Rohringer, Stefan (2006), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 3/1, 9–13. https://doi.org/10.31751/215
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 01/01/2006
zuletzt geändert / last updated: 01/12/2008

Editorial

Seit 2005 erscheint die ZGMTH in veränderter Konzeption. Thematisch gebundene Ausgaben, wie das zuletzt veröffentlichte Doppelheft zur amerikanischen Musiktheorie, alternieren mit freien. In der nunmehr vorliegenden ZGMTH 1/2006 ist der überwiegende Teil der Beiträge aus der freien Sektion des letzten Jahreskongresses der GMTH an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg hervorgegangen. Die aufgrund der hohen Qualität der eingegangenen Abstracts seinerzeit ergangene Entscheidung, die ursprünglich vorgesehene Anzahl der Vorträge von 40 auf 60 zu erhöhen, machte es notwendig, den bereits projektierten Kongreßbericht Hamburg um die Beiträge der freien Sektion zu entlasten. Dieses Heft versammelt sieben der dort gehaltenen neun Referate. Die beiden noch fehlenden werden voraussichtlich zu einem späteren Zeitpunkt nachgereicht.

Die Beiträge der vorliegenden Ausgabe überspannen thematisch einen weiten Bogen, der historisch vom Ausgang des 15. bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts reicht, von der Meßkomposition Josquins bis zum ›Classic Rock‹ eines Billy Joel. Doch der Eindruck der Heterogenität täuscht. Gelegentlich offen, häufiger diskret und unterschwellig, ereignen sich Verwebungen und Bezüge, ohne daß dies ursprünglich intendiert gewesen wäre.

So sind Jochen Brieger und Guido Heidloff bei ihrer Auseinandersetzung mit der Musik der Renaissance ungeachtet unterschiedlicher Fragestellungen mit derselben grundsätzlichen Problematik konfrontiert: Häufig tradieren die Kompositionstraktate jener Zeit ältere Konzeptualisierungen musikalischer Phänomene, ohne zu reflektieren, inwieweit kompositorische Neuerungen eine andere Einordnung des Dargestellten erforderlich machen würden, mehr noch, lassen die als Lehre vom Tonsystem oder als Kompositionspropädeutik präskriptiv gehaltenen Ausführungen zumeist nicht erkennen, daß ihre Autoren überhaupt auf den kompositorischen Artefakt und, mit ihm verbunden, auf Fragen musikalischer Zusammenhangsbildung abzielen.

Jochen Brieger geht von der These aus, der Versuch, die einstimmige gregorianische Melodielehre auf die komplexe Mehrstimmigkeit der klassischen Vokalpolyphonie zu übertragen, sei äußerst brüchig und verlange nach alternativen Kriterien der Modusbestimmung. Brieger gibt das Konzept eines durchgängig behauptbaren Gesamtmodus preis und fokussiert statt dessen den Wechsel zwischen einzelnen »Tongruppierungen unterschiedlicher modaler Färbung«.

Guido Heidloff wiederum beleuchtet, inwiefern der Paradigmenwechsel von der ›sukzessiven‹ zur ›simultanen‹ Kompositionsweise im 15. Jahrhundert auch das Verständnis musikalischer ›Form‹ grundlegend änderte. Angesichts der Begrenztheit immanent musikalischer Mittel, durch welche ›Form‹ hervorgebracht werden konnte, dient ihm Josquins Missa La sol fa re mi als Beispiel einer nicht mehr cantus-firmus-basierten Komposition, in der gematrisch motivierte Zahlen zu einer nahezu alle Ebenen des Tonsatzes erfassenden Proportionierung führen. Hierdurch erscheint der herkömmliche Akzent zahlensymbolisch interessierter Untersuchungen von der Narration auf die Struktur verlagert.

Beide Beiträge führen somit die zentrale musiktheoretische Divergenz zwischen historischer und systematischer Orientierung vor Augen. In diesem Problemfeld bewegt sich auch Andreas Moraitis’ Suche nach den Gründen harmonischer Mehrdeutigkeit. Moraitis möchte weder eine vermeintliche Unzulänglichkeit der Entwicklungsstände der jeweiligen Theorien, noch die Komplexität der musikalischen Phänomene als deren wesentliche Ursache verstanden wissen, sondern den Konflikt differenter Bedeutungszuweisungen, der aufbreche, sobald das »konstitutionelle Gefüge« der für die Rezeption maßgeblichen Kontexte in Bewegung gerate.

