Editorial
Sucht man in den Abstracts zu den acht vergangenen Jahreskongressen der GMTH nach dem Begriff ›Fuge‹, so erhält man ganze zwei Treffer. Man darf darin wohl ein Symptom für den Bedeutungsverlust der Fuge in Diskurs und Lehre sehen (und zwar unabhängig davon, ob sie als Technik, Gattung oder gar ›Form‹ verstanden wird).
Ein Grund für diese Entwicklung dürfte in dem Bestreben liegen, den aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Kanon musiktheoretischer Lehrgegenstände mit den leitenden Paradigmen Vokalpolyphonie (›Palestrina-Stil‹), Choralsatz (›Bach-Choral‹) und Fuge (›Bach-Fuge‹) zu überwinden. Der ideologische Ballast, mit dem die Fuge befrachtet ist wie kaum ein anderer Gegenstand musiktheoretischer Lehre, macht eine unbefangene Annäherung fast unmöglich. Kaum überbrückbar scheint zudem die Diskrepanz zwischen der Fuge als zum Mythos überhöhtem ›Gipfel der Kompositionskunst‹ und der »Banalität« (Dahlhaus) des üblicherweise gelehrten Regelkanons.
Wenn sich nun eine Doppelausgabe der ZGMTH dem Thema ›Fuge‹ widmet, so ist dies gleichwohl weder ein Anachronismus noch wird damit der schlichten Formel gefolgt, einem ›zu Unrecht vernachlässigten Thema‹ solle nunmehr der ihm gebührende Raum gegeben werden. Die themengebundenen Beiträge dieser Ausgabe entfalten vielmehr jeweils eine dezidierte Kritik etablierter Sichtweisen und eröffnen Perspektiven, die geeignet sind, sich dem Gegenstand gewissermaßen von Neuem zuzuwenden und ihn für die gegenwärtige Lehre zurückzugewinnen.
Wer die eingangs aufgeworfenen Fragen weiter verfolgen möchte, mag die Lektüre mit Jan Phillip Spricks Beitrag zu »Fugenlehrbücher[n] seit 1900« beginnen. Sprick bietet nicht allein eine breite Literaturübersicht, sondern arbeitet auch die verschiedenen Lehrtraditionen und ihre ideologischen Implikationen umfassend auf. Damit sondiert er das Feld, in dem sich die vier Hauptbeiträge zum Thema bewegen.
Diese beziehen sich – unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten – auf Instrumentalwerke und Quellen aus einem Zeitraum von weniger als drei Jahrzehnten (die frühesten der von Heinrich Deppert besprochenen Jugendwerke Bachs dürften nicht vor 1697 entstanden sein; die Niederschrift des Wohltemperierten Klaviers, dem die von Ariane Jeßulat analysierte cis-Moll-Fuge entstammt, datiert von 1722). Wer die Texte übereinander legt, wird bemerken, dass sie einander nicht nur ergänzen, sondern auch wechselseitig kritische Anfragen implizieren.
Den Bezugspunkt Folker Froebes bilden Mauritius Vogts Ausführungen zur Themenfindung in seiner Conclave thesauri magnae artis musicae (1719), die erstmals in einer ausführlich kommentierten Teilübersetzung vorgelegt werden. Ausgehend von Vogts Modellbegriff wird nach dem Verhältnis von Modell (›phantasia‹), Soggetto und fugaler Satztechnik gefragt.
Dieses Verhältnis ist zentral auch für Michael Polths Überlegungen zur »Bedeutung des Fugensoggettos für den musikalischen Zusammenhang«. Dem Diktum, bei der Fuge handle es sich nicht um eine Form, sondern um ein »Ensemble von Techniken« (Dahlhaus), setzt er die Leitfrage entgegen: »Wie kann eine Analyse aussehen, die eine Fuge als Form zeigt, ohne das spezifisch Fugenhafte auszublenden?« Die von Polth in diesem Zusammenhang vorgelegte ›funktionale Analyse‹ der C-Dur-Fuge aus Johann Kaspar Ferdinand Fischers Ariadne Musica lehnt sich eng an das von Bernhard Haas und Veronika Diederen am Beispiel der Bachschen Inventionen vorgestellte Analyseverfahren an, das damit zugleich für ein breiteres Publikum erschlossen wird.
