Rohringer, Stefan (2006), »Im Bücherturm«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 3/3, 355–358. https://doi.org/10.31751/240
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/07/2006
zuletzt geändert / last updated: 01/12/2008

Im Bücherturm

Stefan Rohringer

»Tief in unserem Inneren wissen wir, daß der Turm von Babel eine Bibliothek gewesen ist. Sie basierte auf der gemeinsamen Sprache aller, und sie zerfiel, als Gott die Sprache seiner Erbauer verwirrt hatte, weil sie versucht hatten, sich dem Schöpfer gleichzumachen. Gottes Strafe für die Vermessenheit war der Anfang aller Zerstreuung.«

Phillip Blom in Sammelwunder, Sammelwahn

Wer unbeschwert durchs Leben gehen will, verkaufe oder verschenke alle seine Bücher und versuche nicht, versprengten Resten der Bibliothek von Babel eine Heimstatt in seinen eigenen vier Wänden zu geben.

Die Suche unter den trotz dieses Vorsatzes mir verbliebenen Büchern nach denjenigen, die – so die Aufgabenstellung dieser Rubrik – für das eigene (musiktheoretische) Denken prägend gewesen seien, bedeutet vor allem die Konfrontation mit all den ungelesenen oder nur angelesenen Bänden, die in meinen Regalen vor sich hin schlummern – ganz zu schweigen von denen, die zwar gelesen, aber bereits dem Vergessen anheimgefallen sind. Zudem drängen sich bei Sichtung der Bestände fortwährend fehlende Titel ins Bewußtsein. Ihre Anschaffung ist zumeist schon seit langer Zeit ein festes Vorhaben, aber die Ahnung, daß ihnen ein ähnlich launisches Schicksal widerfahren könnte wie ihren bereits in Reih und Glied stehenden Artgenossen, hat den Erwerb bisher verhindert. Dennoch wächst ihre Zahl stetig.

Ein prüfender Blick in die Seiten des einen oder anderen Bandes, der die Spuren ausgiebiger Lektüre trägt, hebt die Stimmung. Zeitpunkte, Begebenheiten, Menschen, vielleicht sogar Landschaften werden aufgerufen – viele der Bücher sind weit gereist. Dann aber nötigt die Lektüre zum Vergleich mit der Erinnerung an das Geschriebene. Oft unterliegt die Erinnerung und die Suche beginnt: zuerst nach dem richtigen Buch, für das man das falsche gehalten hat, und dann nach der richtigen Stelle. Die ist meist nur ein gelungener Satz oder ein treffendes Wort und verhält sich angesichts der Menge an Papier, auf dem es in meiner (nur in meiner?!) wissenschaftlichen Bibliothek oft sprachlich fade und gedanklich uninspiriert zugeht, wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Immer wieder durchstöbere ich dieselben Seiten, denselben Abschnitt. Ginge es nach Falz, Seitenzahl und Schriftbild, hier müßte es sein. Aber Sätze und Wörter, auf deren erneute Bekanntschaft ich mich gefreut habe, haben an Frische und Klarheit verloren. Ich lege das Buch beiseite.

Bisweilen wird die Mühe belohnt. Eine lang gesuchte Stelle zu finden, die einen so anfunkelt, wie man erhofft hatte, ist, als hebe man einen Schatz. Meine Augen gleiten an Buchstaben und Zeilen entlang und verlieren sich im Unbestimmten. Ich lese nicht länger, fühle mich aber wohl mit dem Buch in Händen. Kein Begriff, kein Bild kommt mir. Ein angenehmer, sinnferner Zustand.

Zunächst dachte ich: Du bist kein Leser, du bist ein Sammler. Aber das trifft es nicht. Ein solcher Augenblick gehört der Kontemplation. Ihm eignet etwas Sakramentales. Er gelingt nicht mit jedem Buch. Es braucht eine Geschichte, die ich mit ihm teile.

Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, warum Bücher mir solche Lust bereiten – weit mehr als das Lesen selbst. Davon unberührt bleibt, daß ich alleine schon von Berufs wegen viel lese. Sich dies einzugestehen, zumal wenn man im akademischen Bereich arbeitet, fällt schwer, es öffentlich zu machen, ist nicht ohne Gefahr. Auch wirkt das Moment des Privaten womöglich auf Außenstehende romanesk und prätentiös. Nicht zuletzt scheint dieses Geständnis wenig dazu angetan, mit Überzeugung Literaturempfehlungen zu geben, was doch das eigentliche Anliegen dieses Textes sein sollte.

* * *

»Gottes Strafe für die Vermessenheit war der Anfang aller Zerstreuung.« – Die Strafe dauert fort. In den Gepflogenheiten des akademischen Betriebs kommt sie zum Vorschein. »Hinter den Bergen wohnen auch Leute. Sei bescheiden, du hast noch nichts erfunden und gedacht, was nicht Andere vor Dir schon gedacht und erfunden.« So heißt es bei Schumann in den Musikalische[n] Haus- und Lebensregeln. Auf diese Maxime kann unterschiedlich reagiert werden: beispielsweise mit einem Heer von Fußnoten.

Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einer Kollegin. Wir kamen ins fachliche Gespräch. Mir ist das genaue Thema entfallen. Sie war brillant. Leider konnte ich keinen Gedanken äußern, der ihr nicht durch irgendeine Publikation zumindest vom Grundsatz her bekannt schien. Es war kein Namedropping, sondern eine besonders konsequente Idee von Diskurs. Niemand in diesem Geschäft ist frei von Angst, eine wichtige Publikation nicht zu kennen, einen prägnanten, aber bereits publizierten Gedanken unwissentlich zu zitieren oder gar selbst zu veröffentlichen. Ich jedoch fühlte mich nicht nur unwissend. Das Empfinden, nicht man selbst zu sein, ist keine günstige Voraussetzung für eine Unterhaltung.

Offenbar sind wir aufgefordert, Schumanns ernüchternde Einschätzung zu verdrängen. Wissenschaft ist gegen diese Verdrängung gerichtet. Sie schafft Distanz und ermöglicht dadurch das Gespräch. Die Distanz ist es aber auch, die dem Diskurs letztlich die Grundlage entzieht, da sie die ›Identität‹ der ihn tragenden Partner auflöst. Wissenschaft nimmt dem Subjekt nicht nur die naive Vorstellung, es sei individuell und autonom, sondern unterläuft dessen Bemühen, zu einer abschließenden Synthese zu gelangen durch die Forderung nach permanenter und allumfassender Rezeption. Die prinzipielle Unabschließbarkeit dieses Prozesses steht der als ›Wesenseinheit‹ verstandenen identitas fundamental entgegen. Desgleichen wird ›Originalität‹ unmöglich. Unser Denken bedarf fortan eines Refugiums, das zumindest die Hoffnung auf eine ›Neuakzentuierung‹ der bereits bekannten Positionen gewährt. Aber ein vitales Selbstgefühl beruht nicht auf diesem Räsonnement. Es gründet – was mit Wissenschaft gemeinhin als unvereinbar gilt – auf der Erfahrung von Evidenz.

Schumann mag das Dilemma gekannt haben. Seine Regel ergänzt er um einen weiteren Satz: »Und hättest du’s, so betrachte es als ein Geschenk von Oben, das du mit Anderen zu theilen hast.« Das ist die Flucht nach vorn. Zum ›Deus ex machina‹ gesellt sich die pauschale Aufforderung zur ›Kommunikation‹. Mit der Wendung ins Ethische geht der Versuch einher, der epistemologischen Einsicht zu entkommen. Doch der Gebrauch des Konjunktivs entlarvt den moralischen Imperativ als Ausdruck reiner Hilflosigkeit. Der Widerspruch zum ersten Teil der ›Regel‹ bleibt unauflösbar. – In Endenich holt Schumann die Aporie endgültig ein. Im Gehen soll er oftmals stehengeblieben sein und laut zu sich selbst gesagt haben »Das ist nicht wahr, das ist gelogen«, als Antwort an die ›Stimmen‹, die er zu hören glaubte, und die ihm vorhielten, seine Kompositionen anderen entlehnt zu haben.