Implizit handelt Moraitis’ Text damit nicht zuletzt von den Fährnissen, welche aus der Notwendigkeit erwachsen, einen nur aus Relationen bestehenden Tonsatz bei dem Versuch seiner Beschreibung begrifflich in Einzelmomente zerfallen zu lassen. Dieser Problematik widmet sich ebenfalls Ana Stefanovic in ihrer Kritik gängiger Ansätze der Stilanalyse, durch welche sie die zentrale Eigenart des Stils, diskursiv, nicht normativ zu sein, verletzt sieht. Sie folgt darin Überlegungen Nelson Goodmans und Gérard Genettes, insbesondere deren Konzepten der ›kontrastiven Exemplifikation‹ bzw. ›stilistischen Imitation‹, in welchen Stefanovic zufolge die vermeintliche Notwendigkeit überwunden wird, bei der Stilanalyse zu kohärenten Merkmalsbeschreibungen zu kommen.

Eine ähnliche Denkfigur, allerdings in das Feld der strukturanalytischen Methodologie gewendet, begegnet in Folker Froebes Beitrag zu Beethovens Streichquartett op. 95. Gemeinhin gelten die Voraussetzungen der Formanalyse nach dem Schichtenmodell Heinrich Schenkers und der motivisch-thematischen Analyse, etwa in der Tradition der Schönberg-Schule und Rudolph Rétis, als unvereinbar. Bemerkenswert ist allerdings, daß Dahlhaus als Vertreter der zuletzt genannten Tradition bei der Erörterung des Übergangs von Beethovens ›mittlerer Periode‹ zu dessen Spätwerk, dort also, wo es nach Dahlhaus um den Wandel der Funktion des Thematischen hin zum ›Subthematischen‹ geht, entgegen seiner sonstigen Aversion die Terminologie Schenkers zitiert und abstrakt und subkutan gehaltene chromatische Ausstufungen mit dessen ›Zügen‹ in Verbindung bringt.[1] Dieser ungewöhnliche Rekurs gewinnt Aktualität und Plausibilität, wenn man Froebes These folgt, subthematische Vorgänge individualisierten Schenkersche Züge sowohl auf der Ebene des figurativen Details als auch der Auskomponierung größerer syntaktischer Gruppen.

Um die Musik Beethovens geht es auch im Beitrag von Mario Felix Vogt, allerdings als Gegenstand der Interpretationsanalyse. Vogt konzentriert sich auf die Zeitgestaltung dreier unterschiedlicher Interpretationen des Grave zu Beginn der Pathétique. Die äußerst differenzierten Messungen der zeitlichen Verläufe, die sich dem gezielten Einsatz neuester Computertechnologie verdanken, arbeiten einer interpretationsästhetischen Diskussion zu, die in ihrer Verbindung mit traditionellen Verfahren der Werkanalyse möglicherweise eine Antwort auf die Forderung nach einer stärker berufsbezogenen Ausrichtung musiktheoretischer Unterweisung wird bilden können.

Dem durchweg strukturanalytisch gehaltenen Beitrag Martin Schönbergers, der sich anhand eines Songs von Billy Joel dem Desiderat der musikalischen Analyse populärer Musik zuwendet, kommt dadurch besonderes Interesse zu, daß die hiesige Popularmusikforschung – in Gegensatz zur Situation in den angelsächsischen Ländern – nahezu ausschließlich von soziologischen Fragestellungen geprägt ist. Schönbergers Beitrag versucht einen Ausgleich: Er verweist auf den musikalischen Eklektizismus des ›Classic Rock‹, in dem sich Muster der traditionellen Kunstmusik mit Momenten der Popularmusik verbinden, nicht zuletzt in der Absicht, der im Bereich der Popularmusik gerne rezeptionsästhetisch begründeten Zurückweisung strukturanalytischer Untersuchungen entgegenzutreten.

