Witold Lutosławski: Grave – Metamorphosen für Cello und Klavier (1981)
Im Spannungsfeld zwischen Moderne und Tradition
Thomas Müller
An Grave – Metamorphosen für Cello und Klavier (1981) läßt sich Lutosławskis spezifischer Umgang mit Reihentechnik beobachten. Der Tonhöhenverlauf des Celloparts wird von einer konsequent durchgeführten Zwölftonreihe bestimmt. Voraussetzung für die zahlreichen Allusionen auf die Tradition in diesem Werk sind die tonalen Implikationen der Reihenstruktur. Auch die rhythmische Entwicklung der Cellostimme ist streng durchorganisiert. Diese steht aber nicht in direkter Abhängigkeit zur Zwölftonreihe, wie dies in der Regel bei seriellen Kompositionen der 50er Jahre üblich ist, sondern wird von der Idee der ›Metamorphose‹ und der damit eng verbundenen formalen Konzeption des Werkes bestimmt. In der Klavierstimme treten im Gegensatz zum Cellopart keine prädeterminierten Strukturen auf. Zwar lassen sich sowohl in Melodik und Harmonik als auch in der rhythmischen Anlage enge Beziehungen zwischen Klavier- und Cellostimme nachweisen, doch verschafft die weniger strenge Konstruktion des Klaviersatzes dem Komponisten Gestaltungsspielräume, die der unmittelbaren Ausdruckskraft dieser Musik zugute kommen.
Grave gehört neben Stücken wie Epitaph für Oboe und Klavier, Partita für Violine und Klavier, Sacher-Variation für Cello solo, Subito für Violine und Klavier, Tarantella für Bariton mit Klavier und anderen zu einer Reihe kammermusikalischer Werke, deren Produktion sich Witold Lutosławski Ende der 70er Jahre verstärkt zuwandte. In diesen Werken, die bereits seinem Spätstil zuzurechnen sind, beschäftigen den Komponisten »dünne Fakturen« (Homma 1996, 99). Hierunter sind Satzanlagen zu verstehen, in denen eine durchsichtige Harmonik durch eine kleine Besetzung verwirklicht wird. Unter den meist kurzen Stücken gehört Grave zu den ausgedehnteren. Welche Bedeutung der Komponist dem Werk beigemessen hat, mag die Tatsache zeigen, daß er den Klavierpart auch für Orchester gesetzt hat (ebd., 98f.).
Lutosławski fügt dem einsätzigen Werk Grave aus dem Jahre 1981 den Untertitel »Metamorphosen für Cello und Klavier« hinzu. Der Haupttitel charakterisiert den ernsten, würdevollen Grundton des Werkes überaus zutreffend, gleichzeitig aber weist der Untertitel auch auf dessen Wandlungsfähigkeit hin. Wenn auch der anfänglich angeschlagene Ton im Verlaufe des Satzes an einigen Stellen nochmals anklingt, so weicht er über weite Strecken durchaus konträren musikalischen Charakteren und kehrt erst gegen Ende des Stückes in der prägnanten Ausprägung des Anfangs wieder. Die Idee der Metamorphose, des allmählichen Übergangs von einer Erscheinungsform in die andere, bestimmt nahezu alle Gestaltungsebenen dieses Werkes. Für die formale Konzeption von Grave ist vor allem die äußerst konsequent durchstrukturierte Cellostimme von Bedeutung.
