»Musiktheorie und Vermittlung« - Bericht über den VI. Kongreß der GMTH vom 6. bis 8. Oktober 2006 in Weimar
Folker Froebe
Vom 6. bis 8. Oktober 2006 fand der VI. Kongreß der GMTH an der Hochschule für Musik »Franz Liszt« in Weimar statt.[1] Das jährliche Symposium erwies sich erneut als zentraler Ort des fachlichen Austausches und der persönlichen Begegnung: Neben etablierten Fachvertretern sowie Gästen aus Musikwissenschaft und Musikpädagogik nutzten gerade auch jüngere Musiktheoretiker und Lehrbeauftragte die Gelegenheit zur Kontaktaufnahme und zur öffentlichen Präsentation ihrer Arbeit.
Mit dem Thema »Musiktheorie und Vermittlung« stand erstmals das pädagogische Selbstverständnis des Lehrfachs Musiktheorie im Mittelpunkt. Begrüßt wurden die etwa 150 Kongreßteilnehmer vom Leiter des musikpädagogisch-musiktheoretischen Instituts Eckart Lange, der zugleich eine Einführung in die Geschichte der Hochschule unter besonderer Berücksichtigung der Musiktheorie gab, sowie von Klaus Heiwolt, dem die Kongreßleitung oblag. Insgesamt 47 Vorträge verteilten sich auf die drei Kongreßtage. Das Rahmenprogramm umfaßte Konzerte, Workshops und Buchvorstellungen; Interessenten konnten außerdem an einer Stadtführung und einer Exkursion nach Meiningen teilnehmen. Das Erscheinen eines umfassenden Tagungsberichts wurde für Mitte 2008 in Aussicht gestellt.[2]
Schwerpunkte
Auf die übergeordnete Thematik »Musiktheorie und Vermittlung« bezogen sich vor allem die drei Hauptsektionen »Musiktheorie und Musikpädagogik«, »Ästhetische Implikationen der Satzlehre« und »Werkanalyse und Höranalyse«. Eine vierte Sektion war dem genius loci geschuldet und widmete sich den ›Weimarer‹ Komponisten »Franz Liszt und Max Reger«. Eine fünfte Sektion bot Raum für freie Beiträge. Unabhängig von diesem vorgegebenen Rahmen kristallisierten sich quer durch alle Sektionen Schwerpunktthemen heraus.
Die Hauptvorträge der ersten drei Sektionen thematisierten in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung das Verhältnis zwischen (musikalischem bzw. musiktheoretischem) Handeln, ästhetischer Erfahrung und Reflexion; entsprechende Fragestellungen zogen sich wie ein roter Faden durch die Mehrzahl der Beiträge.
Ein zweiter Schwerpunkt lag in der historisch reflektierten Rekonstruktion und didaktischen Aufarbeitung satztechnischer, formaler und semantischer Konventionen tonaler Musik. Insbesondere die Beschäftigung mit Satzmodellen und Topoi scheint mittlerweile im ›Mainstream‹ deutschsprachiger Musiktheorie angekommen zu sein. Die meisten der vorgestellten Werkanalysen bezogen sich auf die jeweils zeitgenössische Theoriebildung und Ästhetik oder auf das Spannungsfeld von Konvention und kompositorischer Strategie. Rein systematische Ansätze spielten demgegenüber eine untergeordnete Rolle.
Vergleichsweise wenige Beiträge integrierten Analyseverfahren der Schenker-Nachfolge. Dabei, so wurde vereinzelt erkennbar, birgt deren Verbindung mit historisch differenzierten Betrachtungsweisen noch unerschlossene Potentiale. Ebenfalls wenig vertreten waren – gemessen an den GMTH-Kongressen der vergangenen Jahre – Ansätze aus dem anglo-amerikanischen Raum. Zugleich ließen zahlreiche Vorträge durchscheinen, daß die Rezeption englischsprachiger Fachliteratur mittlerweile selbstverständlich geworden ist.
Erfreulicherweise wurde erstmals der Höranalyse ein breiteres Forum geboten. Gerade in diesem Bereich hätte man sich freilich eine größere Zahl praxisorientierter Beiträge gewünscht.
