Deppert, Heinrich (2008), »Grundsätze zum Studium der Kompositionstechnik in den Fugen von Johann Sebastian Bach. 1. Teil«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 5/2–3, 287–312. https://doi.org/10.31751/304
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/12/2008
zuletzt geändert / last updated: 03/08/2009

Grundsätze zum Studium der Kompositionstechnik in den Fugen von Johann Sebastian Bach

1. Teil

Heinrich Deppert

Im Gegensatz zu Fux’ Gradus ad Parnassum enthält Bachs etwa zur gleichen Zeit entstandenes Wohltemperiertes Klavier keine expliziten Regeln für die Komposition von Fugen. Um einer erkennbar dem jeweils eigenen historischen Ort verpflichteten Interpretation der Bachschen Fuge zu entgehen, schlägt der Verfasser zur Beschreibung der Bachschen Kompositionstechnik ein Verfahren vor, das sich soweit wie möglich an die zuordenbaren Quellen hält. Das betrifft zunächst den verhältnismäßig schmalen Bestand von überlieferten Anweisungen aus der Zeit von Bachs Lernen in Mitteldeutschland, danach Bachs erhaltene erste Fugen aus der Möllerschen Handschrift und der Sammlung der Neumeister-Choräle, die sich auf Grund von Studien des Verfassers verhältnismäßig sicher chronologisch ordnen lassen. Zum Vorschein kommt ein in bestimmtem Rahmen beschreibbarer Begriff von Durchführung. Die Folge solcher Durchführungen ergibt das thematische Gerüst der Fuge. Gegliedert wird sie im Wesentlichen durch die Kadenzen, die analog zur thematischen Anlage oder auch nach Art einer Überformung unabhängig davon gesetzt werden können.

Im zweiten Teil (der in einer der nächsten Ausgaben der ZGMTH erscheinen wird) werden zunächst zur Gewinnung allgemeinerer Aussagen zwei zeitgenössische Darstellungen herangezogen (Mattheson, Marpurg). Danach wird die Entwicklung der Kompositionstechnik Bachs in den themafreien Partien beschrieben. In Analysen zweier Fugen aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers (d-Moll und E-Dur) wird schließlich versucht, die erarbeiteten Grundsätze zur Anwendung zu bringen.

Schlagworte/Keywords: choral fugue; chorale fantasia; Choralfantasie; Choralfuge; Comes; countersubject; Dux; Fuge; fugue; Johann Gottfried Walther; Johann Joseph Fux; Johann Sebastian Bach; Kontrasubjekt; Toccata

Mit dem auf Latein verfassten Lehrbuch Gradus ad parnassum von Johann Joseph Fux (1725)[1] einerseits und der Präludien- und Fugensammlung des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach (1722 und 1740)[2] andererseits besitzt die Disziplin ›Kontrapunkt‹ des Lehrfachs Musiktheorie in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts gewissermaßen einen doppelten Anfangspunkt. Trotz ihrer unterschiedlichen Form haben diese beiden klassischen Quellen vergleichbare Absichten: Beide wenden sich an die »Lehr-begierige Musicalische Jugend«, wie Bach sich ausdrückt[3], beide widmen sich dem gleichen Ziel, der Kompositionstechnik der Fuge.

Die Ausgangspunkte der beiden Klassiker sind allerdings denkbar verschieden. Während Bach eine bis in die damalige Gegenwart reichende breite Tradition fortschreibt, knüpft Fux an längst vergangene Musik an, an die Musik Palestrinas, offenbar aus Unzufriedenheit mit der Musik seiner Zeit. Im Vorwort seines Buches schreibt er über sein Bemühen: »Denn die Arznei wird vor Krancke und nicht vor Gesunde zubereitet.«[4] Mit der Wahl dieser Ausgangspunkte sind die Wirkungsmöglichkeiten weitgehend vorbestimmt: Fux’ Lehre wird eine Grunddisziplin, eine Art Grammatik des reinen Satzes; die Fugenkomposition bis ins 20. Jahrhundert hinein folgt dagegen mehr und mehr bis hin zur Ausschließlichkeit dem Bachschen Vorbild.[5]

Im Gegensatz zum Fuxschen Gradus enthält das Wohltemperierte Klavier keinen Lehrgang. Wer die Sammlung als Lehrbuch benutzen wollte, war stets auf die Stücke selbst verwiesen, denen er die Grundsätze, Vorschriften und Regeln direkt zu entnehmen hatte. Anders als bei Fux wurde durch dieses Verfahren der Lehrgegenstand gewissermaßen lebendig erhalten, indem er immer wieder neu angeeignet, immer wieder neu interpretiert werden musste. Und es mag sein, dass sich so in der Geschichte der Beschäftigung mit den Fugen des Wohltemperierten Klaviers ein guter Teil der Geschichte des musikalischen Denkens der nachfolgenden Zeit widerspiegelt.[6]

Andererseits hat dieses nachhaltige Interesse den Blick der Nachgeborenen auf die Fugen Bachs verändert; denn spätere Interpretationen des Notentextes sind in deren Bewusstsein vielfach zu dessen gewissermaßen selbstverständlichen Bestandteil geworden. Man kann sich bisweilen des Eindrucks nicht erwehren, dass dadurch der Zugang zum Text der Stücke (im Sinne ihres Schöpfers) erschwert, in mancher Hinsicht sogar fast ganz unmöglich gemacht worden ist.

Am nachhaltigsten scheint dieser Vorgang im Bereich der Harmonie und der Harmoniebehandlung wirksam zu sein, in dem schon bald nach Bachs Tode stillschweigend unterstellt wurde, dass er in seiner Musik den Prinzipien der von Rameau ausgehenden späteren Harmonielehre gefolgt ist.[7] Da Bachs Denken erweislich grundsätzlich anders orientiert ist[8], hat diese langlebige Vermutung die Kenntnis und Erkenntnis der Bachschen Kompositionstechnik eher behindert und Anlass zu mancherlei Fehleinschätzungen gegeben.

Ähnliche, wenn auch vielleicht nicht so gravierende Schwierigkeiten gibt es auch in anderen Bereichen, in denen spätere Vorstellungen auf die Fugen Bachs übertragen wurden, insbesondere bei der an der klassischen Instrumentalmusik orientierten Frage nach der ›Form‹ eines Musikstückes, nach der ›Form‹ der Fuge.

Hugo Riemann, der Ende des 19. Jahrhunderts als erster diese Frage umfassend behandelt hat, spricht zwar angesichts der von ihm durchgehend vorgefundenen Dreiteiligkeit der Stücke »nach dem Schema A - B - A« von der »vollständigen Übereinstimmung des Bachschen Fugenbaus mit den Normen aller anderen musikalischen Formgebung«, angesichts der näheren Bestimmung dieses Aufbaus (»grundlegender Teil in der Haupttonart, modulierender Zwischenteil, Schlussteil in der Haupttonart«) wird jedoch alsbald die Analogie zur Anlage des klassischen Sonatenhauptsatzes deutlich (Exposition, Durchführung, Reprise, mit den entsprechenden näheren Bestimmungen).[9]

Etwa 60 Jahre später hat sich das Bild entsprechend der veränderten musikgeschichtlichen Situation gründlich gewandelt. Die im Jahre 1956 erstmals veröffentlichte Darstellung zum ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers von Ludwig Czaczkes bringt eine Behandlung der Frage nach der Form ausschließlich auf thematischer Grundlage. Teile einer Fuge sind demnach grundsätzlich Durchführungen des Themas (einschließlich aller davor, dazwischen oder danach stehenden themafreien Partien), wobei diese Vorstellung so rigoros durchgehalten wird, dass die von Czaczkes ausdrücklich als wichtig anerkannten Kadenzen[10] gegebenenfalls in ihrer Bedeutung keine Berücksichtigung finden.[11]

Beiden Interpretationen liegen erkennbar Eigenschaften der Bachschen Fuge und ihrer Anlage zugrunde. Angesichts der Schwierigkeiten (man darf durchaus auch von Unstimmigkeiten reden) kann man allerdings ins Grübeln kommen, ob denn das Problem nicht in der Fragestellung selbst enthalten ist, ob nicht angesichts der offenbar beabsichtigten Vielfalt von Bachs Fugensammlung der aus anderen Zusammenhängen entnommene Begriff von Form überhaupt angemessen sein kann.

Um solchem interpretierenden (darüber hinaus zumeist auch kaum kontrollierbar zeitgebundenen) Blick auf die Bachsche Fuge möglichst zu entgehen, werden wir versuchen, unser Augenmerk auf den technischen Vorgang des Entstehens der Stücke zu richten. Dieser ist sicher einstweilen noch lange nicht im Einzelnen beschreibbar, geschweige denn rekonstruierbar. Wir können jedoch nach den Voraussetzungen, den Bedingungen dieses Vorgangs fragen, nach den Begriffen, die in ihm wirksam werden. Wir schlagen daher ein uns geeignet erscheinendes Verfahren vor, diesen Fragen zum Entstehungsvorgang der Bachschen Fuge so nahe wie möglich zu kommen. Wir werden der Reihe nach die folgenden Themenkomplexe abhandeln:

  1. Die Lehre der Fuge in den musiktheoretischen Quellen am Ende des 17. Jahrhunderts,

  2. Bachs früheste Fugenkompositionen (aus der Sammlung der sogenannten Neumeister-Choräle und der Möllerschen Handschrift),

  3. die zeitgenössischen Quellen zur Kompositionstechnik der Fuge (Mattheson, Marpurg),

  4. Bachs Satztechnik in den themafreien Partien (den sogenannten Zwischenspielen).

Im Anschluss daran werden wir versuchen, die so gewonnenen Grundsätze an zwei Beispielen aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers zu erproben (E-Dur und d-Moll).