Bsp. 1 stellt die Organisation der Tonhöhenverläufe des Celloparts dar. Eine Zwölftonreihe und ihre Krebsumkehrung durchlaufen diese in stetem Wechsel. Beide Gestalten werden dabei jeweils um eine Quint aufwärts bzw. deren Komplementärintervall, die Quart, abwärts transponiert. Somit verbinden sich beide zu einer immer wiederkehrenden vierundzwanzigtönigen Folge. Die 13. Transpositionsstufe beschränkt sich auf die ersten drei Töne der Reihe und wird gegen Ende des Stückes bei Ziffer 11 erreicht. Da sie der Ausgangsstufe entspricht, führt dies zur zyklischen Geschlossenheit des Systems. Als konstruktives Intervall dieser Komposition bestimmt die Quint bzw. Quart nicht nur die zyklische Anlage der Reihentranspositionen, sondern prägt sowohl das Verhältnis der beiden zwölftönigen Reihengestalten zueinander als auch die Binnenstruktur der Reihe selbst. Die beiden ersten Dreitongruppen der Reihe sind aus reiner Quart und großer Sekund gebildet. In den beiden zweiten Dreitongruppen werden kleine Sekund und Tritonus kombiniert (vgl. Bsp. 3a). Die Beschränkung auf wenige Intervalle ist nicht untypisch für Lutosławskis Reihen. Wie der Komponist selbst mitteilt, wird hierdurch »ein einheitliches Intervallklima geschaffen« (Homma 1996, 509). Die Transpositionsfolge Original auf d und Krebsumkehrung auf g läßt beide Reihengestalten miteinander zu einer vierundzwanzigtönigen Einheit verschmelzen. Denn die Intervallstruktur der zweiten Hälfte der Originalreihe auf d und die erste Hälfte der Umkehrungskrebsgestalt auf g bilden gemeinsam ein Zwölftonfeld, das aufgrund der dreitönigen isomorphen Binnenglieder sehr homogen gestaltet ist (vgl. Bsp. 3a). Wenn es auch zwischen der zweiten Hälfte der Krebsumkehrung auf g und der Originalform auf a gemeinsame Töne gibt und somit zwischen beiden Teilen kein Zwölftonfeld entsteht, kommt es aufgrund der ähnlichen Intervallkonstellationen zwischen diesen ebenfalls zu einer klanglichen Verschmelzung (vgl. Bsp. 1, die letzten sechs Töne des ersten Systems und die ersten sechs Töne des zweiten Systems). Das Verhältnis zwischen den beiden verwendeten Reihenformen und ihre spezifischen Transpositionsverhältnisse erlauben so im Verlaufe des ganzen Stückes das unmerkliche Hinübergleiten von einer Reihenform in die andere.
Beispiel 1: Witold Lutoslawski, Grave, Übersicht der Transpositionsfolgen von Originalreihe und Krebsumkehrung der Reihe
Auch die rhythmische Konzeption der Cellostimme ist dem Prinzip des unmerklichen Übergangs verpflichtet. Die vom Komponisten in die Partitur eingetragenen Ziffern markieren die verschiedenen Entwicklungsstufen der rhythmischen Metamorphose und verdeutlichen damit gleichzeitig die formale Struktur der Komposition. In Bsp. 2 wird der Mechanismus dargestellt, der die rhythmische Organisation bestimmt. Die zweite Spalte ordnet die verwendeten rhythmischen Werte den einzelnen Zifferabschnitten zu, die in der ersten Spalte angezeigt sind. Dabei wird sichtbar, daß bis zum Ende des Abschnitts IX von Z 8–9 eine sukzessive Verkleinerung der rhythmischen Werte erfolgt. In den beiden letzten Abschnitten von Z 10–11 und 11 bis Schluß findet mit der allmählichen Augmentation der Notenwerte die umgekehrte Entwicklung statt. Jeder zweite Abschnitt von Beginn des Satzes bis Z 10 wird jeweils nur von einem rhythmischen Wert geprägt. Die vorhergehenden Passagen enthalten unterschiedliche Notenwerte, bereiten aber jeweils die nächst schnellere Bewegungsform vor. Beispielsweise treten die Vierteltriolen in Abschnitt III ab Z 2 neben anderen Notenwerten auf. Im folgenden IV. Abschnitt beherrschen sie die Cellostimme allein. Eng verbunden mit diesem rhythmischen Verlauf ist die Erschließung des Tonraums der Cellostimme. Wie Spalte drei zeigt, verlagert sich dieser in den ersten vier Abschnitten von der unteren in die hohe Lage. Vor der Kulmination im X. und XI. sinkt er im IX. Abschnitt deutlich ab, so daß die herausragende Wirkung des anvisierten Spitzentons b2 zu Beginn von Abschnitt XI erhöht wird. Wie der vierten Spalte zu entnehmen ist, fällt mit dem Ton b2 auch der dynamische Höhepunkt des Satzes zusammen.