Kongreßbeiträge
In seinem Eröffnungsvortrag zur Sektion II (Ästhetische Implikationen der Satzlehre) betonte Markus Jans (Basel), musikalisches Handeln (Denken in Tönen) und musiktheoretische Reflexion (Nachdenken und Reden über Töne) seien jeweils mit kategorial verschiedenen Denk- und Wahrnehmungsweisen verbunden. Wie sich die daraus resultierende Spannung in der Unterrichtspraxis konstruktiv auflösen ließe, demonstrierte er am Gegenstand der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts.
Stefan Rohringer (München) hingegen, der die Sektion I (Musiktheorie und Musikpädagogik) eröffnete, stellte die Dichotomie von ›Performanz‹ und Reflexion grundsätzlich in Frage: Als hermeneutische Disziplin sei Musiktheorie dem Paradigma des Interpretativen verpflichtet, der durch musiktheoretische Reflexion erschlossene Sinn jedoch vermöge nicht zu überzeugen, wenn die Formen seiner Generierung der Dimension der Performanz entbehrten.
In diesem Sinne betonte auch Hartmut Fladt (Berlin) in seinem Eröffnungsvortrag zur Sektion III (Werkanalyse und Höranalyse) den performativen bzw. künstlerischen Aspekt einer auf Interpretation zielenden, ›nachkomponierenden‹ Analyse und hob zugleich deren unvermeidbare Problematik hervor: Zwar ermögliche der Bezug auf historische Kategorien eine Annäherung an die »Bedingungen der Möglichkeit der Entstehung« (Kant) eines Werkes, doch sei es weder möglich noch wünschenswert, eigene Vorerfahrungen und Präferenzen auszublenden. Das Ziel eines umfassenden analytisch-höranalytischen Verstehens von Musik läge daher nicht in der Ausschaltung des (vor-)urteilenden Subjekts, sondern in einer »zweiten Unmittelbarkeit« (im Sinne Hegels), die durch Wissen und Erkenntnis hindurchgegangen ist und zugleich Momente des Staunens bewahrt.
Hieran anknüpfend entfaltete Michael Polth (Mannheim) eine Theorie des Lehrens, die nicht auf kategoriale Erklärung oder Herleitung (im Sinne einer Anwendung von Kategorien auf das musikalische Phänomen), sondern auf den Akt des ›Zeigens‹ abhebt: Das Zeigen sei ein Modus, durch den das mit Worten Benannte in ein ästhetisches Erlebnis am Kunstwerk überführt werden könne. Der Musikpädagoge Hans-Ulrich Schäfer-Lembeck (München) schließlich hinterfragte aus konstruktivistischer Perspektive den Begriff der Vermittlung grundsätzlich.
Die Bedeutung performativer und ästhetischer Erfahrung für das musiktheoretische Lehren und ›Tun‹ untermauerte von kognitionspsychologischer Seite Martin Rohrmeier, der Erkenntnisse zum impliziten Lernen vorstellte und nach deren Konsequenzen für die Methodik wahrnehmungsbezogener Musikanalyse fragte. Hans Ulrich Fuß (Hamburg) verwies in diesem Zusammenhang auf die Höranalyse, die einen wahrnehmungsbezogenen Zugang zu den psychisch-energetischen und gestischen Qualitäten von Musik eröffne. Andreas Moraitis (Berlin) betonte, es gelte die ästhetischen Intentionen, zu deren Verwirklichung satztechnische Regelsysteme beitragen sollten, zu rekonstruieren. Im Theorieunterricht könne dies geschehen, indem Satzregeln und internalisierte Hörerwartungen aufeinander bezogen würden. Um eine interkulturelle Perspektive bereicherte Angelika Moths (Leipzig) den Diskurs: Die in der syrischen Kultur verwurzelte orale Lehrtradition des ›Hörens und Nachspielens‹ und westlich beeinflußte Methoden der theoretischen Reflexion würden in der jüngeren Musiktheorie Syriens auf instruktive Weise zusammengeführt.