* * *

Unter allen musikalischen Gattungen des 17. Jahrhunderts ist die ›Fuge‹ die einzige, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit in den musiktheoretischen Quellen der Zeit vorkommt (die ja zumeist als Lehrschriften zur Komposition verfasst wurden). Unter der Überschrift »de Fugis« werden alle Arten der Nachahmung abgehandelt, wobei ausgehend von Unterscheidung zwischen ›Fuga totalis‹ und ›Fuga partialis‹[12] am Ende drei unterscheidbare Arten der ›Fuge‹ sich herauskristallisieren, Kanon, Fuge (im späteren Sinn) und Imitation.[13]

Gleichwohl lassen sich daraus nicht allzu viele Informationen über die spätere Fuge entnehmen. Denn das Hauptgewicht der Lehre richtet sich auf die Frage nach der korrekten Themenform und ihrer korrekten Beantwortung, der später sogenannten ›tonalen Beantwortung‹, und dies verständlicherweise auf dem Boden der traditionellen Lehre von den Modi.[14] In der Bachschen Fuge erscheint diese bereits als ein schulmeisterliches Element, auch wenn beständig daran festgehalten wird; denn das Verhältnis zwischen Dux und Comes wird nicht mehr innerhalb der Stufen eines Modus bestimmt, es richtet sich nunmehr nach dem Transpositionsverhältnis zwischen den beiden dem Dux und dem Comes zugrunde liegenden Tonarten (Tonart der I. Stufe und Tonart der V. Stufe).[15]

Interessanter sind für unser Thema daher die eher am Rande überlieferten Aussagen und Anweisungen über Themenform, Themenverarbeitung, Anlage der Fuge und andere technische Details. Wir werden uns aus verschiedenen Gründen an die Bemerkungen in den Praecepta der musicalischen Composition aus dem Jahre 1708 von Johann Gottfried Walther halten, deren Herkunft zwar kaum eindeutig zu klären ist[16], die gleichwohl jedoch zeitlich, räumlich und wohl auch inhaltlich der Bachschen Fugenkomposition recht nahestehen.[17] Sie geben vielleicht ein wenig so etwas wie eine ›communis opinio‹ im thüringischen Mitteldeutschland am Beginn des 18. Jahrhunderts wieder.

Walther hält sich, was den Beginn des Themas der Fuge angeht, ans Überkommene, es solle »in dem principal clave […] oder in derselben Quinte« beginnen. Er verlangt jedoch vom Thema, dass es »ein gewißer Satz« sei, den man »tractiren und abhandeln« will.[18] Damit ist bestimmt, dass das Thema mit einer Kadenz, einer Klausel abgeschlossen sein soll; denn die Kadenzen entsprechen nach damaliger Meinung den Inzisionen innerhalb des Satzbaus der Rede.[19] Für die weiteren Einsätze lässt Walther neben der üblichen Folge (Dux - Comes - Dux - Comes) auch die Möglichkeit zu, das Thema direkt nacheinander »in einem Thone« zu bringen, was dann zu der damals in Mitteldeutschland durchaus gebräuchlichen Folge Dux - Comes - Comes - Dux führen kann.[20]

Die nächste interessante Regel bezieht sich auf die Anlage eines ganzen Fugenteils, wohl des Anfangsteils einer längeren Fuge. Für den Fall, dass »die Fuge lang seyn soll«, soll man die »Stimmen so lange unter einander verwechseln«, also vertauschen, bis jede Stimme »so wohl den Ducem als Comitem« gehabt hat.[21] Das ergibt eine Teilfuge mit insgesamt acht Einsätzen, wobei in jeder der vier Stimmen beide Themenformen zu stehen kommen. Auch dafür findet man hinreichend Belege im damaligen Mitteldeutschland. (Bach selbst scheint allerdings kein besonderes Faible für diese doch recht schulmeisterliche Anlage gehabt zu haben.[22]) Walther nennt als Erweiterung des ausschließlich durch die beiden Themenformen Dux und Comes bestimmten ziemlich engen Rahmens die Möglichkeit, »das Thema auch in einem anderen Thone« anzubringen. Allerdings müsse »solcher Thon dem Modo nicht zu wieder seyn« und vor dem Ende der Fuge »in den vorigen sich wenden«, also zur Haupttonart zurückkehren.[23] Hier wird eindeutig von Dur- und Moll-Tonarten geredet. ›Thonus‹ ist einer jener Decknamen, die sich in den deutschen Quellen nach 1700 dafür finden; denn ›Modus‹ traute man sich damals offenbar noch nicht dazu zu sagen.[24] Auch die daran anschließenden Bemerkungen haben eine Erweiterung der Fugen-Anlage zum Ziel. Ebenso wie man ein Thema in einem anderen Ton anbringen könne, sei es auch erlaubt »fremde Cadenzen, jedoch mit discretion« zu gebrauchen, über alle »billig und führnehmlich« zu brauchenden »ordinair-Cadenzen« hinaus.[25] Die hier in Beziehung gesetzten Begriffe sind hinsichtlich ihres Gebrauchs allerdings insofern nicht ganz deckungsgleich, als der »andere Thon« sich auf das Aussparen der dem Dux und dem Comes zugeordneten I. und V. Stufe der Tonart bezieht, die »fremde Cadenz« dagegen nicht auf den Stufen der »ordinair-Cadenzen«, den Stufen I, III und V, gemacht werden darf. Es könnte also sein, dass ein Einsatz des Themas im ›fremden Thon‹ der III. Stufe zu einer ›ordinair-Cadenz‹ auf der III. Stufe führt.[26] Zwar lässt sich nicht genau abschätzen, was hier unter einem »anderen Thon«, der »dem Modo nicht zu wieder« ist, letztlich verstanden wird, im Zusammenhang mit den möglichen Kadenzierungen könnte man schon darauf raten, dass damit – wie später üblich – neben den drei Hauptkadenzen jene drei weiteren Stufen der Dur- oder Molltonleiter gemeint sind, die per se einen Dur- oder Molldreiklang über sich haben.[27] Die letzte Bemerkung Walthers zur Anlage einer Fuge bezieht sich auf den Schlussteil, in dem »das thema so viel möglich dichte unter ein einander« zu bringen, eng zu führen sei, wie wir heute sagen würden. (»Finis coronat opus.«)[28]

Darüber hinaus enthalten Walthers Bemerkungen allerlei Nützliches zur Satztechnik der Fuge: Man solle die zum Thema gesetzten Stimmen variieren, so oft das Thema vorkommt; vor dem neuerlichen Einsatz des Themas solle stets eine Pause gemacht werden, damit der Unterschied zwischen der thematischen und den übrigen Stimmen zu merken sei; wenn in der Mitte der Fuge die Zahl der Stimmen auf zwei oder drei reduziert wird, müsse man – so Walther wörtlich – »die zierlichsten und reinesten Gänge adhibieren«.[29] Wenn man auch nicht genau wissen kann, was damit im Einzelnen gemeint ist, geht doch aus dieser und anderen Bemerkungen klar hervor, dass sich Walthers Darstellung immer auf die vierstimmige Fuge bezieht. Wir haben darin wohl durchaus eine Norm in der damaligen Zeit in Mitteldeutschland zu sehen.

* * *

In einem Brief an den Bach-Biographen Johann Nikolaus Forkel hat der Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel – wohl auf eine nicht überlieferte entsprechende Frage hin – über seinen Vater geschrieben: »Blos eigenes Nachdenken hat ihn schon in seiner Jugend zum reinen und starken Fugisten gemacht.«[30] Im Zusammenhang mit der sich anschließenden Ergänzung, Bachs (vorher genannte) Vorbilder seien »alle starcke Fugisten« gewesen, wird hier der Eindruck erweckt, Bach habe sich auf diesem Gebiet ganz ohne Unterweisung gebildet. Selbst wenn man die etwas abfällige Bemerkung in Rechnung stellt, der Unterricht in Ohrdruf bei seinem Bruder möge »wohl einen Organisten zum Vorwurf gehabt haben u. weiter nichts«[31], ist das so ganz sicher unrichtig. Aus der erhaltenen Dokumentation dieses Unterrichts in den sogenannten Neumeister-Chorälen geht eindeutig hervor, dass zum mindesten die Komposition von Choralfugen zur Ausbildung eines Organisten gehört hat.[32] Wenn wir also dem ›blos eigenen Nachdenken‹ des jungen Bachs nachgehen wollen, werden wir uns mit Geduld der erhaltenen Zeugnisse aus dieser Zeit anzunehmen haben.

Die ältesten Fugen Bachs finden sich in zwei Konvoluten, die sich auf Grund ihrer Überlieferung und ihres Inhalts zeitlich recht sicher bestimmen lassen. Es sind dies die sogenannte Möllersche Handschrift, die im wesentlichen von Bachs Bruder Johann Christoph in Ohrdruf geschrieben worden ist, und die Sammlung der Neumeister-Choräle, bei der es sich um eine Abschrift von Bachs Ohrdrufer Choralbuch handelt, das Bach sich während des Unterrichtes bei seinem Bruder angelegt und anschließend in Lüneburg noch eine Zeit lang fortgeführt hatte.[33]

Praeludium und Fuge in A (BWV 896)

Dank der Aufmerksamkeit von Bachs Bruder sind die frühesten Kompositionen in der Möllerschen Handschrift erhalten. Dieser hat die aus Bachs Zeit vor seinem Weggang nach Lüneburg stammenden Stücke – wohl bereits aus einer Art Pietät – neben den aus Arnstadt herübergebrachten in die Handschrift eingetragen und sie damit für die Nachwelt bewahrt. Unter diesen Stücken ist das wohl älteste tatsächlich eine Fuge (mit einem kurzen Präludium), »Praeludium ex A#« (BWV 896).[34] Das wie alle frühen Fugen Bachs vierstimmige Stück ist in sich merkwürdig widersprüchlich. Zum einen ist das Stück sehr lang (86 Takte mit 22 Themeneinsätzen), so dass man es kaum für Bachs ersten Versuch halten möchte, zum anderen strotzt es geradezu von einer in ihrer Naivität durchaus anrührenden satztechnischen Unbeholfenheit, so dass es kaum als Produkt einer geregelten Unterweisung anzusehen ist.[35] Zum dritten wird in der Anlage des Stücks von den damaligen Möglichkeiten der Fugenkomposition so umfassend Gebrauch gemacht (wenn man vom Fehlen eines Kontrasubjekts einmal absieht) wie in keiner anderen erhaltenen Fuge des Bachschen Frühwerks.[36]

Wir geben im Folgenden eine Übersicht über die thematische Anlage des Stücks.