Beispiel 2: Tabellarische Übersicht über die rhythmische, tonräumliche und dynamische Entwicklung der Cellostimme
Der Vergleich zwischen rhythmischer Anlage und Tonhöhenverlauf zeigt, daß ein Zusammenfallen von einer neuen rhythmischen Bewegungsstufe und dem Beginn eines neuen Reihendurchlaufs vermieden wird. Einerseits wird jeder Abschnittsbeginn so von einer anderen Intervallkonstellation der Reihe geprägt, andererseits wirken die Reihen so gleichsam als Scharnier zwischen den verschiedenen Bewegungsebenen. Beide Gestaltungsebenen verschmelzen zu einem äußerst dynamischen Entwicklungsprozeß. Das unmerkliche Hinübergleiten von einer Reihengestalt in die andere, die sukzessive Erschließung des Tonraums und die Einschaltung von Zwischenstufen in das auskomponierte Accelerando machen die Idee der Metamorphose in der Organisation dieser Parameter evident.
Während sich der Komponist bei der Gestaltung der Cellostimme einem streng angewandten Gesetz unterwirft, läßt der Klavierpart eine sehr viel freiere Arbeitsweise erkennen. Trotz eines dichten Beziehungsgeflechts zwischen Cello- und Klavierstimme ist in letzterem keine konsequent durchgeführte Zwölftonreihe nachzuweisen. Vielmehr sind im Klavierpart Akkorde oder auch Tonfolgen zu finden, die dem Intervallaufbau einzelner Reihensegmente entsprechen. In Bsp. 3b werden Akkorde dargestellt, die sich aus der Reihe bilden lassen. Aus den Segmenten 1 und 2 ergibt sich jeweils ein Quinten- bzw. Quartenakkord. Die beiden Klänge des dreitönigen Segments 1 stehen jeweils im Abstand einer verminderten Quinte zu denen des Segments 2. Im Klavierpart ab Z 9 treten zwei dreitönige Quartenakkordbrechungen auf, die ebenfalls im Abstand einer verminderten Quint zueinander stehen.
Die Ableitung der Akkorde des Klaviers einen Takt nach Z 1 und bei Z 3 aus der Reihe zeigt Bsp. 3c. Der Vergleich zwischen Bsp. 3b und 3c macht überdies deutlich, daß die aus den Reihentönen 7, 8, 9 und 10 gewonnenen Klänge in Bsp. 3c Ähnlichkeiten mit denen aus Bsp. 3b aufweisen. Sehr subtil ist das Zusammenspiel von Reihensegmenten und freien Tonfolgen im 5. Takt nach Z 8 gestaltet. Bsp. 4 deutet die Beziehungen zwischen Cello und Klavier an. Die sequenzartige Struktur der Sechzehntelbewegung im Klavier verwendet als Gerüsttöne die ersten drei Töne der Reihe auf ges. Sie markieren stets den Beginn der neuen Transpositionsstufe einer aus fünf Tönen bestehenden Ganztonfolge. Im Cello erscheinen ebenfalls die ersten drei Töne der Reihe auf f. Sie werden durch die Gerüsttöne des Klaviers im Abstand einer kleinen Sekund nachgezeichnet. Darüber hinaus wird in Bsp. 4 die Bedeutung der Quint für die Konstruktion der Sechzehntelpassage sichtbar. Das von Lutosławski angestrebte einheitliche Intervallklima, das die Melodik des Cellos bestimmt, prägt auch die Melodik und Harmonik des Klaviers zu einem großen Teil. Die hierfür angeführten Beispiele, die sich auf eine geringe Anzahl beschränkt, könnten noch erheblich erweitert werden.
Beispiel 3: Witold Lutoslawski, Grave, Struktur und Harmonik der Reihe
Die rhythmische Anlage der Klavierstimme entspricht weitgehend der der Cellostimme. In den Abschnitten, die im Cello nur von einem rhythmischen Wert geprägt sind, finden sich gelegentlich auch längere Notenwerte im Klavier. Dies trifft vor allem auf den Abschnitt X, ab Z 9, zu. Gegen die fast ununterbrochene Sechzehntelbewegung des Cellos profiliert sich das Klavier hier durch stark akzentuierte, längere Töne. Das Verhältnis der beiden Instrumentalparte erinnert an die Formkonzeption der Passacaglia. Dem ostinat wiederholten Passacaglia-Thema entspricht der Cellopart mit der ständig präsenten Reihe und deren Krebsumkehrung. Das Klavier dagegen übernimmt die Aufgabe, das motivisch-thematische Material frei zu entwickeln und zu variieren.