In einer lebhaften Podiumsdiskussion schließlich kamen Konfliktpunkte zwischen den Disziplinen Musiktheorie und Musikpädagogik offen zur Sprache. Mit Clemens Kühn (Dresden), Michael Polth (Mannheim), Eckart Lange und Klaus Heiwolt (Weimar), sowie Ulrich Kaiser und Hans-Ulrich Schäfer-Lembeck (München) diskutierten Vertreter beider Fächer zum Kongreßthema »Musiktheorie und Vermittlung«. Die Gesprächsleitung hatte Stefan Rohringer. In der Diagnose erzielte man Einigkeit: Das mitunter nicht unproblematische Verhältnis zwischen Musiktheorie und Musikpädagogik an Musikhochschulen beruhe keineswegs allein auf unbegründeten Ressentiments, sondern besäße einen realen Kern. Sowenig eine Pädagogik von der Musik Fragen der Vermittlung ohne Kompetenz in der Sache sinnvoll zu beantworten vermöge, so wenig ersetze Sachkompetenz bereits die Reflexion darüber, welcher Formen der Vermittlung sie bedürfe. Daraus resultierten erhöhte Anforderungen an beide Seiten; der Dialog möge fortgesetzt werden.
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Den programmatischen ›Überbau‹ für eine weitere Gruppe von Vorträgen, die sich auf Konventionen und Modelle traditioneller Musik bezogen, lieferte Johannes Menke (Freiburg), der Überlegungen zu einem ›Kanon‹ der Musiktheorie anstellte und nach Auswahlkriterien fragte: Welche Kenntnisse und welche praktischen bzw. künstlerischen Kompetenzen soll der Theorieunterricht vermitteln? Welche Werke bzw. Werkgruppen und welche historischen Quellen (bzw. Kategorien und Denkweisen) bilden dabei unverzichtbare Bezugspunkte? Menke plädierte für eine konsequente Historisierung des Fachs zumindest im Bereich der tonalen Musik: Anknüpfend an historische Lehrkonventionen bildeten Generalbaß und Kontrapunkt, ergänzt durch Aspekte der formalen und klanglichen Gestaltung die zentralen Lehrgegenstände. Die Bezugnahme auf ›tonale Konstanten‹ (also stilübergreifende Satz- und Melodiemodelle) stünde dazu nicht im Widerspruch, sondern liefere die Folie jeder geschichtlichen und werkimmanenten Differenzierung. Daß Menkes Anliegen, Konventionen der historischen Musikpraxis im musiktheoretischen Unterricht angemessen zu vermitteln, von vielen Vertretern der deutschsprachigen Musiktheorie geteilt wird, machten zahlreiche Vorträge deutlich. Der für die Etablierung eines Kanons erforderliche Konsens indes dürfte angesichts der bei Menke geradezu programmatischen Ausblendung systematischer Fragestellungen kaum herstellbar sein.
Mit einer an konkreten Stilvorlagen orientierten historischen Satzlehre befaßten sich nur wenige Beiträge. Albert Richenhagen (Berlin) betonte die Bedeutung von Choralnotation und gregorianischer Melodielehre für die Behandlung vorbarocker Vokalpolyphonie im Tonsatz- und Analyseunterricht. Richard Beyer (Mainz) würdigte Orlando di Lassos dreistimmige Motetten aus dem Jahre 1575 als pädagogisch relevante Werke.
Edith Metzner forderte, auch die Instrumentationslehre verstärkt einer historischen Differenzierung zu unterziehen. Sie gab einen Überblick über die Geschichte der heute zuweilen vernachlässigten Disziplin und demonstrierte an praktischen Beispielen den Nutzen historischer Ansätze für die gegenwärtige Unterrichtspraxis.
Nicht weniger als zehn Beiträge thematisierten satztechnische Modelle bzw. ›Topoi‹ und führten zugleich die Vielfalt der damit verbundenen Ansätze vor Augen. Martin Erhardt (Weimar) stützte sich in seinem Workshop zur Improvisation über Ostinatobässe auf den Trattado de glosas sobre clausulas (1553) des spanischen Gambenvirtuosen Diego Ortiz. Während die meisten Improvisationsdidaktiken sich ausschließlich auf das solistische Spiel am Tasteninstrument beziehen, ging Erhardt auch auf die unterschiedlichen Rollen von Melodie-, Harmonie- und Baßinstrumenten in der improvisierten Ensemblemusik ein.
Eine theoriegeschichtliche Traditionslinie von Kanonmodellen des vokalen ›Contrapunto alla mente‹ im 15. und 16. Jahrhundert bis hin zu Generalbaßmodellen des 18. Jahrhunderts zeichnete Folker Froebe (Mannheim) in seinem Referat zu Satzmodellen des Contrapunctus simplex. Im zweiten Teil seines Vortrags rekonstruierte er die systematische Stellung der Modelle in der Musiktheorie des 17. und 18. Jahrhunderts und verwies auf ihre didaktischen Potentiale.