Fraglos geht es Schönberger aber ebenso um eine Nobilitierung. Die an traditioneller Kunstmusik erprobte Strukturanalyse auf populäre Musik zu übertragen, behauptet eine Teilhabe an deren impliziter Voraussetzung, daß ›Wert und Wesen‹ einer Komposition durch ihre inneren Beziehungen konstituiert wird. Mehr noch als für jene, die das ästhetische Paradigma, Musik zunächst als autonomes Kunstwerk zu begreifen, ohnehin für anachronistisch erachten, muß Schönbergers Beitrag für diejenigen eine Provokation bedeuten, die Strukturanalyse nur bei traditioneller Kunstmusik, deren kultureller Wert ihnen unstrittig erscheint, für legitim erachten. Möglich, daß solchen Lesern Schönbergers Verfahren äußerlich anmutet, zumal er auf das Skandalon, das hier empfunden werden kann, nicht explizit hinweist. Was aber, wenn der analytische Befund ›technisch‹ zu überzeugen vermag und der Selbsteinschätzung Joels »Ich wäre gern Beethoven und die Beatles zugleich«[2] zuarbeitet? – Schönberger wirft unwillentlich die Frage auf, ob musikalische Analyse nicht auf ästhetischen Urteilen beruhe, die durch sie selbst nicht begründbar sind. Eine kritische Rezeption des Textes könnte offenlegen, daß dieser Sachverhalt unbemerkt bleiben kann, solange nur Mitglieder eines ›autopoietischen Systems‹, hier einer spezifischen ›Klasse von Hörern‹, untereinander kommunizieren, die sich der Gemeinsamkeit ihrer ästhetischen Urteile (und ihrer analytischen Verfahren, die diese ›verbürgen‹ sollen) sicher sein dürfen. Tritt aber, wie mit dem Beitrag Schönbergers, eine ›Systemüberschreitung‹ ein, wird die Problematik augenfällig.

Ein wiederum anderes musikalisches Idiom und eine völlig andere Fragestellung berühren die Ausführungen von Karl Traugott Goldbach zur musique concrète. Auf dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen einer »akusmatischen«, d.h. autonom klanglichen, und »ökologischen«, d.h. narrativen Konzeption der Materialverwendung untersucht Goldbach, inwiefern beide Formen in Luc Ferraris Presque rien avec filles in einen wechselseitigen Diskurs treten, und distanziert sich damit von der Vereinfachung, Ferraris Klangsprache unter dem Schlagwort der ›anekdotischen Musik‹ zu subsumieren.

Markus Jans ist in der vorliegenden Ausgabe mit zwei Beiträgen vertreten. Zunächst setzt er die Rubrik der ›Kolumne‹ mit sieben Griffen in seine Bücherkiste fort. Aufschlußreich ist, daß Jans, der wie seine Vorgänger aufgefordert war, Texte anzuführen, die ihn besonders geprägt haben, in der Mehrzahl Bücher ohne dezidiert musiktheoretischen und musikwissenschaftlichen Hintergrund vorstellt. Wer Jans’ Belesenheit kennt, wird dies kaum als mangelnde Aufmerksamkeit mißinterpretieren, sondern als durchaus beschämenden Hinweis darauf, daß die als wirklich wichtig empfundenen Publikationen überwiegend nicht dem eigenen Fach zugehörig sind. Und so gilt denn Jans’ Interesse konsequenterweise nicht nur den bereits geschriebenen, sondern nicht zuletzt auch den (noch) ungeschriebenen Büchern.

Die Rubrik ›Musiktheorie der Gegenwart‹, die in dieser Ausgabe nicht vertreten ist, findet sich implizit im Bereich der ›Rezensionen‹ wieder. Dort stellen Markus Jans und Michael Polth zwei Neuveröffentlichungen vor, die jede auf ihre Art im emphatischen Sinne für die Tradition einer systematischen Musiktheorie stehen. Beiden Publikationen eignet, was Michael Polth in bezug auf Albert Simon bemerkt, nämlich daß man demjenigen, »der sich in lebenslanger Beschäftigung einen theoretischen Zugang erarbeitet hat, welcher musikalische Erscheinungen eines bestimmten Zeitraums beinahe ›flächendeckend‹ erfaßt, ohne daß der umfassende Blick durch leere Abstraktion erkauft würde, zutrauen [darf], daß er etwas hinsichtlich der grundsätzlichen Verfaßtheit der von ihm behandelten Musik verstanden hat.« Es soll hier nicht verhehlt werden, daß diese Argumentation, gemessen an gängigen Vorstellungen von ›wissenschaftlicher Objektivität‹ und den Gepflogenheiten des akademischen Betriebs, eine Provokation darstellt. Sie entscheidet angesichts des Zwiespalts, in den derjenige gerät, der eine Position anhand historischer Quellen oder naturwissenschaftlich bzw. mathematisch fundierter ›Beweisketten‹ zu vertreten sucht, von jenen Momenten, die ihn ästhetisch berühren, aber nicht als ›Fakten‹ zu sprechen wagt, zugunsten der Authentizität persönlich geprägter ästhetischer Erfahrung.