In der Cellostimme formt Lutosławski aus den ersten drei Reihentönen das vier Töne umfassende Hauptmotiv der Komposition, dessen einzelne Töne durch die Fermaten ein besonderes Gewicht erhalten. Wie in der Eröffnung eines symphonischen Werkes der Romantik scheint hier zu Beginn durch die archaische Kraft des Quintschritts der Rahmen einer D-Tonalität gesetzt zu werden. Diese bleibt jedoch aufgrund der fehlenden Terz geschlechtslos. Die folgenden Takte heben die tonale Wirkung wieder auf. Doch wirkt der ernste, gravitätische Gundton der Eröffnungstakte im folgenden nach. So erinnert die Melodik des Cellos in den Takten 5ff. durch den lombardischen Rhythmus und die Tonwiederholung an ein schweres, mühevolles Voranschreiten. Die erst in T 4 einsetzende Klavierstimme scheint sich nur sehr zögerlich von ihrem ersten, im Kontra-Bereich liegenden Ton lösen zu wollen. Bis Z 1 verharrt sie in tiefer Lage. Erst von Z 1 bis Z 2 eröffnet sie sich nach und nach den oberen Tonraum und geht in eine komplementärrhythmische Viertelbewegung über. Dabei greift die rechte Hand des Klaviers mit den Tönen d, g und dem über das eingefügte gis erreichten a bei Z 2 die ersten drei Töne der Reihe auf, die zu Beginn des Stückes zum markanten Hauptmotiv des Satzes geformt sind.
Beispiel 4: Die Bedeutung der Quint als konstruktives Intervall
Drei Takte vor Z 2 erklingt der Ton es im Cello und der linken Hand des Klaviers. Nicht nur seine Verdopplung, sondern auch die dynamische Hervorhebung sind auffällig. Wenige Takte später bei Z 2 wiederholt sich dieser Vorgang. Der Grund für diese Hervorhebung liegt in der besonderen Funktion dieses Tons im III. Abschnitt (Z 2–3). Vergleichbar dem Grundton einer Tonika wird er hier zum Ausgangspunkt einer Anlage, die dem tonalen Formtyp der Periode sehr nahe kommt. Ab Z 2 erklingt im Cello eine viertaktige Phrase, die in den sich anschließenden Takten bis Z 3 quasi eine paarige Ergänzung erhält. Dem Vordersatz-Nachsatz-Prinzip entsprechend, beginnen beide mit einer sehr ähnlichen Motivstruktur. Der fünf Takte nach Z 2 beginnende Nachsatz erhält aufgrund der Imitation des Kopfmotivs in der rechten Hand des Klaviers eine höhere strukturelle Dichte. Dem Nachsatz der periodischen Satzanlage in Klassik und Romantik wird mit ähnlichen Mitteln ebenfalls häufig ein größeres Gewicht verliehen. Die Quintbeziehung zwischen den beiden Anfangstönen es und b von Vorder- und Nachsatz weist auf einen latenten tonalen Hintergrund. Zur D-Tonalität der Satzeröffnung steht die hier anklingende Tonika Es-Dur in einem neapolitanischen Verhältnis. Der liedhaften Struktur dieses Abschnitts entspricht auch sein weicher, lyrischer Klangcharakter. Das Kopfmotiv des Cellos geht auf die Töne 5, 6, 7 der Reihe auf e zurück. Ihre zwei großen Sekundschritte, die den Rahmen einer großen Terz ausfüllen, verursachen die weiche tonale Wirkung der Passage. In der Cellostimme verliert sich der tonale Eindruck rasch in den sich anschließenden Reihentönen. Das Klavier dagegen greift die vom Cello vorgeformte große Terz auf und wiederholt sie in den folgenden Takten zweimal. Die Verengung zur übermäßigen Sekund g-ais zwei Takte nach Z 2 ist bemerkenswert, da diese sich, enharmonisch zur kleinen Terz g-b verwechselt, mit dem vorher deutlich herausgehobenen Ton es zum Tonikadreiklang Es-Dur ergänzt.