Ludwig Holtmeiers (Freiburg) Referat zur italienischen Partimento-Tradition wurde von vielen als ein Höhepunkt des Kongresses empfunden. Kurzweilig skizzierte er ein historisches Panorama der Komponistenschulung an neapolitanischen Waisenhäusern um 1700. Hinter der voraufklärerischen ›Dogmatik‹ der auf Konvention und Modellgebrauch fußenden Lehre erkannte er Züge einer impliziten Theorie, deren Fundament das tonale Konzept der Oktavregel bildet: Aus elementaren Kadenzprogressionen und Modulen der Oktavregel leiten sich sequenzielle Baßmodelle und deren Kontrapunktierung bzw. Bezifferung ab. Diese Modelle gehen charakteristische Verbindungen ein und markieren bestimmte formale Kontexte. Nicht zu überschätzen sei vor diesem Hintergrund die Bedeutung improvisatorischer Praxis für das traditionelle Komponieren. Im zweiten Teil seines Vortrags betonte Holtmeier die Relevanz der Partimento-Tradition für den heutigen Unterricht. Als besonderen Vorzug hob er die Handlungsorientierung der modellbasierten Didaktik hervor. Zugleich impliziere die Partimento-Praxis ein integratives Theoriemodell, das geeignet sei, das Schisma von Harmonik und Kontrapunkt zu überwinden, Theoriebildung und ›Pragmatik‹ zu versöhnen sowie musikalische Topik und Formbildung zu verknüpfen. Offenkundig bilden die Partimento-Quellen (bzw. die überlieferten ›Regole‹) für Holtmeier eine Plattform für das eigene musiktheoretische Denken. Zu wünschen wäre, daß der in Freiburg bereits etablierte Ansatz in Kontakt mit verwandten Denkweisen träte, etwa mit der im Schülerkreis von Volkardt Preuß (Hamburg) tradierten Improvisationsdidaktik und der musikalischen Topik der ›Berliner Schule‹.
Händels durch die Partimento-Tradition beeinflußten Generalbaßübungen präsentierte Oliver Korte (Lübeck) als eine Sammlung kleiner Meisterwerke, die sich im Unterricht als Vorbilder des kompositorischen und improvisatorischen Nachvollzugs eigneten: Satzmodelle würden von Händel nicht als bloßes Material vorgestellt, sondern kontextuell als Elemente formaler Gestaltung.
Ulrich Kaiser (München) skizzierte ausgehend von der Menuett-Improvisation nach Riepel einen Weg von der Improvisation über die Stilkopie bis hin zur Werkanalyse. Seinen didaktischen Ansatz parallelisierte er mit Riepels Verfahren, elementare Satzformen über deren sukzessive Weitung und Auskomponierung bis hin zur musikalischen Großform auszubauen. Dabei verband Kaiser eine handlungsorientierte Ausrichtung musiktheoretischer Lehre mit einem (durchwegs reflektierten) Eklektizismus der Kategorien und Methoden: Die Integration einer auf historischen Satzmodellen aufbauenden Improvisationsdidaktik und einer pragmatischen Schenker-Rezeption scheint derzeit die (dank zahlreicher Publikationen) öffentlichkeitswirksame Vorhut eines ›modernen‹ Fachverständnisses zu bilden.
Ariane Jeßulat (Würzburg) betonte gegenüber dem Primat des Generalbaßsatzes und der übergeordneten Zweistimmigkeit das kontrapunktisch-imitatorische Moment in Bachs Choralsätzen und knüpfte damit an Heinrich Poos’ Rede vom »fugalen Diskurs« im Bach-Choral an. Anhand ausgewählter Beispiele zeigte sie, wie weitgehend die Ästhetik des vierstimmigen Cantus-firmus-Satzes bei Bach durch die – jeweils individuell überformte – Integration älterer kontrapunktischer Satzmodelle geprägt ist.