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Abbildung 1: Themendurchführungen in BWV 896/2

Die Themenformen (D = Dux, C = Comes, U = Umkehrung) sind in den vier übereinander zu lesenden Stimmen in der Reihenfolge ihres Auftretens von links nach rechts eingetragen; Transpositionen und Umkehrungen sind jeweils durch ihren Schlusston bezeichnet, der inkorrekte Comes am Anfang durch ein + , Engführungen sind jeweils unterhalb des Gesamtsystems durch eine Klammer kenntlich gemacht, die direkt übereinander stehenden Einsätze von Ua und D in der V. Themendurchführung durch eine Doppelklammer. Die römischen Ziffern oberhalb des Systems geben die Nummern der Themendurchführungen an. Die römischen Ziffern unterhalb des Systems sind Stufenbezeichnungen für die Kadenzpunkte; die jeweils stärksten Kadenzen sind eingekreist, ausgeflohene Kadenzen eingeklammert.

Wie sich direkt ablesen lässt, umfasst jede der fünf Themendurchführungen jeweils vier Einsätze, mit Ausnahme der ersten und der letzten, denen jeweils ein überzähliger Einsatz angefügt ist. Mit Ausnahme der dritten Durchführung, in der der Tenor zweimal drankommt, ist innerhalb der Durchführungen jede Stimme jeweils mit einem Einsatz bedacht. Besonders bemerkenswert ist die offenbar sehr planvolle Anlage hinsichtlich der Gestaltung und der Aufeinanderfolge der Durchführungen. Nach einer ersten ziemlich regelmäßigen folgt eine zweite, die Comes und Dux paarweise dichter aufeinander folgen lässt, also engführt. Die dritte Themendurchführung bringt den von Walther empfohlenen Einsatz in einem »anderen Thon«, hier als transponiertes Quasi-Paar (Dux auf e, Comes auf h); auch die angeratene Rückkehr zum Hauptton wird alsbald mit den Einsätzen von Dux und Comes vollzogen. Die vierte Durchführung beginnt als ›Fuga contraria‹, die Folgestimme imitiert die Vorangehende enggeführt in Umkehrung (D im Bass, Ue im Sopran, leicht geändert wegen des drohenden Satzfehlers).[37] Immerhin ist damit die Umkehrung des Themas gewissermaßen vorschriftsmäßig eingeführt, bevor sie dann – jetzt ohne die Änderung – in den beiden verbleibenden Stimmen im Quintverhältnis durchgeführt wird. Die fünfte Themendurchführung, die nach einer ausgeflohenen Kadenz zur V. Stufe mit dem Einsatz der Umkehrung im Sopran (nach stattgehabter Pause) überaus deutlich und auffällig beginnt, markiert – wohl auch für den jungen Bach – so etwas wie den Höhepunkt der Fuge, denn hier werden der Dux im Tenor und die Umkehrung des Comes im Sopran gleichzeitig gebracht (Beispiel 1). Das Thema muss wohl für diesen Zweck entsprechend entworfen worden sein! Anschließend wird in Alt und Bass die Umkehrung nochmals im Quintverhältnis in Engführung gesetzt, bevor das Stück mit einem Dux-Einsatz im Alt seinen Abschluss findet. Die wenigen Kadenzen tragen zur Gliederung noch kaum etwas bei; sie dienen in erster Linie zur Festlegung und zur Bestätigung der Tonart am Anfang und am Ende des Stücks.

Obgleich Bachs erste Fuge noch eindeutig ganz in der transponierten jonischen Tonart auf A steht (ohne Bezug zu anderen Dur- oder Moll-Tonarten)[38], hält sich der Komponist darin erkennbar in vielen Punkten an die in Walthers Praecepta gegebenen Empfehlungen. In einigen Punkten werden diese allerdings ergänzt und erweitert und wohl auch inhaltlich in ihrer Bedeutung fortgeschrieben.

  1. Größere Anzahl und sicherere Abgrenzbarkeit der Themendurchführungen (stets mit durchgehaltener Quintbeziehung der Einsätze),

  2. Gebrauch von Engführungen (auch außerhalb des Schlussteils) zur Differenzierung der Durchführungen gegeneinander,

  3. Einführung und Gebrauch einer anderen Themenform (Umkehrung).

Dabei erscheint uns die Differenzierung von Durchführungen gegeneinander durch satztechnische Maßnahmen (Engführung, andere Themenform) als ein neues in den Waltherschen Empfehlungen nicht enthaltenes Element.

Da keinerlei Vorlage für das Stück bekannt ist, können wir Bachs eigenen Anteil daran, sozusagen das Produkt des ›eigenen Nachdenkens‹, hier kaum bestimmen. Am ehesten ließe derartiges sich noch auf den gleichzeitigen Einsatz von Thema und Umkehrung in Takt 56 beziehen, der wohl als Unikum in der damaligen Fugenlandschaft zu gelten hat.[39]Wir geben die Stelle als Beispiel, gleichsam als eine Art richtungsweisendes Zeichen für Bachs weitere Arbeit. (Er war damals wohl so um die 12 oder 13 Jahre alt.)

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Beispiel 1: Johann Sebastian Bach, Praeludium ex A# (BWV 896/2), T. 56–59

Wie bereits angedeutet stehen die nächsten frühen Fugen Bachs in der Sammlung der sogenannten Neumeister-Choräle. Es handelt sich dabei um Choralfugen, also Fugen über die jeweils erste Zeile eines Chorals. Da diese innerhalb eines regelrechten Lehrgangs entstanden sind, haben wir hier eher die Möglichkeit, über Bachs Verhältnis zu den überlieferten Vorstellungen bzw. seinen Umgang mit ihnen Auskunft zu erhalten, also der Frage nach Bachs ›eigenem Nachdenken‹ näher zu kommen.[40] Aus den vom Schüler abzuschreibenden (erhaltenen) Vorlagen und den sich daran anschließenden Vorgängen ergeben sich – wenn auch zunächst hypothetisch – mancherlei zuweilen recht genaue Antworten zu dieser Frage.

Choralfuge »Christe, der du bist Tag und Licht« (BWV 1096)

Wie von einem guten Pädagogen zu erwarten, hatte Bachs Bruder zunächst ein Beispiel zum Abschreiben gegeben, das als nicht so ganz fertig vom Schüler zu ergänzen war. Es war dies eine Fuge seines einstigen Lehrers Johann Pachelbel über die erste Zeile des Chorals »Christe, der du bist Tag und Licht« oder »Wir danken dir, Herr Jesu Christ«, in deren zweiter Durchführung nur drei Einsätze standen, der vierte also fehlte und – so können wir es jedenfalls vermuten – noch nachzutragen war. Wir geben wiederum eine schematische Darstellung der thematischen Anlage des Stücks. (Der nachgetragene Comes-Einsatz im Tenor ist in der Darstellung enthalten.)

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Abbildung 2: Themendurchführungen in BWV 1096

Das Fragezeichen bei der ausgeflohenen Kadenz zur I. Stufe bezieht sich auf den Satzfehler, der entsteht, wenn das Ausfliehen unterbleibt.

Dieser Vorgang hat insofern noch etwas Besonderes, als durch die Ergänzung nun jene Fugenanlage entsteht, die Walther für die Anlage des Anfangsteils einer Fuge empfiehlt (»bevorab wenn die Fuga lang seyn soll«): Jede Stimme hat in den beiden Durchführungen zwei Einsätze, abwechselnd einmal den Dux und einmal den Comes (bzw. umgekehrt). Allem Anschein nach hat Johann Christoph diese Anlage seinem Bruder sogar besonders ans Herz gelegt. Unter den von beider Onkel Johann Michael Bach stammenden fünf Musterfugen, die Johann Christoph seinem Bruder zum Abschreiben (und wohl auch zum Nacharbeiten) gegeben hat, sind immerhin noch drei, die exakt dieselbe Anordnung der acht Themeneinsätze aufweisen, sowie eine weitere, die nur geringfügig davon abweicht.[41] Bach selbst hat in den von ihm geschriebenen Choralfugen in diesem Lehrgang kein einziges Mal von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.

Choralfuge »Wir glauben all an einen Gott« (BWV 1098)

Die erste eigenständige Choralfuge Bachs in den Neumeister-Chorälen, »Wir glauben all an einen Gott« (BWV 1098), ist dagegen wohl kaum auf Grund eines planvollen pädagogischen Konzepts zu Stande gekommen. Sie scheint von dem Missverständnis Bachs ihren Ausgang genommen zu haben, es könne eine Art von Choralvorspiel geben, in dem die erste und die zweite Zeile des Chorals nacheinander auf Fugenart durchgeführt werden (BWV 719, Bachs erster Eintrag in die Sammlung). Dem Stück geht nämlich die wohl von Pachelbel stammende Choralfuge »Christ lag in Todesbanden« (BWV 718) voraus, in der die zweite Choralzeile einmal recht deutlich themenartig im Sopran zitiert wird (T. 38–42). Dieses Verfahren des Zitierens der zweiten Choralzeile ist nun das eigentlich Besondere an Bachs Choralfuge »Wir glauben all an einen Gott«.