Marcel Proust oder Vom Glück des Lesens von Olof Lagercrantz kommt mir in den Sinn. Das Vorwort ist freimütig: »Ich habe mehrere Jahre lang Marcel Proust Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gelesen und fast nichts anderes. Ich habe hineingestarrt in dieses gewaltige Gewebe und versucht, den Fäden zu folgen. [...] Ich kenne nur einen geringen Teil der Proust-Literatur. Dem Roman habe ich den größten Teil meiner Zeit gewidmet. Es ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, daß die Beobachtungen, von denen ich berichte, schon gemacht und den Proust-Forschern wohlbekannt sind. Deswegen geniere ich mich nicht. Jeder hat das Recht, auf eigene Weise durch eine große Dichtung zu reisen.« – Die Würde des letzten Satzes gebietet dem Advocatus Diaboli in mir, der diese Pointe als eine besonders infame Variante von Provinzialismus zu denunzieren wünscht, zumindest eine gewisse Zeit lang Einhalt.

Ich suche nach ›Reiseliteratur‹. Davon gibt es wenig – nicht nur in meinem Fach. Zu den Ausnahmen gehört ein Band, der vor etwa zehn Jahren in der Anderen Bibliothek erschien. Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei von Anita Albus ist kein im engeren Sinne wissenschaftliches Werk, dafür aber ein ganz wunderbares Buch. Es ist mir bis heute ein Rätsel geblieben, wie die unterschiedlichsten Dinge darin zusammengehen. Albus’ Sprache balanciert auf einem schmalen Grat zwischen wissenschaftlicher Terminologie und Poesie. Wenn die Autorin die Madonna des Kanzlers Rolin von Jan van Eyk beschreibt, dann ist das ein großes Stück Literatur. Die Genauigkeit und Passion, mit der sie zu beobachten versteht, sind nicht nur staunenswert, sie machen eine ungeheure Lust auf das Sehen. Daß eine Reproduktion des Bildes nur in schwarz-weiß beigegeben ist, überrascht nicht. Dem inneren Auge, welches die bis in feinste Nuancen hinein beschriebenen Farbwirkungen des Bildes aufgesogen hat, bleibt der desillusionierende Blick auf eine schlechte Farbwiedergabe erspart.

Über der Darstellung waltet ein bestechender Sinn für Maß und Proportion. Es scheint, dies verdanke sich der glücklichen Verinnerlichung von van Eyks Bildkomposition. »Die unerhörte Kühnheit seiner Perspektive, in der Nah- und Fernsicht zusammenfallen«, prägt auch Albus’ eigenen Text. Selbst die Fußnoten sind die hellste Freude. Sie blitzen auf wie die zahllosen Blumen in van Eyks Paradiesgärtlein.

»Der sonnendurchflutete Tag ist zugleich eine überhelle Nacht, weshalb auch der Mond am Himmel steht. Seine Sichtbarkeit verdankt sich einer übernatürlichen Konjunktion. Das arkadische Licht, in dem alle Dinge, so fern und winzig sie auch scheinen, ihre besondere Gestalt bewahren, kommt von einer Sonne, die nie untergeht: die Orientierung der Kathedrale verrät, daß die Lichtquelle des Bildes im Nordwesten liegt, im achten Strahl der Windrose.«

Wenn Worte und Bilder wiederkehren, scheinen sie mir verwandelt. Und wenn ich Glück habe, ist mir etwas eingefallen. Das aber ist nicht das Entscheidende, auch nicht, ob es neu ist. Ich lege das Buch beiseite und bin versöhnt.

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