Martin Küster (Cornell University, USA) verortete das als »Teufelsmühle« (Vogler) bekannte Modell des späten 18. Jahrhunderts in der Ästhetik seiner Entstehungszeit. Anhand charakteristischer Literaturbeispiele zeigte er, wie die Teufelsmühle als Darstellungs- und Ausdrucksmittel des Erhabenen und Schaurigen eine Negativfolie zu ästhetischen Kategorien der Aufklärungszeit (Natürlichkeit und Einfachheit) bildete und verwies zugleich auf ihre enge Assoziation mit der zeitgenössischen Kultur des Schauerromans und der ›gothic novel‹. Uri Rom (Berlin) betonte die tonartliche Bindung bestimmter Topoi und verfolgte einen typischen Es-Dur-Eröffnungstopos durch das Schaffen Mozarts. Andreas Ickstadt (Berlin) schließlich thematisierte die Individualisierung und semantische Aufladung überkommener Satzmodelle bei Brahms.
Aus einer strukturalistischen Perspektive thematisierte der methodologisch anspruchsvolle Vortrag von Oliver Schwab-Felisch (Berlin) den kontextuellen Gebrauch tradierter Modelle in klassisch-romantischer Musik. Verschiedene Aspekte des Verhältnisses von Kompositionslogik und Modellstruktur machte er – jeweils bezogen auf charakteristische Literaturbeispiele – kategorial greifbar: Die satztechnische Struktur eines Modells könne sich in einem Fall als konstitutives Element der kompositorischen Struktur (im Sinne Schenkers), in einem anderen Fall hingegen als strukturell untergeordnet erweisen.
Der historischen Differenzierung und ›Ästhetisierung‹ der systematischen Kategorie ›Enharmonik‹ widmete sich Hubert Moßburger (Bremen). Moßburger arbeitete Differenzen zwischen akustischer, funktioneller und visueller Enharmonik heraus und bezog sich auf Quellen von Rameau bis Riemann, die er gleichsam als historische »Hörprotokolle« interpretierte. Dabei skizzierte er einen historischen Prozeß vom antiken Genus mit seiner hörbaren melodischen Stufenfolge über eine durch modifizierende Intonation profilierte akustische Enharmonik hin zum »unisonierenden Dualismus« (E.T.A. Hoffmann) in der gleichschwebenden Temperatur, dessen Realisierung zu einer »Sache der Auffassung und des beziehenden Denkens« (Carl Stumpf) wird.
Zu der Vielzahl von Vorträgen, die auf die Geschichtlichkeit musikalischer Sprache abhoben, setzten Konstanze Franke (Dresden) und David Mesquita (Freiburg) einen Kontrapunkt. Nicht von den musiksprachlichen Konventionen eines bestimmten Stils oder Komponisten, sondern von der jeweiligen kompositorischen Problemstellung her entwickelten beide ein Unterrichtskonzept ›freier‹ Kompositionsübungen. Als Anregung dienten dabei Beispiele aus Bartóks Mikrokosmos, die jeweils auf engem Raum einige wenige kompositorische Probleme mit sehr einfachem und begrenztem Tonmaterial durchführen. Kennzeichnenderweise war dies der einzige Kongreßbeitrag zu Satz- oder Improvisationsübungen jenseits der tonalen Tradition: Hier besteht offenkundig Nachholbedarf.
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Eine große Vielfalt methodischer Zugänge spiegelte sich in den zahlreichen Beiträgen zur Werkanalyse. Jene Spannung von Konvention und Individualisierung im Werk, die auch den kompositorischen Umgang mit Modellen bzw. Topoi prägt, thematisierte Christian Utz (Graz) mit Bezug auf kognitionspsychologische Ansätze. Sein auf der Annahme von »Erwartungssituationen« beruhender analytischer Zugang setzte einen mit kulturell vermittelten Konventionen und Strukturprinzipien vertrauten »impliziten Hörer« voraus. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Kilian Sprau, der die Metrik der Schumannschen Träumerei einer fiktiven ›Normalversion‹ gegenüberstellte. Dabei wurde deutlich, wie weitgehend die Spannung zwischen konventioneller Hörerwartung und tatsächlicher Auskomponierung die ästhetische Wirkung des Stücks bestimmt.
Die Überführung von Analyse in Musikästhetik realisierte mustergültig Jens Marggraf (Halle), der eine Annäherung an den Kompositionsstil C.Ph.E. Bachs ausgehend von analogen Strukturprinzipien in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy suchte. Dabei gelang ihm eine verblüffende Parallelisierung von literarischen Techniken der englischen Empfindsamkeit mit kompositorischen Strategien in Bachs Rondos und Fantasien.