Vom Beginn des Satzes über Abschnitt II bis zu Abschnitt III hat sich der Grave-Charakter allmählich ins Lyrische gewandelt. In Abschnitt IV deutet sich eine abermalige Veränderung an. Die Tonrepetitionen dieses Abschnitts sind bereits in dem vorhergehenden vorbereitet. Sie erhalten aber hier aufgrund der sehr pointierten Rhythmik des Klaviers die Wirkung eines leicht bewegten Scherzandos. Mit den weit in den Tonraum gefächerten Tonfolgen von Klavier und Cello zwei Takte vor Z 4 kündigt sich die arabeskenhafte Satzfaktur des nächsten Abschnitts an. Über die zarten, flautando gespielten Tonrepetitionen des Cellos sind hier in typisch klavieristischer Manier elegant wirkende, weiträumig über die Tastatur hinwegstreichende Klangbrechungen gelegt. Nach wenigen Takten werden diese von dunklen, bedrohlich wirkenden stakkatierten Achtelfolgen abgelöst. Die plötzlich erreichte tiefere Lage und die beunruhigende Rhythmik lassen für wenige Takte die zarten Klänge des Abschnittbeginns vergessen. In der Überlagerung einer fünftönigen Achtelfigur der rechten und einer viertönigen der linken Hand des Klaviers wird hier bereits die polyrhythmische Struktur angedeutet, die für den VI. Abschnitt kennzeichnend ist.
Ab Z 5 spielt das Cello über die von Akzentverschiebungen durchsetzten Achtelbewegungen des Klaviers eine kleingliedrige, nervöse Melodik. Zwischen die Zweiachtelmotive sind gelegentlich Dreiergruppen gestreut, die jedoch stets aus zwei Tönen bestehen. Zu Triolen beschleunigt, treffen diese ab Z 6 auf die noch andauernde Achtelbewegung des Klaviers.
Nach Z 7 formiert sich diese triolische Dreierfigur zu einem immer dichter werdenden Bewegungszug. Dabei reduziert sich die Melodik immer mehr auf eine Wechselnotenbewegung. Drei Takte vor Z 8 wird dieses Bewegungsband gleichsam durchlöchert, so daß die Melodik des Cellos für einen Takt zu einer Tonrepetition erstarrt.
Wie ein Innehalten und tiefes Einatmen vor der letzten großen Kraftanstrengung wirken die kadenzartigen Takte nach Z 8. Der hohe Tonraum ist plötzlich weggebrochen. Aus dem tiefen Klang des Klaviers löst sich eine weiter abwärts stürzende Sechzehntelbewegung und erstarrt wenig später wieder in einem dunklen Akkord. Ein zweites Mal treten Sechzehntel auf: Diesmal aus der Tiefe des Klaviers kommend, schrauben sie sich allmählich empor, werden schließlich vom Cello übernommen und in die hohe Lage geführt. In den folgenden Takten wird die Sechzehntelbewegung immer mehr zum dominierenden Bewegungstyp. Die chromatisch fallenden und steigenden Figuren des Klaviers verursachen den Eindruck höchster dramatischer Zuspitzung. Wenige Takte nach Z 9 verdichtet sich die Cellostimme zu einem ununterbrochenen Sechzehntelband. Ähnlich wie im Steigerungsteil bei Z 7ff. reduziert sich die Melodik auf eine Wechselnotenbewegung. Der in den vorhergehenden Abschnitten mühsam erschlossene obere Tonraum ist nun von neuem, aber in einem sehr viel kleineren Zeitraum zurückerobert und sogar noch ausgeweitet worden.