Staunenswert ist die Korrelation der vorgestellten Zugänge aber auch deswegen, weil beide, hier mit Jans gesprochen, »die Tonbedeutung und ihre Veränderbarkeit im wechselnden Umfeld« zum Thema haben. In Christopher Schmidts kontrastiven Exemplifikation reflektieren bestimmte Tonfelder einander im Rahmen einer gregorianischen Melodielehre (Jochen Brieger hat nach eigenem Bekunden hierdurch starke Anregungen erfahren), in Bernhard Haas’ Die neue Tonalität von Schubert bis Webern wird eine ebenfalls mit Tonfeldern operierende Theorie der Tonalität für die Musik der Spätromantik und klassischen Moderne dargelegt, die auf den ungarischen Dirigenten und Musikgelehrten Albert Simon zurückgeht. Natürlich liegt in der Äquivokation, die aus der Verwendung des Begriffs des ›Tonfelds‹ in beiden Zugängen resultiert, die Gefahr, über die deutlich trennenden Momente hinwegzusehen. Dennoch darf mit der gebotenen Vorsicht gesagt werden, daß sich hier ein Perspektivenwechsel in der ›Geschichte der Tonalität(en)‹ ankündigt. Vorausgesetzt, das Komponieren mit Tonfeldern wird als das grundlegendere Verfahren im Vergleich zu solchen verstanden, die einen modernen Akkordbegriff voraussetzen, dann interessiert vor allem, inwiefern in der europäischen Mehrstimmigkeit zu verschiedenen Zeiten diverse Tonfelder auf jeweils spezifische Art in Beziehung gesetzt worden sind – eingedenk der Frage, in welchem Verhältnis sich hierzu jene ›Verfestigungen‹ verhalten, die insbesondere im Ansatz Schenkers zum Ausdruck kommen, von dem, obwohl auch er auf einem ›Tonfeld‹ – dem der Diatonie – gründet, zweifelsohne behauptet werden kann, daß er einem anderen ›Materialbegriff‹ verpflichtet ist: Mit Nelson Goodman ließe sich im Sinne des Konzepts der ›Exemplifikation‹ sagen, daß ein Werk der ›Ursatz-Tonalität‹ andere ›materiale‹ Eigenschaften ›ausstellt‹ als eines der ›Tonfeld-Tonalität‹.

In der Rubrik ›Berichte‹ gewährt Florian Wetter Einblicke in die Diskussionen, welche die Orpheus Academy in Gent 2004 beherrschten. Jan Philipp Sprick setzt sich anhand der letztjährigen Kongresse der amerikanischen und deutschen Gesellschaften für Musiktheorie in Boston und Hamburg mit den unterschiedlichen Positionen amerikanischer und deutscher Musiktheorie auseinander.

Um eine Positionierung geht es auch in der Glosse, in der der Verfasser die neue Titelgebung einer prominenten Fachzeitschrift zum Anlaß nimmt, einige grundsätzliche Reflexionen über Selbstverständnis und Perspektive der Disziplin Musiktheorie anzuschließen.

Zuletzt noch eine Bemerkung in eigener Sache: Ab der vorliegenden Ausgabe hat die ZGMTH drei verantwortliche Herausgeber, die auch zugleich als Redakteure fungieren. Meinen beiden Kollegen Oliver Schwab-Felisch und Ludwig Holtmeier sei für ihre Unterstützung beim Lektorat der vorliegenden Ausgabe ausdrücklich gedankt. Dank gebührt auch wiederum Andreas Helmberger für seine wertvolle technische Mitarbeit bei der Konfiguration der Textgestalt und dem Erstellen der Tabellen, Diagramme und Notenbeispiele.

Stefan Rohringer

Anmerkungen

1

Dahlhaus, Carl (1987), Beethoven und seine Zeit, Laaber: Laaber, im Kapitel »Subthematik«, 245–262. Vgl. insbesondere S. 250: »Daß er in der Überleitung durch ein aufsteigendes Tetrachord kontrapunktisch überlagert und im Seitenthema – als ›Quartzug‹ im Sinne Heinrich Schenkers – in ›Prolongationen‹ versteckt wird, besagt keineswegs, daß die Analyse ins musikalisch Irreale abirrt, sondern ist charakteristisch für den Hang zur Abstraktion, der in opus 78 als einem paradigmatischen Werk der ›Übergangsphase‹ als Kehrseite der Kantabilität erscheint: einer Kantabilität, deren Verhältnis zum zielgerichteten Prozeß thematischer Arbeit prekär ist. Das Tetrachord, zunächst ein ›Motiv‹, ist später, im Seitenthema, eine bloße ›Struktur‹, die aus der Latenz nicht hervortritt, ohne daß darum ihre Funktion, inneren Zusammenhalt zu verbürgen, aufgehoben wäre.«.

2

http://www.piano-man.de/portrait/artikel.asp?Bereich=Portrait, [Stand: 04.09.2006].

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