Markus Neuwirth (Würzburg) entfaltete am Gegenstand der ›falschen Reprise‹ eine Kritik der in mancher Hinsicht anachronistischen ›Standardtheorie‹ des Sonatensatzes. Der gängigen Annahme, bei der sogenannten falschen Reprise handle es sich um eine Normabweichung, die als Spiel mit Hörerwartungen zu verstehen sei, stellte Neuwirth (gestützt auf zeitgenössische Traktate) die These entgegen, tonikale Reprisenmomente im Kontext einer Prozeßstrecke bildeten eine konventionelle kompositorische Strategie: Sie ermöglichten als Inseln tonaler Stabilität dem Hörer die kognitive Bezugnahme auf die Grundtonart, von der ausgehend Modulationen in entlegenere tonale Bereiche erfolgen konnten.
Volker Helbing (Bremen/Berlin) schließlich entwickelte eine Analyse des vierten Satzes von Ligetis Klavierkonzert (1987). Aus der anfänglichen Illusion eines chaotischen Ablaufs schäle sich ein zielstrebiger Rotationsprozeß selbstähnlicher und rekursiver Figuren heraus. Letztlich sei auch dieser Satz teleologisch konzipiert und insofern durch dramaturgische Überlegungen und den Aufbau von Hörererwartungen bestimmt.
Explizit mit Heinrich Schenker befaßte sich einzig Florian Vogt (Freiburg), dessen Beitrag über Otto Vrieslander, der von 1911 bis 1912 Privatschüler Schenkers war, neue Einsichten in die frühe Schenker-Rezeption bot. Vogt zeigte, wie Vrieslander in seinen 1917/18 verfaßten Kommentaren zu Schenkers Harmonielehre deren Kernidee – die radikale Trennung von Stufe und Stimmführung – pädagogisch fruchtbar zu machen vermochte. Dabei betonte Vogt, Vrieslanders von den späteren Entwicklungen der Schenkerschen Musiktheorie noch völlig unberührten Texte erleichterten auch heute noch einen Zugang zu Schenkers Harmonielehre als einem selbständigen Werk, dem eine Einordnung als bloßer Vorläufer des Freien Satzes nicht gerecht werde.
Jan Philipp Sprick (Rostock) und Bernhard Haas (Stuttgart) nahmen Regers Harmonik jeweils zum Anlaß, systematische Analyseansätze vorzustellen, deren Rezeption im deutschsprachigen Raum noch am Anfang steht. Sprick gab – ausgehend von Regers Äußerung, »jeder Akkord« könne »auf jeden anderen folgen« – eine Einführung in die Neo-Riemannian-Theory, die auch weit entfernte Klangfortschreitungen kategorial zu erfassen sucht. Dieser maßgeblich von David Lewin und Richard Cohn entwickelte systematische Ansatz propagiert einen Funktionsbegriff, bei dem nicht der tonikale Bezug einzelner Akkorde, sondern Transformationsprozesse einzelner Akkordprogressionen im Mittelpunkt stehen. Die von manchen Zuhörern fast reflexartig gestellte Frage nach der Relevanz dieser Theorie für die musikpädagogische Praxis und die eigene ästhetische Erfahrung führte eindrücklich die Unterschiede zwischen der autonomen Wissenschaftsdisziplin der ›music theory‹ im anglo-amerikanischen Raum und der deutschen, pädagogisch und hermeneutisch geprägten Lehrtradition vor Augen. Bernhard Haas erwies die ›Stimmigkeit‹ der Regerschen Harmonik in einer vielschichtigen, auf Albert Simons Theorie der Tonfelder fußenden Analyse der Symphonischen Phantasie op. 57,1 von 1902 (Inferno-Phantasie). Die Evidenz des Simonschen Tonalitätskonzepts trat im direkten Vergleich mit Wolf-Günther Leidels konventionellerer Analyse desselben Werks umso deutlicher hervor. Leidel (Weimar) stellte das Prinzip pädagogischer Rücksichtnahme genußvoll in Frage und widmete sich der didaktischen Aufbereitung von Regers ›Endzeitharmonik‹.