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Abbildung 3: Themendurchführungen in BWV 1098

Das Stück ist deutlich in zwei Teile gegliedert (mit einem Anhang, der durch die dort in der Begleitung gebrauchte durchgehende Achtelbewegung absichtsvoll vom übrigen getrennt ist). Anders als in der Pachelbel-Fuge, die als Muster gedient haben mag, ist die dort durchaus vorgeprägte Zweiteiligkeit hier eindeutig durch die Mittel der thematischen Anlage erreicht. Auf eine erste Durchführung mit vier regelmäßigen Dux-Comes-Einsätzen und dem zusätzlichen Sopran-Einsatz mit dem Zitat der zweiten Choralzeile folgt eine zweite mit vier Einsätzen, die ausschließlich Themenformen des Dux enthält (mitsamt dem nun auf der ersten Stufe stehenden Choralzitat im Sopran). Dazuhin werden die beiden ersten Einsätze im Tenor und Alt dichter aneinander gebracht, also enggeführt. Die beiden Teile werden getrennt durch eine relativ schwache ›plagalisierende‹ Kadenz zur V. Stufe und die direkt danach stattfindende Reduktion des Satzes auf die beiden Mittelstimmen. Zugleich werden sie jedoch dadurch verbunden, dass der Tenor mit dem Dux innerhalb der Kadenz einsetzt (T. 27) und die einschnittverursachende Wirkung der Kadenz (und der Stimmenreduktion) wenigstens teilweise wieder aufhebt oder mindert.[42]

Wie sich zeigt, sind die beiden Durchführungen durch thematische und satztechnische Mittel gegeneinander differenziert. Gegenüber der ersten Fuge (BWV 896) ist allerdings das starre Festhalten am Prinzip der Quintbeantwortung außerhalb der ersten Durchführung aufgegeben.

Choralfuge »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« (BWV 1103)

Mit der nächsten Choralfuge, die nun innerhalb des Lehrgangs zu schreiben war, hat sich Bach weniger Mühe machen müssen. Unter den drei zur Abschrift gegebenen Beispielen, wohl alle von seinem Onkel Johann Michael Bach, hat er sich allerdings dasjenige als Muster herausgesucht, das sich am weitesten von der üblichen Norm entfernt, die Choralfuge »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ«[43], deren thematische Anlage er in seiner Fuge in allen Einzelheiten übernommen hat.

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Abbildung 4: Themendurchführungen in BWV 1103, »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort«

Bach mag sich aus zwei Gründen für gerade diese Fugenanlage interessiert haben. Einerseits kommt in der thematischen Disposition der bei Walther genannte Fall vor, dass das Thema »manchmahl in einem Thone zweymahl immediate auf einander angebracht« wird, was hier zu der Einsatzfolge Dux - Comes - Comes - Dux führt, die sich in der zweiten Durchführung wiederholt. Zum anderen werden in der zweiten Durchführung die vier Einsätze auf lediglich zwei Stimmen verteilt, und dies auch noch sehr ungleich (Sopran: ein Einsatz, Bass: drei Einsätze), so dass im Bass – aufs Ganze gesehen – die Einsätze Comes - Dux - Comes - Dux zu stehen kommen. Diese werden dazuhin als regelrechte Wiederholungen in der gleichen Lage gebracht, was der zur Erreichung einer möglichst großen Abwechslung von Bachs Bruder empfohlenen Themenanlage deutlich widerspricht. Der Komponist muss sich mithin in anderen Bereichen um die geforderte Varietas bemühen, insbesondere bei der Ausarbeitung der anderen Stimmen, damit diese – wie es bei Walther heißt – »nicht eben diejenige modulation haben mögen, welche sie vorhero bey tractierung des thematis gehabt«.[44]

Die Kadenzen des (wie die Vorlage) in g-dorisch stehenden Stücks sind – abgesehen von der Finalkadenz – so gesetzt, dass jeweils am Ende des zweiten von zwei Comes- respektive Dux-Einsätzen eine Kadenz zur V. respektive zur I. Stufe zu stehen kommt. Diese Kadenzen sind zwar in ihrer einschnittverursachenden Wirkung durch die (fast immer) sich unmittelbar anschließende Achtelbewegung im Bass abgeschwächt (das gilt noch mehr für die ausgeflohene Kadenz zur IV. Stufe in der Mitte des Stücks, Takt 15), dennoch legen sie gleichsam eine Art übergeordneter Gliederung über das sonst von seiner thematischen Anlage her streng zweiteilige Stück. Man wird sich daran zu halten haben, wenn man nach einem Beleg für Bachs ›eigenes Nachdenken‹ sucht, da Bach bei seinen Nacharbeiten genau hier von der gegebenen Vorlage abgewichen ist.

Choralfantasie »Nun laßt uns den Leib begraben« (BWV 1111)

Das letzte Beispiel aus der Sammlung der Neumeister-Choräle, das für unsere Fragestellung von Belang ist, stammt bereits aus Bachs Lüneburger Zeit. Es ist dies die erste Zeilenfuge der Choralfantasie »Nun laßt uns den Leib begraben« (BWV 1111), in der sich Bach, wie sich auf Grund einer ganzen Anzahl von Hinweisen vermuten lässt, an Georg Böhms Choralfantasie »Christ lag in Todesbanden« orientiert hat.[45] In beiden Stücken ist die erste Zeilenfuge die längste der drei Zeilendurchführungen, bei Bach sogar die einzige, die sich mit seinen anderen Choralfugen vergleichen lässt. Dennoch unterscheiden sie sich ziemlich grundlegend. In Böhms Fuge herrscht in der Folge der Einsätze eine feine Ordnung in den drei Themendurchführungen. Innerhalb der einzelnen Stimmen ist genau darauf geachtet, dass sich Dux und Comes jeweils abwechseln (vgl. dazu BWV 1096/1), so dass es nur zwei Anordnungen der Themen für je zwei Stimmenpaare gibt; entweder heißt die Folge Dux - Comes - Dux (Alt und Bass) oder Comes - Dux - Comes (Sopran und Tenor).

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Abbildung 5: Themendurchführungen in Georg Böhm, »Christ lag in Todesbanden«, erste Zeilenfuge

Man beachte in Abb. 5 die durch die Hauptkadenzen auf den Stufen I und V bewirkte Gliederung, die der thematischen Anlage überlagert ist.

Bei Bach dagegen wiederholt sich in den zwei Durchführungen seiner Fuge jeweils genau die Einsatzfolge Tenor/Dux - Alt/Comes - Sopran/Dux - Bass/Comes; auf eine differenzierte Verteilung der Einsätze auf die Stimmen ist also verzichtet.

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Abbildung 6: Themendurchführungen in BWV 1111, »Nun laßt uns den Leib begraben«, erste Zeilenfuge

Die geforderte und zu erreichende Variabilität des Satzes muss also durch andere Mittel bewirkt werden. Und diese absichtsvolle Änderung – weg von einer vielleicht nur auf dem Papier wirksamen Differenzierung, hin zu einer satztechnisch bewirkten – erscheint uns als eine Fortsetzung der in den vorangegangenen Choralfugen beobachteten Tendenzen, auch wenn das Stück wegen des hier erstmals gebrauchten Kontrasubjekts nur mit Einschränkungen vergleichbar ist.

Im weiteren Verlauf unserer Erhebungen zur Entwicklung der Bachschen Fugentechnik haben wir nun zunächst eine größere Lücke hinzunehmen, da sich die ausschließlich einzeln überlieferte Kompositionen aus Ohrdruf (?), Lüneburg und jener örtlich kaum benennbaren nach Weimar führenden Zwischenzeit vor Beginn der Arnstädter Jahre bisher nicht mit der für unsere Zwecke erforderten Zuverlässigkeit chronologisch ordnen lassen. Diese Situation bessert sich von dem Zeitpunkt an, da Bach von Arnstadt aus seine – man darf wohl annehmen – neuesten Kompositionen in das im weiteren Sinne in der Nachbarschaft liegende Ohrdruf hinträgt, wo sie von seinem Bruder abgeschrieben und später (neben zahlreichen anderen wohl auf eben demselben Weg nach Ohrdruf gelangten Werken) in einer eigenen Handschrift zusammengefasst werden, der sogenannten Möllerschen Handschrift.[46] Diese Kompositionen nun lassen sich vor allem auf Grund von Merkmalen, die den damals für Bach noch verhältnismäßig neuen Gebrauch von Dur- und Moll-Tonarten betreffen, mit einer gewissen Zuverlässigkeit chronologisch ordnen, so dass wir unsere Untersuchungen an dieser Stelle fortsetzen können.[47] Da es keine eindeutig zuordenbaren Vorlagen für diese Kompositionen des nunmehr etwa 18- bis 20-jährigen mehr gibt, wird man die Ergebnisse seines ›eigenen Nachdenkens‹ direkt in den Zuständlichkeiten und Veränderungen der Werke aufzusuchen haben.

Capriccio sopra il lontananza da il Fratro dilettissimo (BWV 992)

Das berühmte »Capriccio sopra il lontananza da il Fratro dilettissimo« ist wahrscheinlich die älteste dieser Kompositionen. Das sich wohl auf die Abreise von Bachs Bruder Johann Jacob in schwedische Dienste im Jahre 1704 beziehende Stück[48] enthält zwei Fugen (Nr. 2 und Nr. 6), von denen die erste auf Grund ihrer programmatischen Bestimmung kaum für unsere Fragestellung herangezogen werden kann. Die zweite dagegen, »Fuga all’imitatione di Posta«, schließt sich mit ihren zwei vollständigen Themendurchführungen recht deutlich den von uns bisher beobachteten Anlagen an, auch wenn hier nun (erstmals in einer ganzen Fuge) ein beibehaltenes Kontrasubjekt zu sehen ist.[49]

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Abbildung 7: Themendurchführungen in BWV 992/6, »Fuga all’ imitatione di Posta«

In der ersten Themendurchführung mit vier regelmäßig auf die Stimmen verteilten Einsätzen nimmt Bach wiederum die bei Walther erwähnte Möglichkeit wahr, das Thema nacheinander »in einem Thone« zu bringen (anders als in der Choralfuge »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« BWV 1003 folgen hier in der zweiten Hälfte zwei Dux-Einsätze aufeinander). In der zweiten Themendurchführung mit ebenfalls vier Einsätzen, diesmal in unregelmäßiger Folge (Alt - Tenor - Bass - Bass, verbunden mit einer eher regelmäßig erscheinenden Anordnung der jeweils dazu gesetzten Kontrasubjekte), stellen sich diese Verhältnisse genau umgekehrt dar: Auf einen Comes-Einsatz im Alt und einen Dux-Einsatz im Tenor folgen die beiden erwähnten Comes-Einsätze (im gleichen Ton) im Bass, die allerdings durch die unterschiedliche Oktavlage voneinander getrennt sind. Angehängt ist noch ein weiterer Teil mit einem unvollständigen, nach d, zur dritten Stufe transponierten Comes-Einsatz, der in sich variiert und nicht ordnungsgemäß abgeschlossen ist und dem überdies das sonst stets beibehaltene Kontrasubjekt fehlt. Der Teil, in dem kurz vor Schluss im Bass und Sopran nochmals die Themenköpfe von Comes und Dux in Engführung zitiert werden, hat wohl abschließende Funktion, ist wohl als eine Art Coda zu verstehen.