Im Zenit des Stückes bei Z 10 treten in einer großen, pathetischen Geste die tonalen Eckpfeiler der Komposition übereinandergeschichtet auf. Wie in den ersten und letzten Takten des Werkes hebt der Komponist die bedeutungsvollen Töne mittels Fermaten hervor. Dies sind die Töne b2, es2 und d1 im Cello. Auf die Möglichkeit, die Quinte es-b als erniedrigte zweite Stufe, also als verselbständigten Neapolitaner, zu deuten, ist oben bereits hingewiesen worden. Hier erfolgt nun auch der charakteristische phrygische Sekundschritt es-d. Zusammen mit der Tonfolge b-es im Cello erklingen im Klavier neben dem D-Dur-Akkord die Töne cis, b und im zweiten Takt nach Z 10 nochmals das fis in der rechten Hand. Im Klavierpart ergibt sich dadurch die bitonale Schichtung D-Dur und Fis- bzw. Ges-Dur. Indes erlaubt die Schreibweise des Komponisten auch eine andere Deutung. So lassen sich die Töne cis, das es des Cellos und der Ton b als verkürzter Dominant-(Sept)-Non-Akkord mit tiefalterierter Quint und dem imaginären Grundton a erklären. Mit der Terz d-fis zwischen Cello und Klavier im letzten Takt auf dieser Seite deutet sich sogar eine Auflösung an, deren Wirkung durch das b in der linken Hand des Klaviers stark eingeschränkt bleibt. Trotz offensichtlicher tonaler Implikationen werden durch Übereinanderschichtung verschiedener Kadenzstufen und zusätzlicher, verfremdender Töne eindeutige tonale Verhältnisse vermieden. Somit wird die Pantonalität, die für den konsequenten Gebrauch einer Zwölftonreihe unabdingbar ist, nicht wirklich gefährdet. Denn trotz der tonalen Anspielung werden in der Cellostimme in diesen drei Takten in korrekter Reihenfolge die Töne der Krebsumkehrung der Reihe auf f weitergeführt. Im weiteren Verlauf des X. Abschnitts (nach Z 11) wird in einer breit angelegten Kadenz des Cellos die Spannung des Höhepunkts abgebaut. Von dem Spitzenton b2 sinkt die Melodik im Tonraum abwärts bis vor Z 11 zum E. In den aufwärtsgerichteten Achtelfiguren des letzten Taktes vor dem Epilog, die durch gedehnte Pausen getrennt sind, deutet sich ein letztes Aufbegehren gegen den unaufhaltsamen Abwärtssog an. Mit den in diesem Abschnitt zum ersten Mal auftretenden Quintolen wird in diesem auskomponierten Ritardando ein Mittelwert zwischen den Achteln und Triolen gewählt, die die vorhergehenden Steigerungsphasen geprägt haben.
Das besondere Verhältnis zwischen Original und Krebsumkehrung der Reihe wird nochmals zwischen den letzten Tönen des X. Abschnitts und dem Beginn des Epilogs in der Cellostimme deutlich. So nehmen die letzten drei Quintolenachtel (ein Takt vor Z 11) als Krebsgestalt die Wiederkehr des Hauptmotivs vorweg (vgl. T 1 und den ersten Takt bei Z 11). Wie oben beschrieben, entstammen die drei Quintolenachtel der Reihe als Krebsumkehrung auf c und die ab Z 11 folgenden Halben den ersten drei Tönen der Reihengrundform auf d (vgl. Bsp. 1). Gemeinsam bilden diese sechs Töne ein pentatonisches Feld. Dieses wiederum ist als Ausschnitt einer D-Dur-Tonleiter denkbar. Anders als zu Beginn des Satzes wird die tonale Wirkung des Hauptmotivs im Epilog nicht gleich aufgehoben. Vielmehr breitet sich diese in der Cellostimme durch die Aufwärtssequenzierung über den ganzen Tonraum des Cellos aus. Erst die geheimnisvollen Klänge des Klaviers heben diese wieder auf und binden sie in ein pantonales Feld ein. Im zarten Flageoletton des Cellos entschwebt mit dem Quintton a der D-Tonalität die Musik.
Neben Reihentechnik, konsequenter rhythmischer Durchgestaltung und den tonalen Eckpfeilern des Werkes läßt sich auch eine stringent entwickelte Motivik erkennen, die den inneren Zusammenhalt des Werkes gewährleistet und ebenfalls die Idee der allmählichen Umwandlung realisiert. Wenngleich die Motivverwandtschaften natürlich zu einem großen Teil durch die isomorphen Bestandteile der Reihe vorgegeben sind, erlauben die Rhythmik, die Isolierung einzelner oder mehrerer Reihentöne und deren Anordnung im Tonraum dem Komponisten, sehr prägnante und durchaus unterschiedliche melodische Gestalten herauszuarbeiten. Gemeinsam ist den in Bsp. 5 abgebildeten Motiven die Wiederkehr eines Tons bzw. die Tonwiederholung und mit Ausnahme des 6. Motivs auch die Kontur, die von der pendelartigen Bewegung der Motive bestimmt wird. Durch die allmähliche Reduktion des melodischen Ambitus, die Angleichung der Notendauern und vor allem die immer häufigere Abspaltung einzelner Reihentöne und deren Verdichtung zu einer kontinuierlichen Bewegung wandelt sich die Melodik des Cellos von expressiven, prägnant geformten Kantilenen zu einer unspezifischen Wechselnotenbewegung.