Eine zum gängigen Selbstverständnis deutschsprachiger Musiktheorie gänzlich querstehende Form der Wissenschaftlichkeit repräsentierten zwei ambitionierte Analysen von Werken des frühen 20. Jahrhunderts, die sich Verfahrensweisen der mathematischen Musiktheorie bedienten. Den Kern des Vortrags von Thomas Noll (Berlin/Barcelona) stellte – verpackt in einer eindrucksvollen Präsentation – eine Art mathematisches Nachkomponieren von Scriabins Klavieretüde op. 65,3 dar, das Elemente der Neo-Riemannschen und Transformationellen Theorie, der Siebtheorie von Iannis Xenakis und einer von Noll entwickelten, mathematisch fundierten Topostheorie integrierte. Stephan Lewandowski entfaltete mit Hilfe der Pc-Set-Theory eine detaillierte Analyse von Tonmaterial und motivischer Gestalt in Schönbergs Klavierstück op. 23,2. Philippe Cathé (Paris) schließlich gab eine Einführung in die durch Nicolas Meeùs begründete Theorie der »harmonischen Vektoren«, die (angewendet auf das tonale Repertoire) zu ähnlichen Ergebnissen gelangt wie Neo-Riemannsche Ansätze.
Den Nutzen analytischer Zugänge auch für den ›improvisationsorientierten‹ Jazzbereich betonte Barbara Bleij (Amsterdam). Gudio Brink (Köln) stellte ein auf Rock- und Popmusik bezogenes Modell der »Soundanalyse als Werkanalyse« vor, das dem Primat von Instrumentation, Arrangement und Aufnahmetechnik in diesem Bereich besser gerecht werde als die klassische Strukturanalyse.
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Der spezifische Beitrag der Höranalyse zum Werkverständnis wurde in mehreren praxisbezogenen Referaten jeweils unterschiedlich akzentuiert. Einen ambitionierten Weg von der Hör- zur Strukturanalyse verfolgte Violaine de Laminat (Wien) am Beispiel von Anton Weberns op. 6,3. Balz Trümpy (Basel) zeigte anhand von Anton Weberns Sinfonie op. 21, daß Höranalyse und notengestützte Werkanalyse nicht bloß alternative Wege zum Werkverständnis markieren. Vielmehr ermögliche erst die Wahrnehmung der von Webern intendierten Divergenz zwischen dem im Notentext offenkundigen konstruktiven Konzept (Doppelkanon) und dem aus der Höranalyse resultierenden ›Bild‹ des Werks ein umfassendes Werkverständnis: Die serielle Instrumentation und das räumliche Konzept der Oktavlagenversetzung machten das Nacherleben der Kanonstruktur annähernd unmöglich und suggerierten zugleich eine eigene, analytisch nicht nachzuvollziehende Stimmigkeit. Richard Parncutt (Graz) entwickelte – gestützt auf Hörbeispiele – die Theorie einer Analyse, die sich nicht auf das ›Werk an sich‹, sondern auf den Mehrwert (etwa der klanglichen Dimension) einer ›typischen Interpretation‹ stützt (aural analysis).
Doris Geller (Mannheim) gewährte Einblick in ihre Unterrichtspraxis und demonstrierte Methoden des Intonationshörens anhand von Interpretationsvergleichen eines klassischen Streichquartettsatzes. Klaus Heiwolt und Florian Kraemer (Weimar) präsentierten in einem Workshop das aus ihrer Sicht zukunftsweisende Weimarer Modell eines Gehörbildungs- und Höranalyseunterrichts, der Arbeitsphasen im Hörlabor sowie E-learning-Methoden und eine Internet-Lernplattform methodisch integriert. Lutz Felbick (Düsseldorf) schließlich stellte den methodisch-didaktischen Ansatz eines argentinischen Lehrbuchs für Höranalyse vor.
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Rainer Cadenbach (Berlin) eröffnete die Sektion IV (Liszt und Reger) mit einem Beitrag über eine mögliche Vorbildfunktion Franz Liszts für Max Reger. Vordergründige Gemeinsamkeiten seien offensichtlich: die Tendenz zu offenen bzw. rhapsodischen Formen und zur ›Inhaltsmusik‹, der gemeinsame ›Fluchtpunkt‹ Bach, das Orgelschaffen und das pianistische Konzertieren auf der ›Weltbühne‹. In der Einzelbetrachtung dieser Aspekte arbeitete Cadenbach dann Differenzen heraus und machte deutlich, daß Reger in Liszt wohl weniger das unmittelbare Vorbild, als vielmehr den Wegbereiter der für ihn durch Richard Strauss verkörperten ›Moderne‹ sah. Mit der Rezeption und philosophischen Deutung der Opern Richard Wagners durch Franz Liszt beschäftigte sich Janita Hall (North Texas).
