tragische oder gar Groteske verkehren kann, zeigt Michael Lehners Spurensuche nach dem Fragmentarischen in Chopins Mazurken. ›Rahmen‹ und ›Zyklus‹ sind hier zwei zentrale Stichworte, die Strategien umreißen, mit denen Chopin die Tendenzen zur Formauflösung auszugleichen versucht.
Auch Johannes Quint fokussiert die experimentelle Form der Mazurken Chopins. Mit Michael Lehner verbindet ihn der gemeinsame Rekurs auf die frühromantische Ästhetik, beide trennt, dass Quint die Differenzen zu nahestehenden Verfahren der musikalischen Klassik herausarbeitet, während Lehner vor allem den Entwicklungszügen innerhalb des Chopinschen Œuvres nachgeht. Gleichwohl hat es in keiner der bisherigen ZGMTH-Ausgaben eine vergleichbare inhaltliche Nähe zwischen zwei Beiträgen gegeben. Quints Text erreichte die Redaktion als ›regulärer‹ Beitrag bereits geraume Zeit vor der Prämierung der Wettbewerbsbeiträge. Die Redaktion war sich zunächst unsicher, wie in dieser Situation zu verfahren sei, denn keineswegs sollte der Eindruck entstehen, der Wettbewerb setzte sich nun innerhalb der ZGMTH fort. Beide Autoren aber haben die Konstellation ohne genaue Kenntnis des jeweils anderen Textes als produktiv erachtet und die zeitgleiche Veröffentlichung befürwortet. Vielleicht waltet hier »ein geheimes Bündnis verwandter Geister«, wie jenes, von dem der andere große Jubiliar dieses Jahres und Bewunderer Chopins sprach, wenn auch mit Blick auf einen Vierten im ›Bunde‹…
Wofür Chopin unter seinen Zeitgenossen berühmt war, stand auch im Zentrum des IX. Jahreskongress der GMTH in Mainz 2009: die Improvisation. Zunehmend besinnt man sich in der Musiktheorie darauf zurück, dass Komponisten noch bis ins 19. Jahrhundert hinein, insbesondere wenn sie von der ›Taste‹ kamen, die Kenntnis ihres Metiers zu guten Teilen der Improvisation verdankten. Folker Froebe und Jan Phillip Sprick erinnern an eine Veranstaltung, die erwarten lässt, »dass Improvisation und verwandte Thematiken auch künftig einen Schwerpunkt der deutschsprachigen Musiktheorie bilden werden.«
Den Schlusspunkt dieser Ausgabe setzen drei Rezensionen. Nochmals geht es um die ›Welt‹ und ihre Resonanzen in Musik und Musiktheorie: Wolfgang Fuhrmann wundert sich angesichts der von Martin Clayton, Trevor Herbert und Richard Middleton herausgegeben kritischen Introduktion The Cultural Study of Music darüber, dass die New Musicology den mit ihr verbundenen Cultural Turn immer noch als Neuheit auszugeben versteht und gegen längst geschichts- und damit auch kulturmächtig gewordene ästhetische Paradigmen anschreibt, die es verdienten, selbst Gegenstand einer ›cultural study of music‹ zu sein. Janina Klassen würdigt Melanie Walds Forschungsbeitrag zu Athanasius Kirchers Musurgia universalis als Versuch, »Schneisen« ins »Dickicht barocker Systemtheorie« zu schlagen. Und Hartmut Fladt freut sich über eine von Dörte Schmidt herausgegebene, »im doppelten Sinn ›große‹ Publikation«, in der die historische Musikwissenschaft ihr Projekt davon fortschreibt, »was Musiktheorie war, ist und sein kann«, freilich – ohne sie selbst zu betreiben.
Stefan Rohringer
Anmerkungen
Der mit der Gründung der ZGMTH verbundenen Zielsetzung, die dem Mangel an eigenen wissenschaftlichen Präsentationsformen geschuldete ›Unsichtbarkeit‹ des Faches Musiktheorie zu überwinden, gilt auch die Initiative der GMTH, Musiktheoretikerinnen und Musiktheoretiker der jüngeren Generation durch einen Aufsatzwettbewerb an den schriftlichen Diskurs heranzuführen. Er wurde dieses Jahr im Vorfeld des Würzburger Jahreskongresses erstmalig ausgerichtet. Interessenten hatten die Möglichkeit, Beiträge zu Claudio Monteverdis Marienvesper, Chopins Mazurken oder einem zeitgenössischen Werk einzureichen. Die Teilnehmer durften nicht älter als 35 Jahre sein und in keinem festen Anstellungsverhältnis als Musiktheoretiker stehen. Die mit Markus Jans, Ariane Jessulat, Oliver Korte, Hubert Moßburger und Michael Polth prominent besetzte Jury vergab einen ersten, zweiten und dritten Preis. Die ZGMTH veröffentlicht die Texte aller drei Preisträger, beginnend mit dem ersten Preis. Jeder der Beiträge durchlief den regulären Lektoratsprozess. |
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