Beispiel 5: Motivmetamorphose
Die Idee der Metamorphose ist in Grave von der Gestaltung der einzelnen Materialschichten über die Entwicklung melodischer Gestalten bis hin zur formalen und dramaturgischen Anlage realisiert. Die konsequent angewandte Reihentechnik, die rhythmische Struktur des Werkes und nicht zuletzt die dynamische Formentfaltung lassen einen für das 20. Jahrhundert typischen Umgang mit dem musikalischen Material erkennen. In einem eigenartigen Spannungsverhältnis dazu stehen die tonalen Anspielungen, die wie die Relikte einer längst vergangenen Zeit wirken. Obgleich Entfaltung und Zusammenhalt der Form durch die stringente rhythmische Entwicklung und die Reihen hinlänglich gewährleistet sind, ziseliert Lutosławski aus dem musikalischen Material tonale Zusammenhänge heraus. In ihrer Folge finden sich auch Anklänge an Formtypen tonaler Provenienz wie die periodische Struktur der Takte ab Z 2. Da weder diese noch die tonalen Anklänge für den großformalen Zusammenhalt eigentlich notwendig sind, scheint sich hinter ihrem Erscheinen ein anderer Grund zu verbergen. Schon der Haupttitel des Werkes Grave, der wie ein Zitat aus der Musikgeschichte wirkt, deutet auf Lutosławskis Absicht der Bildung von Allusionen hin. Die eingangs evozierte D-Tonalität des Cellos wird nicht wirklich zur formbildenden Kraft des Werkes, sondern dient vielmehr dazu, eine ernste, feierliche Grundstimmung zu schaffen, die den musikgeschichtlichen Bedeutungsgehalt der Satzüberschrift ›Grave‹ genau trifft. Obgleich eine Spielanweisung wie ›cantabile‹ über den Takten ab Z 2 fehlt, deutet die Anspielung auf die Tonart Es-Dur und die periodische Struktur dieses Abschnitts auf deren gesanglichen Charakter hin. Nicht nur die tonalen Anspielungen und die daraus resultierenden Formtypen, sondern auch die verschiedenen Instrumentalismen dienen dazu, auf musikalische Topoi der Musikgeschichte anzuspielen. So erinnert die Satzfaktur des Klaviers im Zenit des musikalischen Spannungsbogens bei Z 10 an die virtuose Kadenz eines Klavierkonzerts.
In die äußerst konsequent durchstrukturierte Reihenkonzeption der Cellostimme sind bereits die in der Komposition angedeuteten tonalen Implikationen eingearbeitet. Aufgrund des begrenzten Intervallvorrats und der isomorphen Struktur der Reihe werden Melodik und die latente Harmonik des Cellos immer wieder von charakteristischen Intervall- und Klangkonstellationen geprägt. Bereits Adorno weist mit seiner Bemerkung von der »Unterdrückung des Trieblebens der Klänge« auf die der Dodekaphonik inhärente Gefahr harmonischer Verkümmerung hin (Adorno 1978, 82f.). Indem Lutosławski den Klavierpart zwar an die Cellostimme anlehnt, ihn aber vom Diktat der Reihe freihält, kann dieser harmonisch vollständig ausgehört werden und steht dennoch in enger Beziehung zur Harmonik des Celloparts. Die Töne und Klänge bewegen sich nicht im diffusen Licht harmonischer Unverbindlichkeit, sondern bilden charakteristische Harmonien bzw. Harmoniefolgen und deuten bisweilen tonale Zentren an, ohne deren Zentripetalkraft zu erliegen.
Lutosławski weist sich mit diesem Werk als ein Komponist aus, der trotz der Anwendung avancierter Kompositionstechniken in seiner musikalischen Sprache auch der Idiomatik vergangener Epochen verpflichtet bleibt. Ohne aber nun in einen neoklassizistischen Tonfall zu verfallen und das dodekaphonische Tonsystem mit antiquierten Formtypen zu überfrachten, bleiben die Anleihen an historische Vorbilder stets dezent und gehen über eine Andeutung nicht hinaus. Wie die Steine eines Kaleidoskops reihen sie sich bunt schillernd aneinander und verschmelzen aufgrund der strikt angewandten Metamorphosentechnik zu einer durchaus authentischen Musik.
Literatur
Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt am Main 1978.
Martina Homma: Witold Lutosławski, Köln 1996.
Arnold Schönberg: Harmonielehre, Wien 1922.
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