Andere Referenten gingen konkreter auf spezifisch musiktheoretische Aspekte des Themas ein. Florian Edler (Weimar) verglich in seinem Referat Liszts und Regers Klavier-Transkriptionen von Orgelwerken J.S. Bachs. Martin Ullrich (Berlin) beleuchtete die kontrapunktische Faktur der Klavierfugen Max Regers aus der Perspektive der Riemannschen Kontrapunktlehre. Der Harmonik Regers schließlich widmeten sich die bereits erwähnten Beiträge von Jan Philipp Sprick, Bernhard Haas und Wolf-Günther Leidel.
Buchvorstellungen
Drei Bücher wurden im Rahmenprogramm durch ihre jeweiligen Autoren vorgestellt. Einen gewichtigen Beitrag zum Kongreßthema bildet das neue Buch von Clemens Kühn Musiktheorie unterrichten – Musik vermitteln[3]. Kühn beschreitet nicht den gängigen Weg von den Inhalten über deren didaktische Aufbereitung hin zur Vermittlung, sondern nimmt die Vermittlungszusammenhänge selbst zum Ausgangspunkt: Mit so umfassendem Anspruch ist das Spannungsfeld zwischen der Subjektivität des Lehrenden, der Kommunikationssituation, dem musikalischen ›Gegenstand‹ und den Kategorien und Methoden der Theorie bislang noch nicht beschrieben worden. Kühns Buch füllt eine Lücke und gibt dem Lehrenden manchen Anlaß zur Selbstreflexion. Daß der Autor Musiktheorie als eine hermeneutische Disziplin versteht, zeigt bereits der Titel des Buches an. Angesichts des in Deutschland bisher einzigartigen Dresdner Promotionsrechts wirkt die pointierte Reduktion der Musiktheorie auf eine ›Mittlerrolle‹ freilich etwas irritierend: Theorie und Theoriegeschichte als Gegenstände von eigenem Interesse kommen bei Kühn praktisch nicht vor.
Einen wertvollen Beitrag zur jüngeren Theoriegeschichte leistet Andreas Jacobs Arbeit über Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs[4]. Auf der Grundlage einer umfassenden Sichtung der musiktheoretischen Schriften, insbesondere des bislang unveröffentlichten Nachlasses, werden musiktheoretische Konzeptionen und Begrifflichkeiten Schönbergs in ihrer Genese nachgezeichnet. Ein zweiter Teilband macht relevante Schriften aus dem Nachlaß erstmals zugänglich.
Peter Michael Braun schließlich präsentierte sein von jüngeren Entwicklungen der Musiktheorie gänzlich unbeeinflußtes Buch Ein harmonikaler Zugang zur Musiktheorie[5], dessen idealistischer Ansatz durchaus Symphatien weckte.
Resümee
Der Weimarer Kongreß bewies eindrucksvoll, daß wissenschaftliche Fundierung und pädagogische Orientierung nicht zueinander im Widerspruch stehen. Im Gegenteil: Einige der innovativsten, für die Erneuerung der gegenwärtigen Unterrichtspraxis interessantesten Kongreßbeiträge verdankten sich der Integration (musik-)wissenschaftlicher Perspektiven und Methoden. Ihr Ureigenes freilich – auch dies wurde deutlich – hat die Musiktheorie in der Gebundenheit aller Reflexion an die ästhetische und performative (Vor-)Erfahrung ihrer Akteure: Ohne einen Anteil reflektierter ›Subjektivität‹ müßte eine historische oder systematische Perspektivierung ihren ästhetischen Gegenstand verfehlen.
Anmerkungen
Ich danke Edith Metzner und Stephan Lewandowski für ihre Mitarbeit an diesem Artikel. | |
Heiwolt, Klaus (Hg.), Musiktheorie und Vermittlung – Tagungsbericht des VI. Kongresses der Gesellschaft für Musiktheorie, Hildesheim/Zürich/New York: Olms. | |
Kassel: Bärenreiter 2006 | |
Hildesheim: Olms 2005 | |
Köln: Tonger 1998 |
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