Die Hauptkadenzen – ganz nach der damaligen Regel zur V., III. und I. Stufe – gliedern die Fuge in die genannten Teile (zwei Durchführungen und Coda). Hinzu kommen zwei Kadenzen zur I. Stufe innerhalb der zweiten Themendurchführung. Diese stehen jeweils innerhalb eines Comes-Einsatzes im Bass und sind dadurch ihrer einschnittverursachenden Wirkung weitgehend beraubt. Das von uns an anderer Stelle bereits beobachtete Verfahren entspricht damit durchaus jenem später so viel verwendeten ›sfuggir la cadenza‹, dem Ausfliehen der Kadenz, das Bach hier offenkundig so noch nicht zu Gebote stand.[50]

Präludium und Fuge d-Moll (BWV 549a)

Unsere nächste Fuge aus der Möllerschen Handschrift, der durch einen Doppelstrich abgeteilte zweite Teil von »Praeludium ô Fantasia, Pedaliter. ex Db« (BWV 549a), weist in der Anlage große Ähnlichkeit mit der eben behandelten Fuge auf, so dass eine zeitlich benachbarte Entstehung der beiden Stücke recht wahrscheinlich ist.

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Abbildung 8: Themendurchführungen in BWV 549a/2, Fuge d-Moll

Die beiden Themendurchführungen enthalten jeweils vier Einsätze. Wir wollen sie insofern als ›vollständig‹ bezeichnen, als jede Stimme jeweils mit einem Themeneinsatz beteiligt ist.[51] In der zweiten ist wiederum von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, zwei Einsätze ›in einem Thon‹ direkt aufeinander folgen zu lassen (Dux - Dux - Comes - Dux). Dem angehängten letzten Teil der Fuge kommt hier wohl eine doppelte Funktion zu, als Abschluss der Fuge und zugleich des ganzen Stückes. Das wird sogleich mit dem ersten Pedaleinsatz der Fuge deutlich, der sich auf das eröffnende Pedalsolo des Präludiums zurückbezieht. Dieses abschließend einsetzende Fugenthema ist – analog zu unserem vorangehenden Beispiel – erheblich verlängert und mit einem anderen Schluss versehen, was sich hier zwanglos aus den damaligen pedaltechnischen Möglichkeiten Bachs erklären lässt (schnelle Noten waren nur durch den abwechselnden Gebrauch beider Füße spielbar).[52] Der durch Freistimmigkeit klanglich überhöhte und durch virtuoses Spielwerk ausgeschmückte Abschluss bringt das ganze Stück zu Ende und ist wohl ebenfalls eine Art Coda.

Die Kadenzen zur I. und zur V. Stufe verweisen auf den ausschließlichen Gebrauch dieser beiden Tonarten, deren Bereiche noch durch eine Anzahl (hier nicht abgebildeter) ausgeflohener Kadenzen bezeichnet sind.[53] Die Hauptkadenzen lassen sich – abgesehen von den Schlusskadenzen am Ende der zweiten Themendurchführung und im angehängten Coda-Teil – kaum in einen halbwegs eindeutigen Zusammenhang mit der thematischen Anlage bringen.

Präludium und Fuge C-Dur (BWV 531)

Der zweite Teil des ebenfalls als »Präludium pedaliter« bezeichneten Präludium und Fuge C-Dur (BWV 531) ist mit drei Themendurchführungen erheblich länger als die vorhergehenden Fugen mit jeweils zwei Durchführungen.[54]

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Abbildung 9: Themendurchführungen in BWV 531/2, Fuge C-Dur

Auf eine erste vollständige und regelmäßige Themendurchführung mit vier Themeneinsätzen in allen Stimmen folgt eine ebenfalls vollständige zweite, in der allem Anschein nach mit den zwei Dux-Einsätzen in der zweiten Hälfte in besonderer Weise von der Möglichkeit zweier Einsätze im gleichen Ton Gebrauch gemacht wird. Diese Durchführung enthält insofern ein bisher nicht beobachtetes neues Element, als mit der Oberquinttransposition des Themas eine zweite Form des Comes eingeführt wird (gegenüber der korrekten Unterquintbeantwortung in der ersten). Die dritte Themendurchführung hat nur drei Einsätze (im Quintverhältnis); sie darf daher wohl als unvollständige angesehen werden.

Das Kadenzwesen präsentiert sich in einer gewissermaßen ›klassischen‹ Ausprägung mit Kadenzen zu den ›essentiellen‹ Stufen der Tonart, den Stufen I, V und III. Dabei scheinen allerdings lediglich die Hauptkadenzen zur III. Stufe und die beschließende Kadenz zur I. Stufe in einem eindeutigen funktionalen Verhältnis zur thematischen Anlage zu stehen, jeweils als Abschluss der zweiten und dritten Themendurchführung. Die übrigen Kadenzen – in jedem Falle Kristallisationspunkte der jeweiligen Tonarten – stehen eher in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dieser Anlage, indem sie, insbesondere in den ersten beiden Durchführungen, so etwas wie eine gliedernde Überformung der thematischen Disposition bewirken.

Praeludium und Fuge in g (BWV 535a)

Die nächste Komposition, »Praeludium cum Fuga. ex Gb. Pedaliter.« (BWV 535a), hat Bach eigenhändig in die Möllersche Handschrift eingetragen. (Der Schluss von vermutlich 12 Takten stand wahrscheinlich auf einem Einlageblatt und ist verlorengegangen.) Er hat das Stück später einer tiefgreifenden Überarbeitung unterzogen (BWV 535), deren Zeitpunkt leider unbekannt ist. Dabei ist jedoch nichts an der Anlage der Fuge und fast nichts an den darin gesetzten Kadenzen geändert worden, so dass wir den Vorgang auch als einen Kommentar Bachs zu den von uns untersuchten begrifflichen Fragen aus seiner Frühzeit verstehen können.[55] Die Fuge schließt sich trotz des erheblich größeren Reichtums in der Anlage und deren Ausgestaltung ersichtlich dem soeben behandelten Beispiel an.

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Abbildung 10: Themendurchführungen in BWV 535a/2, Fuge g-Moll

Das Stück besteht wiederum aus drei Themendurchführungen, zwei vollständigen und einer dritten, die hier nur zwei Themeneinsätze umfasst, und mit der Einsatzfolge Comes - Dux den Abschluss in der Haupttonart auch thematisch bewirkt. Der letzte Einsatz steht im Pedal. Er bezieht sich damit auf die jeweils letzten Themeneinsätze der beiden vorhergehenden Durchführungen, die ebenfalls pedaliter zu spielen sind. Unter diesen ist erstmals seit Bachs erstem Versuch (BWV 896) wieder ein Einsatz in einem ›fremden Ton‹, der Einsatz in B-Dur, auf der dritten Stufe, der von da an zu den wohl unentbehrlichen Requisiten der Moll-Fuge gehört.

Der Gebrauch der Kadenzen ist seinem Umfang nach erweitert und erscheint uns erheblich differenzierter als in den bisher herangezogenen Beispielen.

Die Hauptkadenzen (Kadenzen mit Quart- bzw. Quintschritt im Bass und dem Grundton in Sopran und Bass) lassen sich recht eindeutig auf die thematische Anlage des Stücks beziehen. I., V. und – von uns ergänzt – nochmals die I. Stufe bilden jeweils den Abschluss der drei Themendurchführungen.

Die übrigen Kadenzen haben mehr oder weniger einschnitt- bzw. abschnittbildende Funktion. Sie dienen vor allem der tonartlichen Vielfalt, der tonartlichen Differenzierung. So finden sich mit Ausnahme der Tonart der VI. Stufe (Es-Dur war in dem g-dorisch konzipierten Stück wohl noch nicht möglich) alle in Moll damals gebräuchlichen Tonarten als Kadenzstufen ausgeprägt (I, V, III, IV, VII).[56] Und wir haben wohl auch die hier erstmals zu belegenden sequenzierenden Kadenzfolgen in einer themafreien Partie (IV, III, V) zunächst durchaus in diesem Rahmen zu verstehen.

Es gibt allerdings immer noch Fälle jener merkwürdigen ›eindeutigen Zweideutigkeit‹, dass eine starke Kadenz, sogar eine Hauptkadenz, innerhalb eines Themeneinsatzes steht, wo sie einen Einschnitt wegen des thematischen Zusammenhangs weder herbeiführen kann noch soll, sondern lediglich die Ausprägung einer Tonart bewirkt. Dies ist etwa bei der in der Mitte des Themas stehenden auffälligen Kadenz zur VII. Stufe (F-Dur) in der dritten Themendurchführung (T. 57f.) der Fall.