Mit Heinrich Deppert konnte ein Autor gewonnen werden, der zu den Pionieren einer historisch informierten Musiktheorie zählt und in den frühen 70er Jahren als Mitbegründer der Zeitschrift für Musiktheorie ein ähnliches Anliegen verfolgte wie heute die Herausgeber der ZGMTH, nämlich dem musiktheoretischen Diskurs in seiner ganzen Breite ein Medium zu geben. Depperts Beitrag knüpft einerseits an seine 1993 veröffentlichten Untersuchungen zu Kadenz und Clausel bei J.S. Bach an und versteht sich zugleich als das kompositionsgeschichtlich bzw. analytisch ausgerichtete Pendant zu seinen kürzlich erschienenen Studien zum Frühwerk Johann Sebastian Bachs, die auf eine Chronologisierung der frühesten Werke des Komponisten zielen. Hier nun geht es Deppert um eine theoriegeschichtlich kontextualisierte Rekonstruktion jener Regeln und Grundsätze, denen der junge Bach gefolgt sei und die er durch »eigenes Nachdenken« weiterentwickelt und in seinen späteren Werken beibehalten habe.
Ariane Jeßulats Beitrag schließlich steht ganz in der Tradition der insbesondere durch die Schriften Heinrich Poos’ repräsentierten Schule musikalischer Hermeneutik, die derzeit wohl niemand so pointiert vertritt wie sie. Ihre Analyse der cis-Moll-Fuge aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers geht dezidiert auf die satztechnische Verfasstheit und die formale Gliederung des Werkes ein. Jeßulats eigentliches Interesse aber gilt weder einer mehr oder weniger umfassenden merkmalsbezogenen Analyse (wie Deppert sie durch kompositions- und theoriegeschichtliche Befunde zu fundieren anstrebt) noch dem Nachweis einer funktionalen Totalität (wie Polth sie zu erfassen sucht). Vielmehr möchte sie die Erzählstruktur des Werkes durchsichtig machen, indem sie die Geschichte signalhafter, oftmals mikroskopisch kleiner Motive verfolgt und die Differenz zwischen der Erwartung des Hörers und den Diskontinuitäten, ja Brüchen in der Narration herausarbeitet. Die Form des Werkes, so Jeßulat, ereigne sich letztlich als strukturierte Zeiterfahrung im Medium erlernter rhetorischer Denkmuster.
Die Mehrzahl der Beiträge rekurriert auf Satzmodelle bzw. Topoi. In diesem Zusammenhang ist auch die hier vorgelegte Neuedition von Johann Gottfried Vierlings Versuch einer Anleitung zum Präludieren für Ungeübtere zu sehen. Vierlings überwiegend dreistimmige Exempel für die Veränderung »längere[r] Noten in kürzere« – galante Ariosi und nachbarocke Triosätze – offenbaren die kontrapunktischen Wurzeln und imitatorischen Potentiale der präsentierten Generalbassmodelle und spiegeln die ungebrochene kompositionstechnische Bedeutung des Generalbasses im ausgehenden 18. Jahrhundert. Mit zwei Rezensionen schließt sich der Kreis: Martin Eybl und Markus Neuwirth besprechen die einschlägigen Publikationen Ulrich Kaisers (Die Notenbücher der Mozarts als Grundlage der Analyse von W.A. Mozarts Kompositionen 1761–1767) und Robert O. Gjerdingens (Music in the Galant Style). Die vorsichtige Kritik, die beide Rezensenten vortragen, führt vor Augen, dass die Diskussion zum Thema ›Satzmodelle‹ keineswegs an ein Ende gekommen ist.
In der Sparte »Musiktheorie der Gegenwart« erfährt Christoph Hohlfelds melodiezentrierter Ansatz eine fundierte Würdigung. Reinhard Bahr gelingt es das Anliegen seines ehemaligen Lehrers sichtbar zu machen, ausgehend von stilübergreifenden, elementaren melodischen Prinzipien zu einer »von Grund auf neue[n] Musiktheorie« zu gelangen. Ohne dass Bahr dies anspräche, zeigt sich, dass Hohlfelds Konzept, obgleich methodisch ungleich offener, in einer gewissen Nähe zu Aspekten schenkerianischen Denkens steht.
Christoph Hust schließlich bespricht den von Martin Eybl und Evelyn Fink-Mennel herausgegebenen Sammelband Schenker-Traditionen. Eine Wiener Schule der Musiktheorie und ihre internationale Verbreitung, der sich unter anderem den verschiedenen Traditionslinien und ›Schulen‹ der Schenker-Nachfolge widmet.
Folker Froebe
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