Toccata in D (BWV 912a)

Als vermutlich jüngste Komposition Bachs in der Möllerschen Handschrift ziehen wir zu guter Letzt noch die »Toccata ex Dfis.« (BWV 912a) heran.[57]

Die Fugen in den schnellen Außenteilen schließen sich in ihrer Anlage ziemlich nahtlos an unsere bisherigen Beobachtungen an (wobei wir die ganz anders gearteten Absichten der Stücke – klavieristische Virtuosität statt polyphonischer Durcharbeitung – nicht übersehen wollen). Wegen ihrer auffälligen Ähnlichkeit geben wir eine Synopse der beiden Stücke.

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Abbildung 11: Themendurchführungen in den schnellen Teilen von BWV 912a

Beide Fugen enthalten vier Themendurchführungen, deren erste unsere bisherigen Erfahrungen insofern erweitert, als in beiden nach einer verhältnismäßig normalen Einsatzfolge (Fuge I: umgekehrte Reihenfolge Comes - Dux, Comes - Dux, zwei Einsätze im Sopran; Fuge III: zweimal Dux in der zweiten Hälfte) jeweils weitere Einsätze mit Thementransposition in einer Stimme folgen, gleichsam als wären damit alle vier Stimmen der Reihe nach (Fuge I: T - A - S - B; Fuge III: T - A - B - S) gewissermaßen ordnungsgemäß an der Durchführung beteiligt. In der ersten Fuge sind von den folgenden drei Durchführungen zunächst die ersten zwei vollständig, während die dritte nur drei Einsätze umfasst; in der zweiten Fuge sind alle drei Durchführungen jeweils mit vier Themeneinsätzen ausgestattet (wobei die Zuordnung der Einsätze wegen der vielfach nur zwei- oder dreistimmigen Setzweise Schwierigkeiten bereitet). Auffällig ist die große Zahl von transponierten Themeneinsätzen (auf den Stufen I, III, IV, VI und sogar VII), was sowohl mit der anderen Art von Musik, auf die hingewiesen wurde, als auch mit den überaus kurzen Themen der beiden Fugen zusammenhängen mag.[58]

Angesichts der (wohl durch die Themenformen und die rhythmisch-metrische Ablaufgestaltung bedingten) überaus zahlreichen Kadenzen ist die schematische Darstellung weitgehend auf die Hauptkadenzen beschränkt. Aus der Übersicht geht immerhin hervor, dass die Kadenzbildungen sich deutlich auf die thematische Anlage beziehen. Die erste Fuge wird durch gedoppelte Kadenzen in drei Teile geteilt: Die erste und die zweite Durchführung bilden den ersten Teil, der mit der I. Stufe schließt, die dritte Durchführung den zweiten Teil, der mit der III. und der VI. Stufe schließt, und die vierte Durchführung schließlich den dritten Teil mit mehrfachem Schluss auf der I. Stufe. Die zweite Fuge wird dagegen in zwei etwa gleich lange Großteile gegliedert: Die ersten beiden Durchführungen schließen mit einer doppelten Kadenz zur V. Stufe, die dritte und die vierte Durchführung mit einer ebensolchen Kadenz zur I. Stufe (wobei die Durchführungen auch für sich, oder gar hälftig, nochmals durch Hauptkadenzen abgeschlossen sind).

Bemerkenswert ist im letzten Teil dieser zweiten Fuge die Kadenz zur erhöhten IV. Stufe nach gis (als Folge des erwähnten Einsatzes auf der VII. Stufe), bei der es sich um eine wirklich fremde, ›peregrine‹ Kadenz handelt, wie sie üblicherweise in Fugen nicht vorkommt. Das weist darauf hin, dass man die Toccata doch wohl eindeutiger dem ›stylus phantasticus‹ zuordnen kann, als man dies mit der ›Fuge‹ allgemein so ohne weiteres gern tun würde.[59]

Die Fuge im Mittelteil der Toccata D-Dur steht in fis-Moll; sie ist Bachs erste relativ sicher datierbare dreistimmige Fuge.

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Abbildung 12: Themendurchführungen in der Fuge fis-Moll aus dem Mittelteil von BWV 912a

Die Fuge besteht aus zwei Themendurchführungen, einer ersten regelmäßig vollständigen und einer zweiten mit drei Einsätzen, von denen die zwei ersten im Sopran stehen, einer von ihnen als Thementransposition nach a, zur III. Stufe. Dazu sind jeweils zwei Kontrasubjekte gesetzt, die bereits mit einer bemerkenswerten Konsequenz untereinander verwechselt werden.

Die Kadenzen (Hauptkadenzen zur I., V., III. und VII. Stufe) sind nur mit Mühe der thematischen Anlage zuzuordnen. Sie dienen – besonders in der zweiten Durchführung – vor allem der Hervorbringung der tonartlichen Vielfalt (sowie ebenfalls der internen Gliederung der themafreien Partien, z.B. in den Takten 100–104).

* * *

Wir müssen unsere Bemühungen um den Fortgang der Entwicklung von Bachs Fugentechnik leider einstellen, da die dafür notwendige Voraussetzung einer verlässlichen Chronologie der Werke (Klavier- bzw. Orgelfugen) für die Folgezeit einstweilen nicht mehr gegeben ist. (Das nächste sichere Datum in diesem Bereich dürfte Bachs Datierung der Eigenschrift des Wohltemperierten Klaviers sein.)

Ohnehin mag man nach unseren bisherigen Erfahrungen durchaus daran zweifeln, ob sich die erwünschten Regeln – im Sinne schulmäßig-akademischer Genauigkeit – auch auf diesem Wege je werden finden lassen. Der seltsame Vorgang in der Geschichte der Lehre von der Fuge, dass immer wieder Regeln formuliert wurden, die dann zu führten, dass die Bachschen Fugen gar nicht mehr dazu passten, als beispielgebend gar nicht mehr tauglich waren, mag als hinreichendes Indiz für die zu vermutende Vergeblichkeit dieses Wunsches genommen werden.[60] Wie sich bereits abzeichnet, werden wir mit ausreichender Sicherheit lediglich gewisse Rahmen von Möglichkeiten angeben können, in denen sich die Bachsche Fugenkomposition bewegt. Und wir meinen, dass die in dieser eigentümlichen Bedingtheit sichtbar werdende Vielfalt und Variabilität (bis hin zur Mehrdeutigkeit) ein wesentliches Merkmal der Bachschen Schaffensweise in diesem Bereich ist.[61]

In unseren Untersuchungen, die von Anfang an auf die vierstimmige Fuge als ausschließlicher Norm gerichtet sein mussten, ist als zentraler Begriff der Begriff der thematischen Durchführung zum Vorschein gekommen, der sich als Zusammenhang von in der Regel vier aufeinander folgenden Themeneinsätzen in verschiedenen Stimmen darstellt, die durch bestimmte Intervallverhältnisse (als Transpositionsintervalle) aufeinander bezogen sind. Die Folge solcher Durchführungen gibt das Gerüst der thematischen Anlage der Fuge, deren Gliederung im zeitlichen Ablauf im Wesentlichen durch die eingefügten Kadenzen bewirkt wird.

Wie wir gesehen haben, können in einer Durchführung auch mehr als vier Einsätze stehen (fünf, in Ausnahmefällen wohl auch sechs oder sieben), aber auch weniger, mindestens jedoch wohl zwei. Wenn an den regulären vier Einsätzen alle vier Stimmen beteiligt sind, wollen wir dies eine ›vollständige Durchführung‹ nennen. Es gibt merkwürdigerweise nämlich auch Fälle, in denen diese vier Einsätze nur in drei oder zwei Stimmen gebracht werden, so dass der Eindruck entstehen kann, es gäbe hinter dem Begriff der Durchführung eine thematisch definierte ideelle Vorstellung, die nur mehr oder weniger in der durch die Stimmen hervorgebrachten Realität erscheint.

Die Frage nach der Einsatzfolge stellt sich traditionsgemäß vor allem für die erste Themendurchführung, in der erwartet wird, dass auf den Dux der Comes folgt und dieser Vorgang sich in den anderen Stimmen wiederholt. Obgleich dies auch bei den meisten herangezogenen Fugen der Fall ist, ergeben sich doch durch die Möglichkeit, einen Einsatz auf gleicher Stufe zu wiederholen, zwei weitere mögliche Anordnungen, so dass man für die erste Durchführung insgesamt drei verschiedene reguläre Folgen erhält:

  • Dux - Comes, Dux - Comes

  • Dux - Comes, Comes - Dux

  • Dux - Comes, Dux - Dux.[62]

Für die nachfolgenden Durchführungen gibt es keine entsprechenden Regelmäßigkeiten in der Einsatzfolge.

Eigentümlicherweise hat die erste erhaltene Fuge Bachs mit fünf Durchführungen die größte Zahl an Themendurchführungen aller von uns untersuchten Fugen. Dazuhin ist sie die einzige, in der themenbezogene Setzweisen zur Differenzierung der Durchführungen als kompositorisches Mittel verwendet werden (Engführungen, transponierte Einsätze, Umkehrungen des Themas, Umkehrungen enggeführt, auch mit dem Thema). Merkwürdigerweise fehlen diese Differenzierungen fast vollständig in den danach geschriebenen Fugen. Bach fängt gewissermaßen nochmals von vorne an, ausgehend von den einfachsten Fugenanlagen.[63] Die Ohrdrufer Choralfugen zu Beginn dieser Reihe enthalten mit zwei Durchführungen die Mindestzahl, ebenso die ersten beiden Fugen aus Arnstadt, bei denen lediglich ein Anhang mit einem Einsatz angefügt ist, der durch Themengestalt und Setzweise deutlich als eine Art ›Coda‹ kenntlich ist. Die beiden folgende Fugen, in deren zweiter erstmals wieder ein transponierter Einsatz erscheint, sind dagegen bereits mit drei Durchführungen ausgestattet, wobei die letzte allerdings jeweils eine geringere Zahl von Themeneinsätzen aufweist, gleichsam als habe Bach noch eine gewisse Scheu vor einer allzu häufigen Wiederholung des Themas gehabt.[64] Die nicht uneingeschränkt vergleichbaren Fugen in den Außenteilen der D-Dur-Toccata haben schließlich beide vier Durchführungen, die einzige dreistimmige Fuge, die ›Doppel‹-Fuge fis-Moll, im Mittelteil nur zwei.

Den Kadenzen kommt zur Zeit Bachs eine doppelte Ordnungsfunktion zu. Von Alters her bestimmen sie durch die von ihnen bewirkten Ruhepunkte die Gliederung der Komposition, zugleich drücken sie durch die Tonstufen, auf denen sie stehen, den zu Grunde liegenden Modus, die Tonart aus. Zum anderen wächst ihnen zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit dem Übergang zum Dur-Moll-Tonleiter-geprägten Komponieren, die Aufgabe zu, für den Gebrauch der verschiedenen Dur- und Moll-Tonarten zu sorgen, gewissermaßen die Vielfalt in diesem Bereich zu regeln; denn ›Ausweichung‹ und ›Kadenz‹ – wir würden heute ›Modulation› sagen – haben damals die gleiche Bedeutung.[65]

Wie aus unseren schematischen Darstellungen leicht zu entnehmen ist, führt diese Aufgabenveränderung zu einem eklatanten Anwachsen der Zahl der Kadenzen gegenüber den der älteren Tonartbehandlung zugehörigen Choralfugen am Anfang. Das bedeutet nun freilich nicht, dass die späteren Fugen in ihrem Ablauf durch zahlreiche Einschnitte regelrecht zerstückelt wären. Zu diesen Verhältnissen im Bereich der Kadenzen gehören nämlich recht umfangreiche Möglichkeiten, die einschnittverursachende Wirkung der Kadenz zu mindern, ja sie bisweilen ganz aufzuheben. Unter diesen ist das Verfahren des ›sfuggir la cadenza‹, des Ausfliehens der Kadenz, das technisch am sichersten beschreibbare.[66] Wie wir gesehen haben, verwendet Bach jedoch auch andere Mittel (wie etwa die mehrfach zu beobachtende Kadenz während eines Themeneinsatzes).

Bei unseren Untersuchungen haben wir gesehen, dass auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen thematischer Anlage und kadenzieller Gliederung keine allgemein verbindliche Antwort gegeben werden kann. Wie aus einer Gegenüberstellung der Choralfugen »Wir glauben all an einen Gott (Abb. 3) und »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« (Abb. 4) – beide aus dem modalen Bereich – hervorgeht, sind sogar diametral entgegengesetzte Standpunkte möglich. Im ersten der beiden Beispiele sind die Kadenzen analog zu der zweiteiligen Anlage gesetzt (beide Durchführungen sind jeweils mit Kadenzen abgeschlossen), im zweiten werden die beiden Durchführungen von einer nicht darauf Bezug nehmenden Teiligkeit überlagert (vier Teile: erster Teil mit drei Einsätzen, zweiter Teil mit zwei Einsätzen, dritter Teil ebenfalls mit zwei Einsätzen und Schlussteil mit einem Einsatz), die kadenzielle Gliederung verhält sich also vollständig divergent zur thematischen Anlage.

Mit einer solchen Gegenüberstellung ist lediglich die Möglichkeit von eindeutigen Zuordnungen dieser Art zu belegen. Über ihren Stellenwert ist damit grundsätzlich nichts ausgesagt und wir meinen, dass zur Behandlung dieser Frage unser Vergleichsmaterial als Basis auch erheblich zu schmal ist. (Bachs spätere Fugenkomposition dürfte nach unserer Kenntnis eher zu Analogiebildungen zwischen thematischer Anlage und kadenzieller Gliederung tendieren, und wir werden später einen ziemlich eindeutigen Fall dieser Art analysieren.) Hier am Anfang gibt es dieses ›Entweder-oder‹ wohl eher als Ausnahmefall. Bei der Überzahl unserer Beispiele haben wir es wohl mehr mit dem ›Sowohl-als-auch‹ zu tun.

* * *

Wir wollen zum vorläufigen Abschluss unserer Untersuchungen noch einen Blick werfen auf die hinsichtlich der thematischen Anlage wohl ebenfalls miteinander vergleichbaren Fugen in C-Dur (BWV 531, Abb. 9) und g-Moll (BWV 535a/2, Abb. 10). Wie wir dargestellt haben, bezieht sich die kadenzielle Gliederung der Fuge C-Dur teilweise eindeutig auf die thematische Anlage (Kadenzen zur III. und I. Stufe am Ende der zweiten und dritten Durchführung). Innerhalb der ersten zwei Durchführungen sind die Kadenzen zwar ebenfalls in Beziehung zu den Themeneinsätzen gesetzt (sie stehen jeweils vor einem Einsatz), sie gliedern das Stück jedoch über die Grenzen der Durchführungen hinweg, ähnlich der gerade herangezogenen Choralfuge wiederum in vier Teile (erster Teil: drei Einsätze, zweiter Teil: zwei Einsätze, dritter Teil: ebenfalls zwei Einsätze – die beiden Kadenzen zur I. Stufe stehen jeweils innerhalb eines Einsatzes – und Schlussteil: ein Einsatz.) Die Gliederung der g-Moll-Fuge ist dagegen ganz eindeutig auf die drei Themendurchführungen bezogen (am Durchführungsende stehen jeweils überaus starke Kadenzen – mit dem Grundton in allen Stimmen – auf den Stufen I, V und I und mit Neueinsatz des Themas jeweils auf der Ultima der Kadenz). Abgesehen von einigen zur Abgrenzung am Ende von Themeneinsätzen stehenden Kadenzen, sind die übrigen – es ist dies die Mehrzahl – nicht auf die thematische Anlage der Fuge bezogen. Sie finden sich innerhalb von Themeneinsätzen und ebenso in themafreien Partien, haben sicher vielfach auch gliedernde Funktion, dienen jedoch vor allem der tonartlichen Vielfalt. Erstmals steht eine Folge von Kadenzen in einer themafreien Partie, die auf die Hervorbringung einer Sequenz zielt (in der Abbildung klein unter der Reihe der übrigen Kadenzen; Grundtöne: g-c-f-b-es-a-d). Dieses bunte Gelichter taugt sicher auch irgendwie zur Gliederung; es dient vor allem dazu, die Komposition phantasiereicher und vielfältiger zu machen, und dies zusammen mit der thematischen Anlage, zuweilen neben ihr und – seltener wohl – unabhängig davon und sogar in einem gewissen Gegensatz dazu.

(Ausgehend von unseren bisherigen Ergebnissen wird der zweite Teil der vorliegenden Untersuchung unter anderen von der Kompositionstechnik und der möglichen Bedeutung eben jener Zwischenspiele handeln, die soeben noch in unser Blickfeld geraten waren.)

Anmerkungen

1

Im Folgenden stets zitiert nach der Übersetzung Lorenz Mizlers (Fux 1742).

2

Die von Bach um 1740 durch einen zweiten Teil auf insgesamt 48 Präludien und Fugen vermehrte Sammlung ist gegen 1800 erstmals gedruckt worden. Sie war im 18. Jahrhundert in überaus zahlreichen Abschriften verbreitet. Vgl. dazu die kritischen Berichte von Alfred Dürr (NBA V/6.1, 14–17 und 123, sowie NBA V/6.2, 17–21).

3

NBA V/6.1, 1. – Fux schreibt: »Mein Absehen ist, denen jungen Leuten zu Hülffe zu kommen, welche diese Wissenschafft zu erlernen begehren […].« (1742, »Vorrede an den Leser«)

4

Ebd.

5

Gleichwohl sollte der Bedeutung des Fuxschen Lehre für die Fugen der Wiener Klassik, insbesondere die Fugen Joseph Haydns mehr Beachtung geschenkt werden.

6

Vgl. dazu u.a. Hinrichsen 2002 (zur Editionsgeschichte) und Schmoll-Barthel 2002 (zur Interpretationsgeschichte im 20. Jahrhundert). – Zur komplizierten Frage der später so genannten ›motivisch-thematischen Arbeit‹ in den Fugen Bachs und ihrer Rezeption fehlen – so weit wir sehen – entsprechende Studien noch weitgehend.

7

Man vergleiche dazu die Grundbass-Analyse der Fuge in h (WTK I, Nr. 24, BWV 869/2) bei Johann Philipp Kirnberger (1773, 55–103). – Als spätere Belege vgl. Riemann 1903, 158ff., Zulauf 1927 und Czaczkes 1965 (z.B. Bd. 1, 35: VII. Stufe, g-Moll, in a-Moll = »Variante der Molldominantparallele«).

8

Vgl dazu Deppert 1989 und 1993, auch Daniel 2001.

9

Riemann 1890–91, V. – Riemann war von der Richtigkeit seiner These so weitgehend überzeugt, dass er sogar die eindeutig aus zwei Teilen bestehende Fuge e-Moll aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers als dreiteilig beschreibt. Das beide Teile trennende Unisono erfährt dabei eine eigentümliche Deutung: »[…] ein Zwischenspiel moduliert über C-dur nach a-moll (dabei ein merkwürdiges unisono der beiden Stimmen).« (1890, 75)

10

Czaczkes 1956, Bd. 1, 19ff.

11

Ebd., 9, Anm. 1; auch 22–32.

12

Nucius 1613, Kap. 7.

13

Vgl. dazu Walther 1708, 183–195.

14

Vgl. dazu Walker 2004.

15

Vgl. dazu Grandjean 1995.

16

Walker meint zu der Liste Walthers mit 17 Regeln »nearly all of wich were paraphrased from Bertali’s treatise« (2004, 266). Vgl. dazu auch Gehrmann, der zu diesen Regeln Walthers zur »Verfertigung einer Fuge« schreibt, darin werde »alles zusammengestellt, was sich bei den wichtigsten Theoretikern seit Zarlino in dieser Beziehung findet.« (Gehrmann 1891, 553) – Braun sagt dagegen zu zwei »wichtigen Hinweisen« Walthers zur Form, dass »deren Herkunft noch nicht feststehe.« (Braun 1994, 290)

17

Braun schreibt zu Walthers Regeln: »All diese Verfahren kennt man von Bach […].« (1994, 291) – Wir betonen in diesem Zusammenhang, dass es sich bei der Heranziehung nicht direkt zuordenbarer musiktheoretischer Quellen prinzipell um ein heuristisches Verfahren handelt. (Das gilt vermutlich zum Teil wohl auch für direkt zuordenbare.)

18

Grandjean weist darauf hin, das dasselbe wenig später im Neueröffneten Orchestre (1713) von Mattheson verlangt wird (1995, 196).

19

»Dasselbe, was in der Rede durch Commata, Colons und Punkten gemacht wird, geschieht im Gesang durch Clauseln und Pausen.« (»Quod in Oratione fit Commatis, Colis et Punctis, id ipsum in cantilena clausulis et Pausis«, Walther 1708, 163 [nach Grimmius], vgl. ebd. 183f.).

20

Die Frage der Themenbeantwortung wird im vorhergehenden Kapitel »De Repercussione« in herkömmlicher Weise behandelt (1708, 180–183). Hinsichtlich des Einsatzes der zweiten Stimme finden sich unterschiedliche Angaben: Zur Fuga allgemein heißt es, »je eher und geschwinder der Comes seinem Duci folge, ie beßer sey die Fuge zu hören« (ebd., 184, § 6), zur »Fuga partialis oder libera« dagegen, man solle das Thema so lange führen, »bis sich bequeme Gelegenheit eräugnet, dass die andere Stimme als der Comes eintreten kann« (ebd., 185, § 9).

21

Ebd. 185, § 9(e).

22

Vgl. dazu Deppert 2009, 31 und 73.

23

Walther 1708, 185, § 9(f).

24

Vgl. dazu Deppert 1993, 187–192.

25

Walther 1708, 186, § 9(m).

26

Die von Walther in diesem Paragraphen benutzte Terminologie lässt vermuten, er habe hier (ohne mögliche Abänderungen) aus einer von seinen anderen Vorlagen zu unterscheidenden unbekannten Quelle geschöpft: Die Bezeichnung ›Thonus‹ für die Dur- bzw. Molltonart unterscheidet sich von der vorher von ihm benutzten Bezeichnung ›Cantus‹ (ebd., 15–17, Herkunft unbekannt). In Walthers aus den Johann Kuhnau zugeschriebenen Fundamenta compositionis entnommenen Kapitel »Von denen Modis musicis in genere« wird zwischen den »Clausulae essentiales, Affinales und Peregrinae« unterschieden (ebd., 162f.). Die hier in § 9 vorgenommene Differenzierung zwischen »ordinair-Cadenzen« und »fremden Cadenzen« findet sich später in Walthers Lexicon (1732) wieder (»ordentliche Cadenzen« im Artikel »cadence«, 124; »fremde« im Artikel »Clausulae peregrinae«, 170f.).

27

Vgl. dazu Deppert 1993, 211, insbes. Anm. 87.

28

Walther 1708, 186, § 9(p).

29

Ebd., 186, § 9(h–l).

30

Schulze 1972 (Bach-Dokumente III/803), 255.

31

Ebd.

32

Deppert 2009.

33

Ebd., 67f.

34

NBA V/9.2, 72–75. Vgl. dazu Deppert 2009.

35

Vgl. beispielsweise die inkorrekte Form des Comes’ am Anfang (das e des Dux’ wird mit h im Comes beantwortet), die im Verlauf der Fuge stets berichtigt ist (a statt h).

36

Auszunehmen ist davon lediglich die ebenfalls von Bachs Bruder geschriebene Fuge A-Dur BWV 949 (im Andreas-Bach-Buch), bei der es sich wohl um eine Art ›Remake‹ der Fuge aus BWV 896 handelt (nunmehr mit einem in der Choralfuge »Durch Adams Fall ist ganz verderbt«, BWV 1101 erstmals verwendeten Kontrasubjekt); vgl. dazu Deppert 2009, 106f.

37

Walther beschreibt die »Fuga contraria« allgemein als Imitation in der Umkehrung (1708, 185). Ebenso im Lexicon: »wenn die Folge-Stimme der anfangenden ihre Intervalla dergestalt nachmachet, daß, wenn jene ihre Noten […] aufwerts diese ihre unterwerts und demnach verkehrt formieret […].« (1732, 266)

38

Vgl. dazu Deppert 2009.

39

Der selbe Gedanke eines simultan einsetzenden Umkehrungskanons findet sich am Beginn des Choralvorspiels »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« (BWV 1099) aus den sogenannten Neumeister-Chorälen (vgl. Deppert 2009, 99f.; vgl. dazu unten auch Anm. 63).

40

Vgl. ebd.

41

Vgl. ebd., 90, Anm. 215.

42

Diese Stelle ist unseres Wissens der früheste Fall eines später von Bach gern benutzten Mittels, über die Kadenzen hinweg Zusammenhang in der Fuge zu gewährleisten.

43

Vgl. dazu Deppert 2009, 110f.

44

Walther 1708, 186.

45

Vgl. dazu auch Deppert 2009, 122f.

46

Vgl. dazu Hill 1987.

47

Vgl. Deppert 2009, 25–33.

48

Ebd., 56. – Es gibt keinen vernünftigen Grund, an dem aus der Bachschen Genealogie entnommenen Datum von 1704 zu zweifeln (Bach-Dokumente I, 259). Vielleicht ist das Stück sogar etwas früher entstanden, da die Anwerbungen für den Feldzug des Schwedenkönigs bereits vor März 1704 erfolgt sein müssen (Generalmusterung am 18./19. März in Mellsack); vgl. dazu Karle 2002, 80 (Bachs Name wird dort allerdings nicht genannt).

49

Zur Einführung und Erklärung des Kontrasubjekts in Bachs Unterricht in Ohrdruf vgl. Deppert 2009, 106f.

50

Zum Verfahren des ›sfuggir la cadenza‹ vgl. Deppert 1993, 143–186.

51

In der ersten Themendurchführung stehen unterhalb von drei Themeneinsätzen wiederholte (respektive transponiert wiederholte) Elemente eines Kontrasubjekts, das allerdings nicht stabil ist und in der zweiten Themendurchführung auch nicht wiederkehrt. Walker bezeichnet es wohl irrtümlich als »Kontrasubjekt nach klassischem Muster« (1995, 67).

52

Vgl. dazu Deppert 2009, 27, Anm. 56.

53

Vgl. dazu ebd., 27.

54

Der Zusatz »pedaliter« bezieht sich hier vor allem auf das in diesem Bereich außerordentlich virtuose Präludium. In der Fuge hat das Pedal, abgesehen von einem recht einfachen Scheineinsatz, ausschließlich Bass-Funktion zu erfüllen. (Der in NBA, Orgelwerke, Bd. 5, in Takt 36 beginnende Themeneinsatz im Pedal ist eine durch keine Quelle gedeckte willkürliche Zuweisung des Herausgebers. Er wäre auch mit damaligen Pedaltechnik Bachs gar nicht ausführbar gewesen.)

55

Vgl. dazu Deppert 2009, 14–17 und 44f.

56

Sogar die später in Moll von Bach so geschätzte Moll-Tonart der VII. Stufe (f-Moll) wird in einer (in unserer schematischen Darstellung nicht berücksichtigten) ausgeflohenen Kadenz in Takt 44f. bereits berührt.

57

Wir verzichten darauf, die Canzona d-Moll (BWV 588) und die Fantasie g-Moll (BWV 917), beide ebenfalls in der Möllerschen Handschrift enthalten, heranzuziehen, da hinsichtlich Gattungszugehörigkeit und Chronologie (bei der Canzona) gewisse Unsicherheiten bestehen.

58

Eine andere Erklärung dieser Besonderheit könnte auch in der Auswahl der in die Möllersche Handschrift aufgenommenen Fugen zu suchen sein. Man vgl. dazu etwa BWV 565, 993 und 532, die alle dieser frühen Zeit angehören dürften.

59

Zur Problematik des Stilbegriffs im 18. Jahrhundert, insbesondere zur Abgrenzung des ›stylus phantasticus‹, vgl. Deppert 1993, 48–70.

60

Vgl. dazu die bei Heinemann gegebene Übersicht (1997, 105–189).

61

Vgl. dazu die Analyse der Fuge in h-Moll BWV 869/2 (WTK I, Nr. 24) in Deppert 1993, 276–298. – Für die Fugenthemen lassen sich recht genaue formale Bedingungen angeben, die offenbar von Beginn an bis in Bachs Spätzeit hinein Gültigkeit besitzen. Vgl. dazu ebd., 74–81.

62

Beim Beginn der ersten Durchführung von BWV 912a/I mit der Folge Comes - Dux handelt es sich wohl um eine aus der kompositorischen Absicht erklärliche Ausnahme, zumal die Fuge hier ausnahmsweise nicht mit einer vollständigen Durchführung beginnt.

63

Vielleicht hat Bachs Bruder – sein damaliger Lehrer, der ihm dies alles ja wohl zunächst erklärt haben müsste – davon abgeraten, zu viel auf einmal zu wollen. – Die chronologisch leider nicht sicher einordenbare Fuge A-Dur BWV 949 (vgl. Anm. 36) verzichtet auf den Gebrauch von Engführungen, bringt jedoch in etwas verborgener Manier den gleichzeitigen Einsatz von Thema und Umkehrung (T. 76–78, Alt und Tenor, vgl. dazu Beispiel 1).

64

Vgl. dazu auch die gekürzte Fassung (BWV 532a) von »Präludium und Fuge D-Dur« BWV 532, das aus der gleichen Zeit stammen dürfte (Deppert 2009, 59, Anm. 158).

65

Vgl. dazu Mattheson 1713, 147ff., sowie Deppert 1993, 187–247.

66

Ebd., 143–186.

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